Knitterschlag -  Hans-Martin Koopmann

Knitterschlag (eBook)

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2024 | 2. Auflage
263 Seiten
epubli (Verlag)
978-3-7598-3655-7 (ISBN)
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KNITTERSCHLAG JETZT NEU AUF DER VORSCHLAGSLISTE  'Buchpreis HamburgLesen 2024'. Hamburg 2003. Jahrhundertsommer. Auch in den Nächten flirrende Hitze. Junganwalt Reindert wird in eine vergessene Villa im gutbürgerlichen Marienthal gerufen. Leicht verdientes Geld, denkt er sich. Aber was ist sein Auftrag? Die Umstände überfordern ihn. Zudem macht er Fehler und die Situation eskaliert. Er zieht sich zurück, leckt seine Wunden. Doch sind die Dinge um ihn herum längst in Bewegung geraten. Der Weg zurück, abgeschnitten. Am Ende bleibt die Einsamkeit nächtlicher Landstraßen, Einsamkeit der Singlewohnungen und Kasernenstuben. Einsamkeit der Verlassenen. Einsamkeit der Überlebenden. Einsamkeit der Träume. Mit voller Wucht erzählt Knitterschlag von Gewalt und Verlust, aber auch von Freundschaft und Liebe.

Ich bin seit mehr als zwanzig Jahren als Rechtsanwalt in Hamburg tätig und von daher mit Mechanik und Dynamik von Konflikten vertraut. Hamburg kenne ich noch länger. Ich schätze insbesondere den Osten der Stadt. Hier, aber nicht nur hier, spielen auch meine Geschichten. Ich schreibe kein Genre, insbesondere keine Krimis, sondern bin auf dem Feld der literarischen Belletristik unterwegs.

7

In der Sache hatte Reindert beschlossen, Peters Vorschlag zu folgen. Ehrlich gesagt hatte er auch überhaupt keine andere Wahl, zumal es da auch noch die Aussicht auf weitere Goldmünzen gab. Um Edda weiter von sich zu überzeugen, wollte er seine Arbeit für sie möglichst systematisch angehen, die Lage sondieren, erfassen und dokumentieren. So verwandte er den Rest der ersten Woche darauf, das Haus vom Keller bis zum ersten Stock nach bestem Können zu vermessen und zu skizzieren. Die so entstandenen Grundrisse fotokopierte er mehrfach, um darin später alle möglichen Funde zu verzeichnen, die er gegebenenfalls noch machen würde. Er beschloss, zunächst mit den Räumen und Raumteilen zu beginnen, die seinerzeit von Herrn Frundsberg exklusiv genutzt wurden.

In der Kellergarage stand, seit Jahren, Jahrzehnten vielleicht, unberührt und völlig verstaubt, das Auto des alten Frundsberg: HH – EF 1, ein Cabriolet derselben Marke wie sein Altwagen, aus derselben Epoche, aus demselben Gesamtkatalog sozusagen, aber nicht in Mimosengelb, sondern in Ikonengold, und mit olivgrünen Lederpolstern. Der Wagen stand auf einer großen kreisförmigen Bodenplatte aus Beton, deren Bewandtnis Reindert zunächst Rätsel aufgab. Schließlich fiel der Groschen: die Bodenplatte war nicht nur kreisförmig, sie musste ursprünglich auch einmal drehbar gewesen sein, so wie in den riesigen Lokschuppen zu Zeiten der Dampflokomotiven. Solches würde es dem alten Frundsberg erlaubt haben, die Garagenabfahrt vorwärts zu nehmen, dann auszusteigen und das Fahrzeug elektrisch umzudrehen, so dass er seinen Standpunkt bei Bedarf auf Knopfdruck in entgegengesetzter Fahrtrichtung wieder verlassen und vorwärts aus der Tiefgarage herausfahren konnte. Solches war zwar leicht gesagt, doch hatte es Reindert ob der sichtbaren Befunde manch archäologisches Grübeln abverlangt, dorthin zu gelangen. Rings umher standen Regale, die mit diversem Werkzeug bestückt waren und, fast verborgen hinter Gartenstühlen und alten Lappen, ein alter Rasentraktor in hoffnungslos vernachlässigtem Zustand. Immerhin ein John Deere, dachte Reindert bei sich, ganz wie zuhause.

Der war mal teuer, murmelte er.

