Kapellenhügelpark -  Michele Pirlo

Kapellenhügelpark (eBook)

eBook Download: EPUB
2024 | 3. Auflage
282 Seiten
epubli (Verlag)
978-3-7598-2563-6 (ISBN)
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Er hatte viele Macken. Paranoia gehörte allerdings nicht dazu. Dennoch fühlte er sich beobachtet, und das ausgerechnet von einer jungen Frau! Das störte ihn enorm, weil er seine letzten Monate in aller Ruhe verbringen wollte, ohne Aufregung und ohne Hoffnung. Selbstverständlich könnte er einfach wieder verschwinden, aber dazu gefiel es ihm hier zu gut - auf dieser einsamen Sitzbank im Kapellenhügelpark.

Michele Pirlo lebt und schreibt im deutschsprachigen Raum.

  1. 1

E

r hasste Beerdigungen. Das war sicher nicht ungewöhnlich. Beerdigungen erfreuten sich im Allgemeinen bei den Menschen nicht gerade großer Beliebtheit, außer bei den üblichen, meist älteren Tratschbasen, die bei jeder Gelegenheit auf Begräbnisse gingen und sich über die Anwesenden – egal ob lebendig oder tot – das Maul zerrissen und sich freuten, dass sie die Toten überlebt hatten. Bei vielen Beerdigungen – nicht bei dieser – gab es auch potentielle Erben, die leichenbittere Miene zum für sie erfreulichen Spiel machten, aber für die Mehrzahl der Menschen waren Beerdigungen ein äußerst trauriges und manchmal auch niederschmetterndes Ereignis, und einige von diesen Menschen hassten sicherlich auch Beerdigungen. Vielleicht nicht im selben Maße wie er, denn er hasste Beerdigungen auf besondere, auf komplexe und ganzheitliche Weise. Er hasste alles daran: die Förmlichkeit der Veranstaltung, die hohlen Phrasen des Pfarrers, Anwesende, mit denen man nichts zu tun haben wollte und deren Blicke permanent auf die engsten Familienmitglieder der Toten gerichtet waren, das Öffentliche der Gefühle, die besser im Privaten aufgehoben wären und vor allem den Umstand, dass die ganze Sinnlosigkeit des Daseins noch intensiver bewusst gemacht wurde, denn es gab keine Hoffnung auf ein Happy End, es endete immer schlecht, nämlich mit dem Tod, und die Zeit davor war meist von Krankheit, Gebrechlichkeit, Leiden, Angst und manchmal auch von Demenz geprägt, bei der im Verstand fast nichts mehr übrig blieb außer Schmerzen und Qualen, die die betroffenen Menschen trotz der geistigen Leere noch empfanden. Ein ganz mieser Trick der Natur.

Und er hasste Beerdigungen, weil man zum Anlass passende, formelle und völlig unbequeme Kleidung tragen musste, in der er sich noch unwohler fühlte als ohnehin schon. Er konnte es nicht erwarten diese Klamotten in irgendeinen Sammelcontainer zu werfen. Vielleicht würde es jemanden freuen, kaum getragene Kleidung des mittleren Preissegments als Spende zu erhalten.

Es war nur ein kleines Begräbnis in einem kleinen Ort, mit nur wenigen Trauergästen, aber für ihn war diese Veranstaltung besonders schlimm, weil es der Abschied eines von ihm geliebten Menschen war. Ein geliebter Mensch, obwohl die Beziehung schwierig und anstrengend gewesen war, aber das war jede Beziehung für ihn und mit ihm, auch und gerade wenn es, wie in diesem Fall, um seine nächsten Verwandten ging. Zum großen Teil waren die oft unharmonischen Beziehungen seine Schuld, nicht absichtlich natürlich, sondern weil er so war, wie er eben war. Er hatte es sich weiß Gott nicht ausgesucht.

