Bevor wir uns vergessen -  Éliette Abécassis

Bevor wir uns vergessen (eBook)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
176 Seiten
Arche Literatur Verlag AG
978-3-03790-152-6 (ISBN)
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Ein Balsam für die Seele in heutigen Zeiten Die Meisterin des lebensklugen französischen Liebesromans ist zurück. In 'Bevor wir uns vergessen' erzählt Éliette Abécassis die Geschichte von Alice und Jules, ihrer  jahrzehntelangen Liebe voller gestillter und ungestillter Sehnsüchte. Eine mitreißende und berührende Erinnerung daran, dass es die dauerhafte Liebe - gegen alle Widerstände - doch geben kann. Alice und Jules sind fünfundachtzig Jahre alt. Sie treffen sich auf einer Bank im Jardin du Luxembourg, Kinder spielen vor dem Bassin, ein Sonnenstrahl bricht durch das Laub der Bäume. Ist es ein Déjà-vu? Denn das, was sie jetzt zu vergessen drohen und was vor sechzig Jahren begann, nahm hier seinen Anfang: ihr gemeinsames Leben. In ihrem neuen Roman dreht Éliette Abécassis die Zeit zurück, Schritt für Schritt erzählt sie die Geschichte von Alice und Jules vom Ende bis zum Anfang. Alter, Routine, Affären, Eifersucht, Eltern werden, Heirat, Leidenschaft: All das haben die beiden vor der Kulisse von Paris und den großen historischen Umbrüchen der letzten Jahrzehnte miteinander erlebt. Dieses hoffnungsvolle und zärtliche Buch fragt, wie Liebe bestehen kann und was uns zusammenhält.

Éliette Abécassis, geboren 1969 in Straßburg, ist Autorin und Professorin für Philosophie. Ihr erster Roman, ?Qumran?, wurde zum internationalen Bestseller, der in achtzehn Ländern erschien. Heute wird Éliette Abécassis für ihre literarische Betrachtung von Partnerschaft im 21. Jahrhundert geschätzt. Sie ist Mutter zweier Kinder, engagiert sich für Frauen und Kinderrechte und lebt in Paris.

Port-des-Barques, August 2018


Auf der Terrasse des kleinen, an der Atlantikküste gelegenen Grundstücks liest Jules den Brief noch einmal. Er hat ihn in der Schublade des Schreibtischs gefunden, den er sich mit seiner Frau teilt: den Brief, den er ihr direkt nach ihrer ersten Begegnung geschrieben hat, im Mai 1955. Das dicke Papier hat der Zeit standgehalten, seine etwas geneigte Schreibschrift mit den ineinanderfließenden Buchstaben ist noch gut lesbar. Ein Lächeln auf den Lippen, liest er den Brief, als wäre es das erste Mal, und ist überrascht, wie ergriffen er so viele Jahre später davon ist und auch wie anmaßend er war, als er ihn schrieb. Er schaut ihn sich ganz genau an, um herauszufinden, welche sichtbaren Spuren die Zeit darauf hinterlassen hat, betrachtet die verblassende Tinte, die Striche und Rundungen, rät manche Wörter, die kaum noch zu entziffern sind, streicht über das vergilbte Papier, hält es gegen das Licht mit seinen gefleckten, verlebten Händen. Er findet, dass dieser Brief nicht gealtert ist, auch wenn er ihn vor Schmerzen nur schwer festhalten kann, und dabei überkommt ihn der Gedanke an den Tod. Seine Gliedmaßen machen ihm zu schaffen. Lauter Wehwehchen schränken seine Freiheit ein. Alice pflegt ihn, und er verlässt sich auf sie, Tag für Tag. Sie ist es, die die Medikamente abzählt und sie ihm jeden Morgen verabreicht: Er weiß noch nicht einmal, was er einnimmt, er kennt weder die Namen noch die Dosierung. Sie vereinbart die Arztbesuche, die Termine bei der Krankengymnastik, beim Friseur, beim Augenarzt, beim Gastroenterologen, ebenso wie die Treffen mit Freunden und der Familie und alles andere in seinem Alltag. Seit er in Rente ist, überträgt er ihr sein ganzes Leben: Inzwischen ist sie seine Mutter, seine Schwester, seine Freundin, seine Ärztin, seine Krankenschwester, seine Pflegekraft, seine Psychiaterin, seine Köchin und seine Privatsekretärin.