Beeindruckend, wiewohl derzeit saisonbedingt stillgelegt, war auch die altertümliche Ölheizung nebst äußerlich rostpickeligem Riesentank, der laut Typschild nicht weniger als zwölftausend Liter Heizöl aufnehmen konnte. Reindert klopfte daran: das Monstrum schien leer zu sein, so hohl tönte es daraus. Er verzeichnete alles und machte einige Fotos mit seiner neuen Digitalkamera. Hier unten, so schien es, war tatsächlich seit langer, langer Zeit niemand mehr gewesen. Unumschränkt herrschten die Spinnen und führten ihr ebenso mörderisches wie auskömmliches Regiment.

In den oben gelegenen Räumen bot sich ihm wiederum ein anderes Bild: Wie schon im Erdgeschoss, so lief man auch hier auf beigem Marmor. Dieser war zwar nicht gebohnert und wirkte daher etwas stumpf, anderseits aber durchaus sauber. Durch ausladende Gauben, denen zweckmäßig geschnittene Dachloggien vorgelagert waren, konnten die von der Außenansicht her naheliegenden Dachschrägen im Wesentlichen vermieden werden. Lediglich in den Seitengelassen und Abstellkammern sowie einem kleinen, dunkelgrün gefliesten Gästebad waren diese anzutreffen. Das große Arbeitszimmer des alten Frundsberg indes präsentierte sich in ähnlicher Weitläufigkeit wie die Räume im Erdgeschoss.

Doch war es im Wesentlichen leer. Bei den großen, bodentiefen Südfenstern, die der Tür gegenüberlagen, standen ein mächtiger Schreibtisch und, dazu passend, ein großer, lederner Schreibtischsessel, westseitig deckenhohe Einbauschränke aus der hier offenbar omnipräsenten hellgebeizten Eiche. Von dort aus konnte man über eine breite Loggia in den verwilderten Garten blicken. Auch fand sich, wohl für Unterredungen, ein Konferenztisch mit sechs schweren Stühlen. Die spärliche Möblierung verlor sich im Raum. Der auch hier überall verlegte Marmorboden und die erstaunlich hohen Decken taten ihr Übriges.

Reichskanzlei, murmelte Reindert.

Ein Blick in die Wandschränke brachte rund 80 ladenneue Herren-Oberhemden “bügelfrei“ aus den siebziger Jahren zutage, die sich, völlig unbenutzt und noch einzeln in Cellophan verpackt, penibel auf Kante geschichtet vorrätig gehalten fanden. Fast wie bei einem Fachgeschäft für Herrenmoden, auch wenn hier nur die deutsche Konfektionsgröße 39/40 zur Wahl stand. Aber was sollte das? Reindert schüttelte ratlos den Kopf. Seine zugegebenermaßen unbeholfene Schlussfolgerung, dass der ja äußerst wohlhabende Eberhard Frundsberg seine Hemden offenbar nur einmal zu tragen pflegte und dann weitergab oder gar wegwarf, bestätigte Edda nicht. Dafür lobte sie ausdrücklich seinen Ansatz, alles sorgfältig zu fotografieren und zu kartographieren.

Faszinierend war schließlich eine Art Kaminuhr, für die im Arbeitszimmer des alten Frundsberg gegenüber der Schrankwand eigens ein kleiner Marmorsims geschaffen und in die Wand eingelassen worden war. Zwar lief die Uhr, doch war die angezeigte Zeit völlig falsch. Unter einer Glaskuppel drehte sich, wie von Geisterhand bewegt, eine große, messingfarbene Schwungscheibe hin und her, obwohl Reindert weder ein Batteriefach noch einen Handaufzug erkennen konnte. Er fotografierte die Uhr und verzeichnete sie in einem Grundriss. Peter erklärte ihm später, dass es sich bei dem Stück um eine wertvolle Atmos handele, die ihre Gangenergie ausschließlich aus den atmosphärischen Druck- und Temperaturschwankungen ziehe, welche sich über Tag ergäben. Hieraus wiederum schloss Reindert, dass die Abweichung der ausgewiesenen Tageszeit der Gangungenauigkeit der Atmos bezogen auf einen Zeitraum von einunddreißig Jahren entsprechen müsse, wobei freilich nicht mehr ermittelt werden könne, ob und gegebenen Falls wie viele Umrundungen des Ziffernblattes hinzuzurechnen oder abzuziehen waren. Die ihm neue Vorstellung einer atmosphärenbetriebenen Uhr ließ in ihm zudem die Frage keimen, ob die erste Etage des Frundsbergschen Anwesens noch dann und wann gelüftet würde. Gereinigt, gesaugt, Staub gewischt und so weiter sicher, das ließ sich an dem gepflegten Zustand der Zimmer ablesen; aber gelüftet? Für einen Augenblick erwog er, sich deswegen demnächst an Frau Sand zu wenden, verlor den Gedanken aber dann zu schnell wieder aus dem Auge.

