Das Loch (eBook)
128 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01943-0 (ISBN)
Hiroko Oyamada, 1983 in Hiroshima, Japan, geboren, studierte Japanische Sprache und Literatur. Nach ihrem Abschluss arbeitete sie in wechselnden Jobs, u. a. als Aushilfskraft bei einem Autohersteller. Diese Erfahrung diente ihr als Inspiration für ihren Debütoman K?j? (2013; deutsch: Die Fabrik), der mit dem Shinch? Prize for New Writers und dem Oda Sakunosuke Prize ausgezeichnet wurde. Für ihren zweiten Roman Ana (2013; deutsch: Das Loch) erhielt sie den Akutagawa-Preis, den wichtigsten Literaturpreis Japans. Ihre Werke wurden bereits in mehrere Sprachen übersetzt, u.a. ins Englische. Hiroko Oyamada lebt mit ihrer Familie in Hiroshima.
Hiroko Oyamada, 1983 in Hiroshima, Japan, geboren, studierte Japanische Sprache und Literatur. Nach ihrem Abschluss arbeitete sie in wechselnden Jobs, u. a. als Aushilfskraft bei einem Autohersteller. Diese Erfahrung diente ihr als Inspiration für ihren Debütoman Kōjō (2013; deutsch: Die Fabrik), der mit dem Shinchō Prize for New Writers und dem Oda Sakunosuke Prize ausgezeichnet wurde. Für ihren zweiten Roman Ana (2013; deutsch: Das Loch) erhielt sie den Akutagawa-Preis, den wichtigsten Literaturpreis Japans. Ihre Werke wurden bereits in mehrere Sprachen übersetzt, u.a. ins Englische. Hiroko Oyamada lebt mit ihrer Familie in Hiroshima. Nora Bierich, geboren 1958, hat Philosophie und Japanologie in Berlin und Tokio studiert. Aus dem Japanischen übersetzte sie u. a. Werke von Ōe Kenzaburō und Mishima Yukio. 2019 erhielt sie den japanischen Noma Award for the Translation of Japanese Literature.
Ich bin mit meinem Mann hierher aufs Land gezogen. Ende Mai hatte er erfahren, dass er versetzt werden würde, in eine Geschäftsstelle, die sich zwar in derselben Präfektur, aber an der Grenze zur Nachbarpräfektur befindet. Es ist die Gegend, in der mein Mann aufgewachsen ist und in der seine Eltern auch jetzt noch wohnen, weshalb er gleich meine Schwiegermutter anrief, um zu fragen, ob sie nicht vielleicht von einem passenden Haus oder einer Wohnung wüsste.
«Warum zieht ihr nicht in das Haus nebenan?»
«Nebenan?»
«Das Haus, das wir vermieten. Es ist gerade frei geworden.»
Sie sprach so laut, dass ich hören konnte, was sie sagte. Meine Schwiegereltern hatten ein Haus, das sie vermieteten? Davon erfuhr ich zum ersten Mal.
«Eine Familie mit zwei Kindern hat dort gewohnt, die Katōs, sie sind im April ausgezogen. Der Mann wollte unbedingt ein eigenes Haus bauen. Sie waren sehr nett, zum Abschied haben sie uns eine ganze Kiste köstlicher Sumo-Mandarinen geschenkt. Du hast sie doch kennengelernt, oder? Der kleine Sohn hatte lockiges Haar.»
«Nein, ich glaube nicht, dass ich sie kenne.»
Ich nahm einen Zettel, der auf dem Tisch lag, schrieb «frei stehendes Haus?» und schob ihn meinem Mann zu. Er nickte, nahm den Stift und schrieb: «zwei Etagen».
Meine Schwiegermutter redete weiter. «Jetzt steht es leer, wir haben schon den Makler beauftragt, aber bisher hat sich wohl noch niemand gemeldet. Falls ihr da einziehen wollt, kann ich gleich morgen anrufen und die Annonce löschen lassen. Habt ihr Interesse?»
«Die Miete ist bestimmt erschwinglich», antwortete mein Mann gut gelaunt.
«Natürlich, wir sind ja hier auf dem Land, die Katōs haben 52000 Yen gezahlt. Was ist, wollt ihr?»
Mein Mann stand vor dem Festnetztelefon und sah mich fragend an: Was meinst du?
Der Zeitpunkt ist perfekt, dachte ich, ein Geschenk des Himmels. Wir sollten das Angebot annehmen. Also nickte ich. Für weniger Miete, als wir jetzt für unsere zwei Zimmer mit Küche und Bad in der Stadt bezahlten, würden wir in einem Einfamilienhaus mit zwei Stockwerken wohnen.
«Ja, unbedingt. 52000 können wir uns auf jeden Fall leisten, das ist viel weniger, als wir jetzt bezahlen …»
«Was redest du da? Miete zahlt ihr natürlich keine.»