Ihr Haus in der Charente-Maritime ist ein moderner Bau mit weißen Mauern und einer großen Glasfront zum Meer, dessen Farben sie gern von morgens bis abends bewundern, egal ob bei Gewitter oder schönem Wetter, vom dunkelsten Grau bis zum kristallklarsten Blau. Sie sind hierhergezogen für den Ruhestand, nachdem Jules das Haus nach seinen Plänen hat bauen lassen, so, wie er es sich vorgestellt hatte, lichtdurchflutet und mit klaren Linien. Sie haben ihre Wohnung in Paris vermietet, haben eine kleine Bleibe im Quartier Latin gekauft, ihre Sachen, ihre Bücher, ihre Kleidung und ihre Gewohnheiten mitgenommen, um sich im Nirgendwo niederzulassen, an diesem abgelegenen Ort, den Jules während einer Reise aufs Land entdeckt hatte. Hier leben nicht viele Menschen, und im Winter kann der Ort manchmal durchaus trostlos erscheinen, aber ihnen gefällt es hier, sie machen Einkäufe und Ausflüge auf die Île de Ré und lange Spaziergänge an der Küste entlang, zur Westspitze mit dem Leuchtturm, dem Phare des Baleines, wo einem der Wind vom offenen Meer direkt ins Gesicht weht, ein Fleckchen Erde, das Jules sehr gefällt.

Alice hat sich schließlich an dieses Leben gewöhnt. Sie mag die Sonnenuntergänge in den verschiedenen Rot-, Gelb- und Violetttönen, wenn der Himmel am Ende des Tages in Flammen aufgeht, als würde eine Feuerkugel im Ozean versinken. Sie kann stundenlang vollkommen versinken, während sie diese atmosphärische Schönheit betrachtet, die sich erst zur Dämmerung zeigt, und sie malen. Hier, an diesem erstaunlichen, fast traumgleichen Ort, hat sie damit begonnen, Familienfotos und -dokumente zu sammeln, um ihren Stammbaum zu erstellen. Jetzt, wo sie Zeit dafür hat, vertieft sie sich, ausgehend von Ortsnamen, Personendaten, Heiratsurkunden, Familiendokumenten und alten Fotografien, völlig in die Recherche, wobei sie auf Webseiten zur Ahnenforschung zurückgreift, die es im Internet zuhauf gibt. Wie eine Detektivin führt sie eine Ermittlung zu ihrer Abstammung: Es ist ihr gelungen, ihren Stammbaum über fünf Generationen hinweg zu rekonstruieren. Sie ist die Tochter von Alexandre Edelman, Literaturprofessor, und Clara Aron, Geigerin. Ihre Eltern sind die Kinder von Moïse und Colette Edelman beziehungsweise Étienne und Judith Aron und die Enkelkinder von Richard und Alice Edelman, Isidore und Simone Dreyfus aus Phalsbourg in Lothringen. Unter ihren Vorfahren stößt sie auf einen Stoffhändler, der während der Napoleonischen Kriege für die Armee arbeitete, einen Geschäftsmann oder »Geschäftemacher«, wie man damals sagte, einen lothringischen Süßwarenfabrikanten, einen polnischen Viehverkäufer und sogar einen Minister, der Pädagoge und Generalinspekteur der Armee war und der die Gründung der École normale supérieure in Fontenay-aux-Roses mitvorangetrieben hat, um Lehrerinnen auszubilden.

Warum die Vergangenheit rekonstruieren?, fragt Jules. Wozu soll das gut sein? Mein Gedächtnis funktioniert nicht mehr so wie früher, am liebsten würde ich die Zeit aufhalten und das Gefühl, dass sich alles verflüchtigt, und durch meine Vorfahren möchte ich die Toten wieder zum Leben erwecken. Kennst du eigentlich deine Familiengeschichte? Anhand von Heirats- und Geburtsurkunden versuche ich, die Schlüsselmomente herauszufiltern, in denen sich das Schicksal wendet, die Punkte, an denen sich die Konstellationen des Lebens verändern und die sonst häufig unbemerkt bleiben. Manchmal spüre ich die Art von Überdruss, die typisch für das Alter ist, und dann erinnere ich mich an meine Jugend. Ich schaffe es, die Angst zu verjagen, die mich lähmt, und das ständige Gefühl, hinter meinem Leben herzurennen, und dabei stellt sich das flüchtige Glück ein, das mich erfasst, wenn die Zeit stillsteht. Und in dieser neuen Lebensphase habe ich das starke Bedürfnis, etwas Unvergängliches von mir weiterzugeben, das sich nur über die Vergangenheit vermittelt. Bei der Ahnenforschung stelle ich mir grundsätzliche Fragen, Fragen zum Leben an sich und wie es entsteht und vergeht. Ich dagegen ziehe das Alleinsein vor, ich bin gern am Ende der Welt in einem kleinen Häuschen, da fühle ich mich am freiesten, denn ich bin von nichts und niemandem mehr abhängig und auch nicht von dieser seltsamen Welt, deren Eigenarten ich beobachte, seit ich in Rente bin. Aber wirklich existieren, ich weiß nicht, ob ich dazu noch in der Lage bin. Dafür müsste man intensiv leben, und ich glaube, dass mir dazu inzwischen der Mut fehlt. Ich hatte dir gesagt, ich würde dir helfen. Aber ich fühle mich unbehaglich mit den ganzen Toten. Wer von all den Personen ist überhaupt noch lebendig? Und bin ich es deiner Ansicht nach? Erinnerst du dich an die Schlafcouch in unserer kleinen Wohnung in der Rue Mouffetard, wo wir gelacht und geweint und von Luft und Liebe gelebt haben? Ich schlüpfte neben dich und flüsterte dir ins Ohr, dass ich dich schön finde. Sehr schön mit deinem dunklen Haar, das dir glatt auf die Schultern fiel, deinen Rehaugen und deinem süßen Duft nach Vanille und lieblichen Blumen.

