Und vor mir ein ganzes Leben -  Eli?ka Bartek

Und vor mir ein ganzes Leben (eBook)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
328 Seiten
Weissbooks Verlagsgesellschaft
978-3-86337-220-0 (ISBN)
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»Und vor mir ein ganzes Leben« erzählt die furchtbare und zu Herzen gehende, bei aller Drastik auch komische Lebensgeschichte eines Mädchens aus gutem und einflussreichem Hause, das nach dem Einmarsch der Russen in Prag beschließt, ihrem Heimatland Tschechoslowakei unter Lebensgefahr den Rücken zu kehren. Mithilfe einer Anzeige - 'Schöne Tschechin sucht Mann zum Heiraten' - zettelt sie die Flucht im Kofferraum an und begibt sich auf eine Odyssee, die sie in ihrem unbezwingbaren Freiheitsdrang an deutschen Gartenzwergen vorbei in die Schweiz befördern wird. Ihren Weg pflastern Männer, denen sie auch oft genug zum Opfer fällt. Voller Leidenschaft, flamboyant und unkonventionell schildert die Autorin, wie eine früh emanzipierte Kämpferin schließlich als Mensch und Künstlerin ankommt, im Leben und bei sich selbst.

Die Malerin, Fotografin und Autorin Eli?ka Bartek, geboren 1950 in Nový Ji?ín, wuchs in Prag auf und hat als junge Frau den Einmarsch der sowjetischen Truppen in ihre Heimatstadt miterlebt. Nach ihrer unter dramatischen Umständen geglückten Flucht in den Westen im Jahr 1972 erwarb sie 1975 die Schweizer Staatsbürgerschaft. Von 1979 bis 1983 besuchte sie die Zürcher Hochschule der Künste. 1996 wurde sie als Stipendiatin des österreichischen Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur Mitglied im Künstlerhaus Wien und erhielt das Diplom der Masaryk Academy of Art, Prag. Für ihre künstlerische Arbeiten erfährt sie internationale Anerkennung. Seit 1997 lebt und arbeitet Eli?ka Bartek im Tessin und in Berlin. »Und vor mir ein ganzes Leben« ist ihr erster Roman.

Als ich sterben wollte


Ich war achtzehn Jahre alt und schon so gut wie tot. Es gefiel mir nicht mehr in dieser Welt, vor allem nervten mich meine Eltern. So entschied ich mich ganz einfach zu sterben. Ich hatte mein kleines Zimmer, die Türen waren aus Glas, aber nicht ganz aus Glas, in der Mitte war ein Brett. Man sah nicht durch, weil das Glas leicht gesprenkelt war. Die Tür führte auf den Gang, und gegenüber waren die Türen zum Wohnzimmer, die genauso gesprenkelt waren wie meine. Da leuchtete ein blaues Licht durch, denn meine Eltern hatten den Fernseher an. Es war nur blau, es gab noch keinen Farbfernseher, deswegen das blaue, kalte Licht.

Ich war sehr hübsch. Eine kleine Lolita, mit schwarzen Haaren und einem Pony. Alle fragten mich, ob ich französische Vorfahren habe. Die Augen fast wie ein Reh, aber eher ein verschlafenes Reh, oder ein angeschossenes. Der junge Busen mit seinen geilen Brustwarzen stach durch den Pullover durch. Ich war klein, ich sagte immer, kleiner Körper und großer Geist. Ich war nicht blöd, eher begabt und verrückt. Hatte Träume, Schauspielerin zu sein, Künstlerin, etwas Großes zu schaffen, wusste jedoch noch nicht, was. Ich hatte schöne Hände mit langen Fingern, die Augenbrauen schön geschwungen wie Gipfeli. Meine Nase war eher zu groß als zu klein. Die kleinen Stupsnasen, dachte ich, bedeuteten eher Dummheit als eine charaktervolle große Nase, nein, zu groß war sie nicht, aber bestimmend für mein Gesicht. Gewissermaßen hingen Augen, Mund, Stirn und das Kinn mit dem kleinen Grübchen an der Nase dran. Ich dachte, wenn ich die Nase nicht hätte, würde alles auseinanderfallen. Ich hatte breite Lippen, schön geschwungen nach meinem Vater. In der Schule nannten sie mich manchmal Negerlein. Meine Zähne waren weiß und strahlend wie Schneeflocken, so dass mir die Leute sagten, ich sollte Reklame für Zahnpasta machen. In der Mitte der Zähne hatte ich eine kleine Lücke, oder einen Spalt, man sagt, das hätten nur glückliche Leute. Obwohl ich jetzt gar nicht glücklich war. Wollte unbedingt sterben.