«Wie meinst du das?»
«Braucht ihr nicht, ist nicht nötig. Legt das Geld lieber zur Seite, für eure Zukunft. Das heißt, wegen der Steuern sollten wir möglicherweise einen gewissen Betrag vereinbaren, der Form halber, aber wir wollen kein Geld. Es wäre doch absurd, innerhalb der Familie Geld zu verlangen. Den Kredit haben wir ja schon abbezahlt, und neu ist das Haus auch nicht mehr.»
Mein Mann sah mich wieder fragend an, aber es gab nichts, was ich hätte einwenden können. Es war ein so großzügiges Angebot. Allerdings konnte ich mich beim besten Willen nicht an das Haus erinnern, ich hatte keine Vorstellung, wie groß und in welcher Farbe es gestrichen war, wie der Garten aussah, auch wenn ich es bei unseren Besuchen bestimmt gesehen hatte. Das bedeutete wahrscheinlich, dass es weder schön noch schäbig genug war, um meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Aus irgendeinem Grund konnte ich mich auch nicht mehr genau an das Elternhaus meines Mannes erinnern. Das Einzige, was ich wusste, war, dass es auf dem Dach Solarpaneele gab und dass im Garten irgendwelche Bäume standen.
«Einen Autostellplatz gibt es, oder?»
«Ja, aber nur einen. Und den braucht ihr auch. Ohne Auto ist man hier in der Gegend aufgeschmissen.»
«Von euch aus wäre es keine halbe Stunde zur Arbeit. Das würde vieles erleichtern. Meinst du wirklich, wir können umsonst bei euch wohnen?»
«Ich habe nicht mehr im Kopf, was wir für die Papiere brauchen. Aber wie gesagt, ihr müsst nichts bezahlen. Wozu solltet ihr uns jeden Monat 52000 Yen geben? Also gut, ich sage dem Makler Bescheid.»
«Vielen Dank! Das ist eine große Hilfe, denn Asahi arbeitet dann ja nicht mehr.»
«Wieso, Asa-chan hört auf zu arbeiten?» Meine Schwiegermutter senkte leicht die Stimme. Trotzdem war sie noch gut zu hören.
«Klar, die Pendelei wäre zu umständlich.»
«Da hast du recht. Aber du könntest ja allein herziehen? Ist doch schade, wenn sie ihren Job aufgibt.»
Mein Mann sah mich an. Ich schüttelte den Kopf. Warum sollten wir wegen seiner Versetzung getrennt leben? Ich war noch nicht einmal fest angestellt, und mein Job war auch nicht sonderlich gut bezahlt.
Mein Mann nickte mir schweigend zu, dann antwortete er: «Kommt nicht infrage, wir ziehen gemeinsam um.»
«Ach, ihr seid eben noch jung», meinte meine Schwiegermutter und lachte kurz auf.
Ich war mir nicht sicher, wie jung wir waren, auf jeden Fall waren wir schon ein paar Jahre verheiratet. Für meine Schwiegermutter war Arbeit anscheinend so wichtig, dass sie sich eher vorstellen konnte, wir lebten getrennt voneinander, statt dass ich meinen Job kündigte. Ihre Einstellung imponierte mir, vielleicht fand ich sie sogar beneidenswert. Meine Schwiegermutter hat fast ihr gesamtes Erwachsenenleben für dieselbe Firma gearbeitet und geht nächstes oder übernächstes Jahr in Rente. Bei der Geburt von Muneaki hat sie nur ein halbes Jahr pausiert. Dabei ist die finanzielle Situation meiner Schwiegereltern nicht so, dass sie Geld verdienen müsste, wahrscheinlich mag sie ihre Arbeit einfach, oder vielmehr Arbeiten als solches. Mein Job dagegen war nichts, wofür ich mich aufgeopfert hätte. Ich litt nicht darunter, aber er erfüllte mich auch nicht. Ich musste nie alles geben, aber ich erinnere mich auch an kein erhebendes Glücksgefühl. Im Verhältnis zu meinem Gehalt fand ich ihn zu zeitraubend und anstrengend, ich war oft erschöpft, was nicht nur mir so ging. Es war eine Arbeit, die auch andere erledigen konnten, doch ich war nicht mehr so jung oder naiv, dass ich deswegen unzufrieden gewesen wäre.
Mein Mann beendete das Telefonat und sah mich lächelnd an. «Du hast ja alles gehört, was meinst du? Zu nah bei meinen Eltern?»
«Wieso?»
«Na ja, von wegen Schwiegermutter und so.»
Ich musste unwillkürlich lächeln. Ich hatte sie nie so gesehen. Klar, sie war nicht perfekt, aber sie hatte zweifellos mehr Vorzüge als Fehler. Sie war fröhlich, hilfsbereit, offen und fleißig und noch vieles mehr. Müssten wir unter einem Dach leben, hätte ich es mir überlegt, aber da wir nebenan einziehen würden, gab es nichts einzuwenden. «Nein, im Gegenteil, wie nett von ihr. Ich weiß ja noch gar nicht, ob ich eine neue Arbeit finde, da ist es viel wert, wenn wir die Miete einsparen.»