Wenigstens würde das hier die letzte Bestattung sein, an der er aktiv teilnehmen würde, da er nun keine engen Verwandten oder gute Freunde mehr hatte. Was eine passive Teilnahme anging, so hatte er keine Vorkehrungen getroffen, es war ihm mehr oder minder egal. Alle Arten von Bestattungen waren ihm unsympathisch; See- und Feuerbestattungen am meisten, die Alternativen waren auch nicht viel besser. Sich einfach in Luft auflösen, ohne Spuren zu hinterlassen, das würde ihm gefallen. Noch besser: überhaupt nie da gewesen zu sein! Aber er würde es sowieso nicht mitbekommen und deshalb verschwendete er keine allzu großen Gedanken daran.

Die letzte Beerdigung, an der er teilnehmen würde. Er hatte niemanden mehr um den er sich kümmern musste, für den er da sein musste und wollte; er war frei von Verantwortung und Verpflichtungen. Das gab ihm die Gelegenheit, endlich diesen Ort, diese Gegend und alles, was damit zusammenhing, zu verlassen und nie mehr wiederzukehren. Nicht, dass er große Pläne oder Ziele hatte, und er konnte auch kein neues Leben anfangen, aber zumindest eine räumliche Distanz herstellen und vielleicht, nur vielleicht, würde sich auch eine gewisse geistige Distanz, etwas Ruhe im Kopf einstellen. Das alles hinter sich lassen, ein paar Angelegenheiten ordnen und dann ein Fleckchen Erde finden, wo er seine innere Mitte finden und noch ein paar halbwegs erträgliche Tage verbringen konnte – nur das wollte er noch.

 

***

 

Es gab eigentlich für alles immer einen Grund, und der Grund warum dieser Platz weder als Sehenswürdigkeit im Stadtplan gekennzeichnet war, noch von einem ihrer Bekannten als besichtigenswert erwähnt wurde, war vermutlich, dass es hier nichts zu sehen oder zu besichtigen gab. Von hier oben konnte man zwar weit über die Mittelgebirgslandschaft schauen, aber das gab es anderswo auch. Die Gegend bestand ja fast nur aus Bergen und Hügeln. War diese Anhöhe ein Berg oder ein Hügel, und wo genau verlief die Grenze zwischen den beiden Begriffen? Für sie war es ein Berg, aber für sie war eigentlich alles ein Berg, was höher war als eine große Sanddüne. Die Parkanlage war wohl gedacht als ein Ort zum Verweilen, zum Innehalten, denn es gab Sitzbänke und ein Gebäude, in dem sich offensichtlich Toiletten und ein kleiner Verkaufsstand befanden, aber alles sah eher schäbig und vernachlässigt aus. Das galt auch für den Imbisswagen, der auf dem Parkplatz stand und ebenfalls nicht sonderlich verlockend aussah. Es befanden sich auch nur eine überschaubare Anzahl von Menschen im Park, aus welchem Grund auch immer sie überhaupt hier waren, und ja, auch sie sahen eher vernachlässigt aus.

Wirklich kein schöner Ort, aber sie war erst seit wenigen Wochen in dieser Stadt und es machte ihr Spaß, zu Fuß die Gegend zu erkunden, Neues zu entdecken und Plätze und Stellen zu finden, die dazu einluden, entspannende Stunden im Freien zu verbringen. Dieser Park gehörte eher nicht dazu und es war anstrengend, hier hochzulaufen, was ihr jedoch nichts ausmachte, denn sie war jung, gesund und fit, und das Hinaufsteigen auf diesen Berg hatte sie kaum außer Atem gebracht. Gutes Kardio-Training, dachte sie, und wenn die Wege hier hinauf in einem besseren Zustand wären, könnte sie das durchaus in ihre Joggingstrecke einbinden. Aber so? Nein, lieber nicht.

Da es anscheinend auch sonst hier oben nichts Interessantes gab, würde sie innerlich den Berg als "besichtigt und nicht weiter wichtig" kennzeichnen und sich auf die Suche nach schöneren Plätzen machen, an denen sie entspannen und ein wenig Sonnenlicht einfangen konnte. Und an denen sie nicht belästigt wurde, das war ihr ganz besonders wichtig.