Die erste Woche förderte also an Nennenswertem den Sportwagen auf der Drehscheibe, Rasentraktor und Riesentank, die bügelfreien Hemden und die ewig laufende Atmos-Standuhr zutage. Vor allem aber war nichts vorfindlich, das wesentlich älter war als ebenjene 30 Jahre: keine Schwarz-Weiß-Fotografien mit gezacktem Rand, keine leergerauchte Zigarrenkiste mit Orden und Uniformteilen aus dem Weltkrieg, an den Wänden keine Kupferstiche alter Stadtansichten, keine Stillleben in Öl, keine Landschaftsaquarelle, nur die Atmos aus Glas, Messing und Stahl, die sich wundersam weiterdrehte und ganz unverdrossen ihre eigene Zeit vermaß. E. J. Frundsberg Hutfabrik, schoss es Reindert sodann durch den Kopf. Aber es gab hier keine Hüte, nicht einen, nirgends. Das, vor dem Edda sich am meisten zu fürchten und um jeden Preis abwenden zu wollen vorgab, dass nämlich viele Menschen, die sie nicht kannte oder mochte, am Ende seine Sachen mit Neugier durchstöbern oder gar plündern würden, konnte doch gar nicht geschehen, da es derartige Sachen offensichtlich überhaupt nicht gab. So gesehen bestand eigentlich keine Gefahr. Kein gutes Ergebnis, würde Peter wissend mahnen, sondern eines, mit dem er sich gleichsam selbst vor die Bleiglasfront zurück auf die Bärenallee herauskomplimentieren und die Goldgrube, die sich gerade vor ihm aufzutun anschickte, im Handstreich wieder zuschütten würde. Nein, vieles konnte er der alten Frundsberg sagen und sicher manches berichten, solches indes nicht.

Also konstruierte er zweckdienlich, dass Eberhard Frundsberg das Haus in der Bärenallee als Schlussstrich und radikalen Neuanfang verstanden haben musste. Er würde Edda danach fragen, die diesen Gedanken denn auch nicht gleich verwarf und sogar anmerkte, Reindert sei auf einem guten Weg.

In den Siebziger Jahren haben die Leute einfach keine Hüte mehr gekauft, wissen Sie.

Ja, sagte Reindert, aber was war vorher?

Er schloss die Augen und versuchte, sich den Mann Eberhard Frundsberg vorzustellen als einen Mann der Tat, einen, der auch den Bruch, den radikalen Bruch, nicht scheute, wenn Umstände und Gelegenheit dies geboten.

Vorher schon, sagte Edda. Da gehörte der Hut einfach dazu, wenn man etwas gelten wollte.

Und vor dem Krieg?, frage Reindert weiter.

Da auch da auch, sagte Edda und schmatzte.

Wann wurde Eberhard Frundsberg geboren?

1893, sagte Edda. Er war fünfundzwanzig Jahre älter als ich.

Dann war er achtzig, als er starb, folgerte Reindert.

Neunundsiebzig, sagte Edda.

Wann haben Sie sich kennengelernt?

1943, sagte Edda.

War er da nicht im Krieg?

Nein. Da war Eberhard schon zu alt für den Krieg. Außerdem war er UK gestellt. Er musste doch den Betrieb weiterführen. Kriegswichtig kriegswichtig.

Kriegswichtig? Hüte?

Keine Hüte. Im Krieg keine Hüte, sondern Uniformen, Sie Grünschnabel. Uniformteile! Natürlich vor allem militärische Kopfbedeckungen: Schirmmützen, Feldmützen, Pelzmützen, Panzerschutzmützen, Schiffchen.

Ah, verstehe, sagte Reindert, für die Wehrmacht.

Für Wehrmacht und...

Erscheint lt. Verlag 5.7.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-7598-3655-0 / 3759836550
ISBN-13 978-3-7598-3655-7 / 9783759836557
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