«Da hast du recht.» Immer noch lächelnd holte mein Mann sein Handy hervor und fing an, darauf herumzutippen.
«Aber was ist mit dir, stört es dich nicht, so nah an zu Hause zu wohnen?»
Obwohl wir nicht weit entfernt lebten, schien es ihm eher lästig zu sein, seine Eltern zu besuchen, selbst an Feiertagen wie dem Obon-Fest im Sommer oder zu Neujahr. Da meine Eltern weiter weg wohnten, gaben wir meist ihnen den Vorrang, aber auch wenn wir sie nicht besuchten, statteten wir nicht unbedingt seinen Eltern einen Besuch ab, wir schoben dann eine Reise oder andere Gründe vor.
«Nein, nicht wirklich. Ich weiß nicht, vielleicht ist es das Alter, aber der Gedanke beruhigt mich eher.»
«Beruhigt?»
Mein Mann sah auf sein Handy, grinste, warf mir einen kurzen Blick zu, und schon sprangen seine Finger wieder über die Tasten.
Im Unterschied zu mir hat er viele Freunde. Wahrscheinlich berichtete er gerade einem von ihnen von den Neuigkeiten: Ziehe ins Nachbarhaus meiner Eltern … keine Miete!
«Und dann ist da ja noch Großvater, er ist alt, und auch meine Eltern sind nicht mehr die jüngsten. Wenn ich nebenan wohne, ist das für alle gut …»
«Das schon», sagte ich und schaltete den Ton des Fernsehers wieder ein, den ich auf stumm gestellt hatte. Man hörte das laute Lachen von Männern, sodass ich gleich wieder leiser stellte. Im Bild sah man eine Art Steppe, in der halb nackte Männer mit brauner Haut ein riesiges Tier jagten. Ich hatte keine Ahnung, wo sie sich befanden, aber offensichtlich nicht in Japan. Ihre Gesichter und Oberkörper waren mit weißen und gelben Mustern bemalt, vielleicht waren es auch Tätowierungen. Das Tier schien zu ihnen zu gehören, an einem Bein hing eine Art Band, das hinter ihm herflatterte. Unter den Männern war auch ein japanischer Komiker, dessen blasser dicklicher Körper in einem Strohrock steckte. Die Männer mit der braunen Haut dagegen trugen allesamt kurze Hosen aus Stoff.
«Und natürlich kommst du mit, auf jeden Fall.»
«Meinst du, deine Mutter denkt, ich sei fest angestellt?»
«Nein, das weiß sie, glaube ich …» Die Finger meines Mannes fuhren in Windeseile über die Tasten. Es hat Zeiten gegeben, als ich wissen wollte, was er so treibt, aber mittlerweile interessiert es mich kaum mehr. Solange er nicht in kriminelle Machenschaften oder sexuelle Exzesse verwickelt ist, muss ich nicht im Einzelnen erfahren, worüber er sich mit seinen mir unbekannten Freunden austauscht.
«Hast du denen eigentlich schon gesagt, dass du kündigst?»
«Bei der Arbeit? Ja, heute.»
«Und, was haben sie gesagt?»
«Nichts.» Ich lächelte bitter. Mein Mann legte den Kopf schief und sagte, ohne von seinem Handy aufzusehen: «Und das, nachdem sie dich so ausgenutzt haben.»
«Ja genau. Immer müssen wir Freien für alles geradestehen. Aber auf dem Land gibt es sicher nur Teilzeitjobs, oder? Einmal in meinem Leben hätte ich schon gern eine Festanstellung, immerhin werde ich dieses Jahr dreißig.»
«Lass dir Zeit, wir müssen ja...
Erscheint lt. Verlag | 18.6.2024 |
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Übersetzer | Nora Bierich |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Akutagawa Prize • Anspruchsvolle Literatur • Asiatische Literatur • bücher literatur • Bücher Neuerscheinungen 2024 • Einsamkeit • Familie • Gegenwartsliteratur • Generationenverhältnis • Geselleschaftskritischer Roman • Gesellschafsroman • Gesellschaftspolitischer Roman • Han Kang Die Vegetarierin • Haruki Murakami • Japan • Japanische Literatur • Klimawandel • Magischer Realismus • Manga • Mieko Kawakami • Moderne Literatur • Modernes Leben • Natur • Realität • Romane für junge Frauen • romane neuerscheinungen 2024 • Stadt versus Land • Surrealismus • Zeitgenössische Literatur • Zukunftsängste |
ISBN-10 | 3-644-01943-6 / 3644019436 |
ISBN-13 | 978-3-644-01943-0 / 9783644019430 |
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