Also legte ich mich auf den Diwan. Es waren die Sechzigerjahre, er war rot bezogen, rundherum Holz, und wenn ich schlafen ging, konnte ich den rausziehen. Auf dem Holztisch hinter meinem Kopf stand das Radio, damals noch mit Knöpfen, die man drehen konnte, aus ihm dröhnte stramm sozialistische Musik, die meistens die Arbeit besang. Und irgendwelche Tabletten auf dem Tisch mit Wasser. Tja, also ich gehe …

Ich schluckte alle Tabletten, die ich gefunden hatte, kreuz und quer, und bereitete mich auf das Sterben vor. Ich hatte mich sogar schön angezogen, hatte einen sauberen Büstenhalter und saubere Unterwäsche an. Wenn sie mich dann ausziehen nach dem Tod, sollen sie nicht denken, ich wäre eine Schlampe gewesen. Man musste immer schön sauber sein, denn man wusste ja nicht, wann man stirbt, ich jedoch wusste es …. jetzt. Ich lag da, sozialistische Musik begleitete meinen Sterbegang. Es passierte lange nichts, ich wartete und wartete … doch endlich, jetzt – wurde mir schwindlig und schlecht, aber ganz schwindlig und ganz schlecht … und noch schwindliger und noch schlechter …

Und dann kam mir der Gedanke, dass ich doch leben wollte. Denn sterben konnte man immer noch. Doch, ich wollte leben. Ich konnte alles machen, was ich wollte. Wenn man einmal am Sterben war, begriff man, dass man frei war und niemandem Rechenschaft schuldete. Denn ob man es richtig machte oder nicht, der Tod war einem gewiss. Obwohl ich zwischen Richtig und Falsch nicht unterscheiden konnte.

Jedenfalls schlich ich auf allen vieren über den Spannteppich. Mit Mühe konnte ich die Klinke erreichen und die Türe öffnen, wusste nicht, ob ich schon in den Gang kotzen musste oder erst später. Mutter würde fluchen, dass sie das Erbrochene putzen muss, so schluckte ich tapfer den sauren Magensaft-Cocktail herunter, schlug mit der Faust gegen die Wohnzimmertüre, hatte keine Kraft mehr, zur Klinke zu greifen … dann … war ich schon tot? Wahrscheinlich. So schlimm war es gar nicht. Von ferne hörte ich meine Mutter schreien, den Vater telefonieren, dann kamen Männer mit einer Bahre oder Liege, banden mich darauf und trugen mich die Treppe hinunter. Gott sei Dank wohnten wir im ersten Stock, der auch der letzte war, denn die Häuser waren für die Privilegierten gebaut. Mein Vater war im Haus der höchste Funktionär, Technischer Direktor der Tschechoslowakischen Automobilwerke, der zweithöchste in der Republik, deswegen auch der Neid der Nachbarn. Die betrachteten mich auf der Liege mit Schadenfreude – was hatte mein Vater da erzogen, was für ein Ungeheuer!

Ich war zwar festgebunden, hatte aber Angst, ich könnte herunterfallen und mir was brechen. Unten stand schon ein Notfallwagen, der mich hupend durch die Prager Straßen fuhr. Noch benommen schaute ich mich von oben an, wie von einer Zuschauerloge aus, wie ich hier so benommen lag. Es war wie ein Traum. Ich fuhr durch die Altstadt, durch die kleinen Gassen oder Straßen … Es fing langsam an zu schneien und die Schneeflocken tanzten um die Fenster des Sanitätsautos herum. Einige klebten an der Scheibe, als ob sie sehen wollten, was für eine Idiotin da drinnen lag. Die Gaslaternen mit ihrem schwachen warmen Licht bogen sich zu dem Wagen herab. Oben auf dem Berg leuchtete ganz schwach die Prager Burg. Ich war in fast weihevoller Stimmung, obwohl uns der Sozialismus diese Art von Feierlichkeit eigentlich ausgetrieben hatte. Ich glaube heute zu wissen, dass das Sterben auch etwas Feierliches hat. Eine Befreiung. Etwas Großes.

