Wellengang (eBook)
400 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01906-5 (ISBN)
Anne Griffin ist eine irische Schriftstellerin. Sie erhielt für ihre Kurzgeschichten den John McGahern Award for Literature, außerdem stand sie u.a. auf der Shortlist für den Hennessy New Irish Writing Award und den Sunday Business Post Short Story Award. Ihr Romandebüt, 'Ein Leben und eine Nacht', wurde in zahlreiche Länder verkauft, u. a. in die USA, nach Kanada, Frankreich und Holland, und stand auf Platz 1 der irischen Bestsellerliste. Anne Griffin lebt in Irland.
Anne Griffin ist eine irische Schriftstellerin. Sie erhielt für ihre Kurzgeschichten den John McGahern Award for Literature, außerdem stand sie u.a. auf der Shortlist für den Hennessy New Irish Writing Award und den Sunday Business Post Short Story Award. Ihr Romandebüt, "Ein Leben und eine Nacht", wurde in zahlreiche Länder verkauft, u. a. in die USA, nach Kanada, Frankreich und Holland, und stand auf Platz 1 der irischen Bestsellerliste. Anne Griffin lebt in Irland. Martin Ruben Becker, lebt als Übersetzer in München und hat u.a Bücher von Joseph Luzzi, Robert Goolrick, Favell Lee Mortimer und David Bergen übersetzt.
Die Gesäßtasche meines Vaters ist immer ausgebeult wegen der ganzen Gummibänder und Sicherheitsnadeln darin. Man kann nie wissen, wann man so was mal gebrauchen kann, sagt er gern und übersieht großzügig, dass ich mich darüber lustig mache, schaut zum Sims des Küchenfensters hinüber, wo der Teekessel steht, der gerade nicht benutzt wird. Oder wenn wir auf der Fähre sind, schaut er hinüber zu Cairn Rock, den er schon tausendmal beim Passieren des nördlichen Endes der Insel gesehen hat. In seinem Blick liegt all die Weisheit, die ihm ganz unbestreitbar eigen ist. Ihm, Danny Driscoll, siebenundsiebzig, Fährmann, Vater, Großvater, krummbeinig und kreuzlahm.
Mein Vater hat anderen ihre Unverfrorenheiten immer verziehen. Er hat Verständnis dafür, dass man in dieser Welt nur durchkommt, indem man mal die eine oder andere Grenze überschreitet. Na und, was macht das schon, sagt er dann. Haben wir uns nicht alle der Überheblichkeit schuldig gemacht? Solange dabei niemand bestohlen, getötet oder gequält wird, ist doch alles gut.
Aber dieses letzte Jahr hat ihn samt seiner beneidenswerten Einstellung verändert, wie es auch mich verändert hat.
Ich habe meinen Vater und seinen Glauben an sich und seine fehlerbehaftete Existenz vom ersten Augenblick an geliebt – damals vor neunundvierzig Jahren. Nicht dass ich mich an meine Geburt erinnern könnte oder an das erste Mal, als ich ihn sah. Aber es kommt mir so vor, als könnte ich genau das. Genauso wie daran, dass ich in unserem kleinen Häuschen auf der Insel in West Cork geboren wurde und Patsy Regan an der Seite meiner Mutter war und ihr sagte, dass sie eine Tochter zur Welt gebracht hat, genau wie sie’s vorhergesagt hatte, mit allen zehn wundervollen Fingerchen und winzigen Zehen und einem Wuschelkopf voller schwarzer Haare, die sich nicht bändigen ließen, ganz gleich, wie entschlossen meine Mutter und meine beiden neugierigen Brüder es in den folgenden Tagen auch versuchten.
Sie tauften mich auf den Namen Rosie Driscoll. Zwanzig Jahre später wurde ich Fährkapitänin, so wie mein Vater Kapitän war. Und noch einmal neunundzwanzig Jahre danach kehrte ich gebrochen, aber willens, wieder das Ruder zu übernehmen, aus Dublin auf die Insel zurück. Noch immer Ehefrau – auch wenn mein Mann zu Hause in der Stadt wohl seine eigene Meinung dazu hatte – und Mutter.
Mutter.