 

Wenn sie jeden Tag zusieht, wie der Horizont sich purpurrot färbt und der Himmel seine schönsten Kleider anlegt, wie um einem himmlischen Maler eine ganze Farbpalette darzubieten, und in Erstaunen und Entzücken gerät, zwei kindliche Eigenschaften, die sie trotz ihres Alters nicht eingebüßt hat, dann erinnert Alice sich schließlich wieder an ihre Jugend. Ihr Gesicht, das die Sonne gebräunt und mit Altersflecken übersät hat, entspannt sich, ihre Züge werden weich, und sie ist glücklich. So sitzt sie da, mit den schmalen, von einem Schönheitsfleck betonten Lippen, den braunen Augen, der zierlichen Nase, den dichten Augenbrauen und darüber den dunklen, kurz geschnittenen Haaren mit Pony, wie ein Helm. Sie bewegt sich langsam, wie ein Schatten, und hinterlässt dabei den lieblichen Duft ihres Parfums, das sie seit jeher trägt. Unter einem Strohhut, den sie sich fest ums Gesicht schnürt, damit der Wind ihre Frisur nicht durcheinanderbringt, verharrt sie stundenlang und betrachtet den Horizont und die dahintreibenden Boote, und gedankenverloren lächelt sie, wenn ihr der eine oder andere Augenblick in den Sinn kommt. Es sind immer dieselben, an die sie sich erinnert, ein paar Tage in Neapel oder auf Capri während ihrer Hochzeitsreise, ein Aufenthalt in Venedig, eine Zweizimmerwohnung in der Rue Mouffetard, Kinder, die im Garten spielen, wie Momentaufnahmen, die sich überlagern, oder Fotos, die man wiederfindet, Bilder in einem Kaleidoskop, die zusammen den Film ihres Lebens ergeben.

Im Sommer geht sie bei Flut schwimmen und entfernt sich von der Küste, als wollte sie den Atlantik überqueren, während Jules sie besorgt mit abgeschirmten Augen beobachtet. Manchmal verharrt er eine ganze Stunde so und hält Ausschau nach ihr, während sie aufs offene Meer schwimmt. Immer stellt er sich das Schlimmste vor. Er kann nicht umhin, es zu tun. Plötzlich sieht er sie nicht mehr, und er gerät in Panik. Sein Herz fängt erst wieder an zu schlagen, wenn er sie endlich entdeckt. Er macht ihr Zeichen, damit sie umkehrt, aber sie entfernt sich weiter, allein, wie um ihre Kraft und ihre Freiheit unter Beweis zu stellen. Sie hat währenddessen das erhebende Gefühl, irgendwo zwischen Himmel und Erde zu sein, schwerelos. Jedes Mal, wenn sie zurückkommt, begrüßt er sie überschwänglich und erleichtert, als wäre sie einer großen Gefahr entgangen. Trotzdem gibt er sich Mühe, ihr nicht zu zeigen, dass er Angst um sie hatte, fürchterliche Angst.

 

Mehrmals im Jahr besuchen ihre Kinder oder Enkelkinder sie in Port-des-Barques. Seit seiner Scheidung verbringt ihr Sohn Alexandre den gesamten August mit seinen Töchtern bei ihnen. Dank Social Media hat er seine Jugendliebe wiedergefunden, die junge Frau, die er während des Studiums im...

Erscheint lt. Verlag 10.7.2024
Übersetzer Kirsten Gleinig
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-03790-152-7 / 3037901527
ISBN-13 978-3-03790-152-6 / 9783037901526
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