Das Auto hüpfte auf den uralten Pflastersteinen, rechts war eine gelbe Mauer mit vielen Rissen, als wenn dort unterm Fundament tausende Maulwürfe rumgebohrt hätten. Oben mit roten Dachtaschen bedeckt. Links Häuser ohne Licht. Es waren Regierungsgebäude. Ich wusste nicht, wie spät es war, als ich starb, aber so eine Stimmung hatte ich nie mehr in meinem Leben. Wenn die blöde Sirene des Krankenwagens nicht gewesen wäre, würde ich denken, ich führe in den Himmel.

Nun öffnete sich das Tor, leider nicht in den Himmel, sondern in die Notfallstation. Samt Bahre trugen sie mich in einen großen Raum, in dem mehrere Betten waren, nur durch einen Plastikvorhang getrennt. Ich hörte es von allen Seiten kotzen und husten. Irgendwie erinnerte es mich an den Zoogarten, wenn die Tiere rülpsten, pupsten und schmatzten. Als Erstes wurde mir mein Magen ausgepumpt. Wie genau, kann ich mich nicht mehr erinnern, denn ich bekam eine Spritze. Ich wusste nicht, wie man den Magen auspumpt. Vielleicht wie bei einer Sickergrube die Exkremente. Nach vielen Stunden, die ich nicht zählen konnte, wachte ich auf. Der junge Mann neben mir war auch schon ausgepumpt. Ich hörte ihn leise mit dem Arzt sprechen. Zu mir kam auch eine Ärztin, und ich musste ihr den Grund meines Selbstmordversuchs erzählen. Was ich da gesagt habe, daran kann ich mich auch nicht mehr erinnern. Auf jeden Fall war es die Notaufnahme für Selbstmörder. Leider gibt es die dort nicht mehr. Ansonsten hätte ich sie später besucht, wie meine Geburtsstadt oder meinen Geburtsort. Ich habe so schöne Erinnerungen daran!

Ja, und danach fing die schöne Zeit in der Psychiatrie an. Bohnice heißt die in Prag. Alte Gebäude in einem riesigen Park. Im Sozialismus wurden dort schwererziehbare Kinder reingesteckt, die einen Selbstmordversuch begangen hatten. Es gab einen großen Saal und rundherum einige Eingänge in Privatzimmer. Ich hatte eines davon. Neben mir wohnte ein ungefähr 17-jähriges Mädchen. Ich kann mich erinnern, dass sie sehr groß war. Sehr schön. Hatte lange blonde Haare, lange Beine, alles an ihr war lang. Die einzige Abweichung von der Länge war ihr dicker Bauch, denn sie war schwanger, fast schon im neunten Monat. Und ihre verquollenen Brüste, an die sie mich drückte, wenn sie heulte. Ich erstickte fast dran. Sie wollte das Kind nicht, so probierte sie einen Selbstmord. Warum hast du nicht abgetrieben? Sie wusste nicht, dass sie schwanger war, und kaum wusste sie es, war es zu spät.

In der Tschechoslowakei war Abtreibung ganz einfach. Es gab keine Pille. Man wurde schwanger, wie man bei uns sagte, wenn dem Mann die Füße abrutschten. Das hieß, bevor er ejakulierte, musste er raus sein. Aber es gelang eben nicht jedem. Dann sagte man vor einer Jury, man wolle studieren, man wolle kein Kind, und es wurde einem sauber und in einem Spital geholfen.

Dann freundete ich mich noch mit einem Verrückten an, der Reinigungsmittel inhaliert hatte. Eigentlich reinigt das verschiedene Flecken. Mit so einer Tüte an der Nase konnte man sich aber auch ganz schön betäuben. Er starb fast, so viel hatte er geschnüffelt. Eigentlich verliebte ich mich in ihn, so wurde mir wenigstens nicht langweilig. Wir wurden jedoch kontrolliert, also außer ein paar Küssen lief da nichts.

Die Zeit verging schnell wie in den Ferien. Weg von meinen strengen Eltern. Nach dem Frühstück gingen wir in das Atelier. Es war das erste Atelier in meinem Leben. Unser Professor oder Erzieher sagte mir immer: Eliška, du musst Künstlerin werden, du bist so...

Erscheint lt. Verlag 13.6.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-86337-220-4 / 3863372204
ISBN-13 978-3-86337-220-0 / 9783863372200
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