Mitternachtsschwimmer (eBook)

Roman
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2024 | 1. Auflage
352 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-7558-1053-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mitternachtsschwimmer -  Roisin Maguire
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Ballybrady, ein kleines Dorf an der irischen Küste. Hier lebt Grace allein und zurückgezogen. Ihre Tage verbringt sie mit Schwimmen, Quilten und ihrem Hund. Grace ist stur und ruppig, dann wieder eine Seele von Mensch. Um Geld zu verdienen, vermietet sie ein Cottage an Touristen. Touristen wie Evan, der an einem tragischen Verlust zu zerbrechen droht. Eine Woche in Ballybrady soll ihn wieder auf Kurs bringen - doch es kommt alles anders. Und Evan erkennt, dass es Hoffnung geben kann, auch wenn man glaubt, alles verloren zu haben. Ein berührender, kluger Roman, der von Liebe und Freundschaft erzählt, von Verlust und Trauer, aber auch von Hoffnung und von der Kraft der Gemeinschaft.

ROISIN MAGUIRE lebt in Nordirland und hat Kreatives Schreiben an der Queen's University studiert. Sie hat als Türsteherin in einem Nachtclub, als Busfahrerin und Grundschullehrerin gearbeitet und ist begeisterte Sporttaucherin, Anglerin und Ganzjahresschwimmerin.

2

»Was ist das denn für ein Name? Ist der englisch?«

Der Mann hatte den stattlichen Ellbogen auf der Mauer abgestützt, sein Bauch wölbte sich unter dem Polohemd vor, als hätte ihn jemand aufgepumpt. Evan rang sich ein Lächeln ab.

»Walisisch, glaube ich.«

»Ah, bist du aus Wales?« Die Stimme klang ein bisschen freundlicher. »Ihr Jungs könnt Rugby spielen, das muss man euch lassen.«

»Nein …«, antwortete Evan rasch und lachte kurz auf. »Ich komme aus Belfast.«

»Ach so. Und für wen spielst du dann? Cooke?«

»Äh, nö. Ich spiele eigentlich gar kein Rugby.«

»Aha.« Der große Mann nickte enttäuscht, wandte den Blick aber nicht von Evan ab, der auf der Stufe vor dem kleinen Haus stand, einen schweren Karton in den Armen. Der hatte Schlagseite, war an der Ecke feucht, was Evan vermuten ließ, dass die Milch ausgelaufen war. Er schob ihn ein wenig zurecht, damit die feuchte Stelle auf seinen Unterarmen lag und der Boden nicht riss. Die Morgensonne schien ihm heiß ins Gesicht, vom Wasser grell reflektiert, unter seinen Achseln juckte der Schweiß, als hätte man ihn bei etwas Verbotenem verwischt.

»Früher, als Single, war ich oft beim Klettern und Mountainbiken«, hörte er sich sagen, da war eine gewisse Lebendigkeit in seinem Ton, ein schwaches Aufglimmen seines alten Feuers. Der Mann beäugte ihn abschätzig, seine Miene erwartungsvoll wie die eines großen Hundes. Plötzlich wehte der Geruch von Weichspüler über die kleine Gartenmauer, und vor Evans geistigem Auge entstand das Bild des überdimensionierten Polohemds, das irgendwo dahinten auf der Wäscheleine in der Meeresbrise geflattert hatte, während der Besitzer mit nacktem Oberkörper daneben gewartet hatte, bis es trocken war, das breite Gesicht mit der undurchdringlichen Miene auf die Straße gerichtet, um neugierige Passanten anzustarren.

»Die Gattin nicht dabei?«

Evan blinzelte. »Ähm, nein. Nein. Diesmal nicht.«

»Na dann. Bisschen Abstand muss sein, sonst geht man sich an die Gurgel.«

Evan glotzte ihn an, der Mann glotzte zurück.

»Du klingst gar nicht wie die anderen aus Belfast, die wir sonst so reinkriegen.«

Evan lächelte entschuldigend. Etwas Nasses lief an seinem Ellbogen vorbei. »Tja«, sagte er, »ich geh wohl besser …«

»Is ’n großer Karton, den du da hast.«

Der Mann stützte auch den anderen Ellbogen ab.

Evan nickte. »Ja, stimmt. Und schwer ist er auch.«

»Bleibst wohl länger, hm?«

»Nur eine Woche. Airbnb, wissen Sie?«

Der Mann hob das massive Kinn, wohl um seine Überraschung auszudrücken. Evan fiel nichts Besseres ein, als zu lächeln und achselzuckend den Rückzug anzutreten, schon jetzt kam ihm das düstere, deprimierende Cottage wie ein Refugium vor.