Der Wohlklang dieses Wortes ließ mich anlässlich meiner Rückkehr an diesen Ort frösteln, da ich gar nicht mehr überzeugt war, diese Bezeichnung noch zu verdienen. Ich habe zwei Kinder: Colmán, Cullie genannt, dreiundzwanzig, immer noch in Dublin, und Saoirse, zwei Jahre älter. Saoirse pflegte als kleines Mädchen ihrem Großvater auf Schritt und Tritt zu folgen, als wäre sie an ihm festgebunden. Wenn wir im Urlaub hier waren, stolperte sie in ihren Gummistiefeln hinter ihm her, versuchte, die Stufen zum Steuerhaus zu erklimmen, und lachte vergnügt, wenn er das Signal zum Ablegen gab.
Beide sind meine Kinder, und beide müssen schon lange ohne mich auskommen.
Vor acht Monaten nahm ich Zuflucht auf diesem zwei Meilen langen und eine Meile breiten Landstrich, an der Seite all der anderen verlorenen Seelen, die er in die Arme geschlossen hat. Ich nehme an, dass die Insel schon immer Zufluchtsort für jene gewesen ist, die es aus der Bahn geworfen hat – so wie die sibirischen und amerikanischen Vögel, die auf unseren Klippen und in unserem Buschwerk Schutz suchen vor den Verheerungen des Atlantiks und sich für eine Weile zurückziehen müssen, um Wunden zu heilen oder zumindest zu lindern. Auch wenn ich diese Insel schon mein ganzes Leben liebe, hatte ich nie zuvor das Gefühl gehabt, dass ich mich schlicht auflösen würde, wenn ich ihre reine Luft nicht atmen dürfte, nicht dem Wasser lauschen, das ihre Küsten umspült, aber so ist es jetzt gekommen.
Hier hat sich sehr wenig verändert, seit ich mit zweiundzwanzig Jahren fortgegangen bin. Die Sprache unserer Gemeinschaft aus gebürtigen Insulanern und Zugezogenen ist immer noch geprägt von den gälischen Rachenlauten, sodass sich die Gäste manchmal fragen, ob das, was wir sprechen, überhaupt Englisch ist. Es gibt bei uns eine Grundschule, ältere Schüler müssen aufs Festland. Wir haben eine Kirche und eineinhalb Pubs – der eine ist Páidíns im Hafen, und der halbe ist der Wagtail, der theoretisch von Ende Frühjahr bis Herbstanfang aufhat, was allerdings davon abhängt, ob der Besitzer, mein Onkel Michael-Fran, in der passenden Stimmung ist und nicht zu sehr abgelenkt durch seine Tiere. Wir haben zwei Hauptstrände, einen am Hafen, der den einfallsreichen Namen An Trá trägt – Gälisch für Strand – und einen im Südosten, den Carhoona Beag. Auch an anderen Stellen der Küste finden sich schmale Sandstreifen, aber von denen ist keiner groß genug, dass man sich hinlegen oder auch nur eine Sandburg bauen könnte. Es gibt Klippen und Seevögel, zudem Kühe, Schafe, Pferde und einen Esel. Außerdem haben wir Traktoren und Aufsitzmäher. Drohnen wurden umgehend verboten – denn keiner fand es angebracht, dass irgendjemand anders als er selbst oder sein Viehzeug die Wäsche auf seiner Leine begutachtete. Wir sind eine Insel der Fischer und Schriftsteller, Bauern und Töpfer, Fährleute und Imker. Es gibt uns in allen Schattierungen und Größen. Wir sind so mürrisch, wie es nur geht, und so milde und sehnsuchtsvoll wie die sanfte Brise, die im Juni über das Land weht und uns daran erinnert, dass wir die glücklichsten Menschen Irlands sind.
Die Insel ist voller Geräusche. Angenehme Laute unterbrechen die verlässliche Stille: das Meckern einer von Críostóirs Ziegen, der liebliche Gesang der Lerche oder das Plaudern der Spaziergänger, die den Hare Hill hochmarschieren und die man so deutlich versteht, als stünden sie neben einem, wobei sich die Stimme jedes einzelnen vom anhaltenden Rauschen des Meeres abhebt. Einem Rauschen, das jeden aus dem Wasser ragenden Felsen und jede Bohle der Hafenmauer umspült und uns mit Sand und Kieseln beschenkt, über die wir laufen, um auf die Pracht des Ozeans zu schauen. Und dann hört man auch das Brummen eines Automotors in einer Meile Entfernung, eine einzigartige Kakofonie, die sich da Laut verschafft, sodass wir schon wissen, wer da kommt, bevor er knatternd um die Kurve biegt. Wir stehen nicht auf teure Autos. Unsere Straßen sind nicht breiter als anderswo Wege – und außerdem gewunden und voller Schlaglöcher und Schotter. Man wäre blöd, hier mit einem brandneuen Audi herumzukurven. Wir fahren Autos, deren Inneres schon lange keinen Staubsauger mehr gesehen hat, die Blinker funktionieren nach Lust und Laune, und der Kofferraum lässt sich nur noch mit einem Stück Strick schließen, der Motor braucht eigentlich dringend Hilfe und heult seine Not heraus, die wir ignorieren, bis er mitten auf der Straße bockt und sich weigert, noch einmal anzuspringen, ganz gleich, wie sehr wir auch betteln und flehen mögen. Aber da hat der Wagen dann auch wirklich seine Pflicht erfüllt und uns weit häufiger vonA nach B gebracht, als jeder Automechaniker auf dem Festland es je für möglich gehalten hätte.