 

***

Er übergab dem Vermieter sämtliche Wohnungsschlüssel, kassierte die Kaution ein – abzüglich der außerordentlichen Renovierungskosten – stieg in sein Auto und fuhr los. Für ein paar hundert Euro hatte er einen kleinen Anhänger erworben, in dem er sein Fahrrad und diverse andere Sachen, die nicht mehr in sein Auto gepasst hatten, transportieren konnte. Er war nie gut im Packen gewesen und er hatte immer noch zu viel Kram für jemanden, der eigentlich mit allem abgeschlossen hatte. Das war die übliche Schizophrenie, die ihn sein ganzes Leben begleitete, gepaart mit der Unfähigkeit, sich von Dingen zu trennen. Richtig zu trennen, endgültig, auch von Erinnerungen. Er hatte das noch nie gekonnt.

Ein klares Ziel hatte er nicht, nur Himmelsrichtungen, in die er fahren wollte: Ein wenig nach Westen und ein wenig nach Norden, also irgendwie nordwestlich; in Gegenden, die er nicht kannte und die nicht mit schlechten Erinnerungen oder Assoziationen verbunden waren. Er suchte einfach einen relativ ruhigen Ort, eine mittelgroße Kleinstadt oder eine kleine Mittelstadt ohne große Aufregungen, in der aber das Notwendigste problemlos zu bekommen war. Dazu gehörten vor allem Tabletten; und zwar von der Sorte, die nicht jeder Arzt verschrieb, was ein Problem war, aber er hatte sich im Netz eingehend informiert und eine umfängliche Liste von Ärzten erstellt, die weniger Zicken als andere machten und den Gemeinden und Städten, in denen sie ihre Praxis hatten. Durch zwei der gelisteten Orte war er gleich durchgefahren. Der eine war zu klein und provinziell, um dort nicht aufzufallen, der andere zu sauber, zu schön und vermutlich viel zu teuer, als dass er eine Wohnung finden könnte, die in seinem veranschlagten Budget lag.

Doch schon am nächsten Morgen war er in dieser Stadt hier gelandet, einer mittelgroßen Kleinstadt, die von der Struktur her wie eine verkleinerte Großstadt wirkte. Es gab gute Viertel, schlechtere Viertel, eine schöne Altstadt, ziemlich viel Natur und sie lag verkehrsgünstig an einer Bundesstraße und in der Nähe der Autobahn. Die Grundvoraussetzungen waren also gegeben, jetzt galt es den Arzt auszutesten, den er auf seiner Liste hatte. Er täuschte eine Notsituation vor und wurde nach nur kurzer Wartezeit aufgerufen. Die Hinweise und Kommentare im Netz bestätigten sich rasch: Es war nicht nur ein kompetenter Arzt, sondern auch ein einfühlsamer und mitfühlender, der zuhörte und keine voreiligen Schlüsse zog, sondern auf die individuellen Bedürfnisse der Patienten einging. Der Mediziner erklärte sich bereit, als sein neuer Hausarzt zu fungieren und ihm die benötigten Schlaftabletten zu verschreiben. Alle anderen Tabletten selbstverständlich auch, was ihm allerdings nicht so wichtig war, denn davon hatte er noch einen stattlichen Vorrat, da er des Öfteren vergaß, sie einzunehmen oder sie auch absichtlich nicht schluckte. Entscheidend waren die Schlaftabletten, denn ohne die konnte er überhaupt nicht leben, nicht einmal für ein paar Wochen.

Das Wichtigste erledigt, suchte er ein äußerlich wenig einladendes Restaurant auf, in dem er eine Kleinigkeit aß und sich nach geeigneten Wohngegenden erkundigte. Die Wohnungssuche würde jedoch bis morgen warten müssen, denn er war erschöpft und musste schnellstens eine Pension oder ein billiges Hotel finden, in dem er ein paar Tage verbringen und Kräfte sammeln konnte. Zum Glück kannte der Wirt dieser...

Erscheint lt. Verlag 9.6.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-7598-2563-X / 375982563X
ISBN-13 978-3-7598-2563-6 / 9783759825636
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