»Tja. Nett, Sie kennenzulernen …« Fragend hob er die Stimme.

»Frank«, sagte der Mann und nickte über seine Schulter hinweg zum kleinen Pfad, der sich vom Strand weg zum kleinen Dorf hinaufwand.

»Dahinten um die Ecke, da wohn ich. Das sind die alten Coastguard Cottages.«

Ja, die waren ihm schon bei der Ankunft aufgefallen, gestern Abend, kleine weiße Häuser, die in einer adretten Reihe den Hügel hinaufkrochen, sich wegduckten vor den Meeresstürmen, die hier in den Wintermonaten sicher ihr Unwesen trieben.

Evan nickte. Der Mann fühlte ihm auf den Zahn. Vergewisserte sich, dass der neue Mieter keinen Ärger machen würde. Partys um Mitternacht, Nacktbaden, solche Sachen. Was die anderen aus Belfast so veranstalteten, möglicherweise.

»Ich nehm mir hier nur ’ne klitzekleine Auszeit, nur ’ne Woche, Frank. Ruhig und friedlich. Bisschen fotografieren, so Sachen. Ich mach dir keinen Ärger, versprochen.«

Darauf sagte Frank nichts, sondern nickte bedächtig, die Stille sirrte zwischen ihnen, im Gleichklang mit dem sanften Schwellen der Wellen nur ein paar Schritte unterhalb des Pfads. Es herrschte offenbar Flut, das Meer hatte die ganze Bucht eingenommen und sich wie zum Lauschen ans Ufer geschlichen.

Und die Milch tropfte.

»Nun denn, Frank«, sagte Evan schließlich. »War nett, dich kennenzulernen.« Mit einem letzten freundlichen Nicken drückte er den Ellbogen gegen die Tür, sodass sie aufschwang, das kleine Haus hinter ihm kühl und dunkel und intim.

»Herrje«, sagte Evan zum stabilen, dunklen Holz.

Welch Erleichterung, den durchgeweichten Karton auf dem kleinen Tisch abstellen und sich die Milch von den Fingern schütteln zu können. Die Milchpackung war umgekippt, der Deckel nicht ganz geschlossen. An dem massiven weißen Spülstein unter dem Fenster stieß er auf einen Lappen, mit dem er sich das Zeug vom Arm wischte. Die Milch war ihm seitlich am T-Shirt heruntergelaufen und hatte dort einen irlandförmigen Fleck hinterlassen, aber das war ihm egal, er würde sich nicht umziehen.

Auf der anderen Seite des Fensters dräute eine dunkle, hohe Hecke voller Kahlstellen und Lücken, wo der salzige Wind das Laub verdorrt hatte, eine erschlaffte Plastiktüte klammerte sich an den obersten Ast.

Sieben Tage hier. Er sah sich langsam um. Sieben Tage. Weil ihm der Magen knurrte, nahm er das Brot aus dem Karton, riss die dünne Verpackung auf, zog den Kanten heraus und biss hinein. Hauptsache, essen. Er kaute im dunklen kühlen Zimmer vor sich hin, das Brot war trocken und weich und dick und gut.

»Wie viel Zeit brauchst du?«, hatte er sie gestern leise gefragt. Sie hatte ganz vorn auf dem Rand des großen Sessels gesessen, im Wintergarten, wo Jessie gestorben war, und in höchster Konzentration auf den Laptop gestarrt, das strohige, an den Wurzeln seltsam verfärbte Haar oben auf dem Kopf zu einem wirren Knoten verzwirbelt.

Seine Frage bewegte sie nicht zum Aufschauen, stattdessen flogen ihre Finger nur so über die Tastatur, offenbar führte sie eine hitzige Unterhaltung mit einem anderen, nur nicht mit ihm. Er schaute über ihren gesenkten Kopf hinweg aus dem Erkerfenster ins grelle Grün des mit frühlingsfrohem Vogelgesang erfüllten Gartens, wo die am dicken Stamm der Platane knorrig verdrillten Äste schwer am frischen Laub trugen.

»Lorna?«

»Meine Güte, Evan. Keine Ahnung.« Sie hob den Kopf und drehte das Gesicht ungefähr in seine Richtung, sah ihn aber nicht an, nicht richtig. Tat sie nie. Sie hatte die Schultern wie zum Schutz vor ihm hochgezogen, dunkle Mundwinkelfalten umrahmten ihre Lippen, wo sie sich fest unter Verschluss hielt.