All diese Geräusche sind mir jetzt vertraut, trösten mich, geben mir Sicherheit.
Die Personenfähre ist unsere Lebensader, denn sie bringt uns die Lebensmittel und Einkäufe vom Festland. Sie bringt die Kinder freitagabends von der weiterführenden Schule zurück und jeden Sommer Feriengäste mit Taschen voller Geld, das sie mit beiden Händen bei uns ausgeben werden. Wenn sie wieder abreisen müssen, verlassen sie uns nur widerstrebend und mit dem sehnlichen Wunsch, bald zurückzukehren. Nun haben sie die Taschen voller Honig und Töpferwaren von der Insel, Souvenirs für Verwandte und Freunde, denen sie damit auf den Geist gehen werden, dass sie auf Roaring Bay völlig vergessen hatten, welcher Wochentag war und welche Katastrophe die Welt gerade heimsuchte. Und dass sie ihre Handys in ihrem Airbnb liegen gelassen hatten und zum Hafen hinuntergeschlendert waren, um stundenlang auf der niedrigen Mauer zu sitzen, die sich in einem weiten Bogen von Diarmuids Laden-Restaurant bis zum Ende des Kais erstreckt, und ihren Kindern beim Spielen im Wasser zuzuschauen, um dann vielleicht einen zweiten Kaffee zu trinken oder im Páidíns einzukehren für einen ersten Cider, wenn die Tageszeit das denn gestattete.
Roaring Bay liegt acht Meilen vom Festland entfernt. Mit der Fähre sind es fünfundvierzig Minuten bis West Cork. In den letzten Jahren musste die Fähre – inzwischen ist es die Aoibhneas II, die Aoibhneas I gab 1985 den Geist auf – mehr Stürmen standhalten als je zuvor, muss Überfahrten bewältigen, bei denen kein Passagier draußen auf Deck stehen darf, um aufs Meer hinauszuschauen und zuzusehen, wie die Insel immer näher kommt. Wenn die Stürme richtig heftig toben, wird bei der Überfahrt wenig oder gar nicht gesprochen, und die Inselbewohner beschließen, sich auf die Bänke zu legen und sich eine Mütze Schlaf zu gönnen, während Touristen ein tapferes Lächeln aufsetzen oder sich an die Sitze krallen und aushalten, dass sich ihnen vom Heben und Senken des Schiffes der Magen umdreht. Und dann gibt es Zeiten, in denen es so gefährlich wird, dass die Fähre gar nicht mehr ablegen kann. In den letzten paar Jahren hat es mehr solcher Tage am Stück gegeben als in der ganzen Zeit zuvor, sagt er. Das Klima hat sich verändert. Deshalb sind die Schränke und Gefriertruhen der Insulaner voller Trockenfutter und Dörrfleisch, und in jedem zweiten Garten steht ein Generator für den Fall, dass der Strom ausfallen sollte.
Mehr als alles andere liebe ich es, im Steuerhaus der Fähre zu stehen und auf das weite Meer...
Erscheint lt. Verlag | 16.7.2024 |
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Übersetzer | Martin Ruben Becker |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | anspruchsvoller roman • Die Bestatterin von Kilcross • Ein Leben und eine Nacht • Emotionale Tiefe • Familie • Familienroman • Frauenroman • Frauenschicksal • Gegenwartsroman • Inselroman • irische Insel • Irland Roman • Meer • Mutter-Tochter-Beziehung • Romane für Frauen • Selbstfindung • Sommerlektüre • Trauer • Verlusterfahrung • weibliche Erzählstimme |
ISBN-10 | 3-644-01906-1 / 3644019061 |
ISBN-13 | 978-3-644-01906-5 / 9783644019065 |
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