»Eine Woche? Würde eine Woche helfen?«, schlug er vor. »Sag mir einfach, was du brauchst, mehr will ich gar nicht.«

Sie senkte den Blick auf die Tastatur und gab einen langen Seufzer von sich, der ihm mitteilte, dass er sich mal wieder dämlich anstellte – dumm wie Brot, unerträglich.

Von dort, wo er stand, wirkten ihre Schultern mager. Er erkannte die scharfen Konturen ihrer Knochen unter der Bluse, es kam ihm der Gedanke, dass sie frieren müsse, aber er wusste, dass er besser nicht fragte. Mit dem schlanken, eleganten Finger tippte sie auf eine Taste, konnte es wohl kaum erwarten weiterzuziehen, Wörter erschaffen für die Augen eines anderen.

»Ist mir egal«, sagte sie schließlich, als hätte sie erst jetzt bemerkt, dass er noch immer da stand. »Ja. Eine Woche. Meinetwegen. Grundgütiger.«

Ihre Schultern waren angespannt, mit letzter Kraft zusammengehalten, damit ihr nicht der Faden riss.

»Na gut«, sagte er dann rasch. »Na gut, ich gehe. Alles klar. Ich besorg mir eine Unterkunft, heute, noch diesen Nachmittag, ich lass dich in Ruhe …«

»Evan. Könntest du. Einfach mal. Die verdammte. Klappe. Halten?«

Er konnte es förmlich hören, wie sie die Zähne zusammenbiss. Sie schüttelte leicht den Kopf, als wollte sie ein sirrendes Insekt vertreiben, ein lästiges Ding, dann tanzten ihre Finger weiter, sprachen mit dem anderen – egal, mit wem, Hauptsache, nicht mit ihm.

Sie tippte immer noch, als er ging, zum Wagen, um sein iPad zu holen, die Suche nach einer Unterkunft zu starten, nicht zu weit weg, aber auch nicht zu nah, eine Person, eine Woche. Sie hatte nicht aufgeschaut, um sich von ihm zu verabschieden, nicht einmal, als er mit der Reisetasche über der Schulter im Türrahmen gestanden hatte – hatte ihm nicht nachgesehen, als er die Straße entlanggefahren war, aus der Stadt, weg von ihr, von Luca, ihrem Heim, von allem.

Das Brot blieb ihm in der Kehle stecken, er schluckte schwer, damit es weiterrutschte.

Erst da bemerkte er, dass er unversehens mehrere Scheiben verdrückt hatte, doch irgendwie ging es ihm jetzt ein bisschen besser. Im Karton war auch Butter, fiel ihm jetzt ein, und Marmelade, und er kramte danach herum, zwischen Nudeln, Speck, Dosensuppe und dem seltsamen Fläschchen, das ihm die komische Frau im Laden aufgedrängt hatte.

Handreiniger oder so was.

»Darüber werden Sie noch froh sein, sag ich Ihnen«, ganz entschlossen war sie gewesen, hatte eifrig genickt, als er das Fläschchen seitlich in den Einkaufskarton geschoben hatte. »Kam in den Nachrichten, wissen Sie, da ist angeblich eine Pandemie im Anmarsch. In ein, zwei Tagen kriegen Sie das Zeug nicht mehr, heißt es. Ich schwörs Ihnen. Haben Sie auch wirklich genug Nudeln mitgenommen? Mit einer Packung kommen Sie nicht weit, ganz sicher nicht.«

»Ähm, ja«, hatte er erwidert. »Danke, das reicht völlig. Ich bin ja nur ein paar Tage hier. Es ist nur für mich.«

Als sie aufschaute, ihm das Wechselgeld gab und ihn dabei musterte, war da auf ihrem Brillenglas ein deutlicher Daumenabdruck. Wie gern hätte er ihr in diesem Moment die Brille abgenommen und sie einmal gründlich geputzt, wie er es mit seiner eigenen tat, aber es natürlich unterlassen.

Sieben...

Erscheint lt. Verlag 15.7.2024
Übersetzer Andrea O'Brien
Sprache deutsch
Original-Titel Night Swimmers
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Technik
Schlagworte Alkohol • Antrim • Beziehung • Corona • Dorf • Einsamkeit • Familie • feelgood • Heilung • Hund • Kindstod • Küste • Liebe mit Altersunterschied • Meer • mentale Gesundheit • Mental Health • Natur • Schwimmen • SIDS • Sommer • Taubstumm • Trauma • Urlaub • Verlust
ISBN-10 3-7558-1053-0 / 3755810530
ISBN-13 978-3-7558-1053-7 / 9783755810537
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