Sündenlos -  Dean Koontz

Sündenlos (eBook)

Thriller

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
464 Seiten
Festa Verlag
978-3-98676-145-5 (ISBN)
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Addison lebt in den Tunneln unter der Stadt, weil die Leute bei seinem Anblick durchdrehen. Wenn du ihn ansiehst, verlierst du die Kontrolle und du willst ihn töten, vernichten. Gwyneth ist schön, aber sie kann es nicht ertragen, dass jemand sie berührt. Beide streifen nur im Schutz der Nacht durch die Stadt, und so kreuzen sich ihre Wege ... Reiner Zufall? Nein, etwas viel Mächtigeres bringt sie zusammen. Doch weshalb? Zusätzlich in dieser Ausgabe ist die Vorgeschichte von Addison enthalten, die schildert, wie ihn seine Mutter abwies, weil er als Freak geboren wurde. Kirkus Reviews: » Koontz' Vorstellungskraft hat diesmal etwas ganz Besonderes geschaffen.« New York Journal of Books: »Die Kombination aus Mystery, übernatürlichem Horror und Romantik macht diesen Roman zu einem beispiellosen Erlebnis.« RT Book Reviews: »Vielleicht der unheimlichste und ungewöhnlichste Roman des großen Erzählers. Eine überraschende, erschreckende und spannende Geschichte, die der Leser so schnell nicht vergessen wird.«

Dean Ray Koontz wurde im Juli 1945 in Pennsylvania geboren. Er verkaufte weit über 500 Millionen Bücher, die in 38 Sprachen übersetzt wurden. Dean Koontz ist einer der erfolgreichsten Autoren der Welt. Er lebt mit seiner Frau Gerda in Südkalifornien. The Times: »Dean Koontz ist nicht nur der Experte für unsere dunkelsten Träume, sondern auch ein literarischer Künstler.«

1

Mutter behauptete, sie könne in jedem Spiegel, den ich benutzt hatte, mein Gesicht statt ihres eigenen sehen, mein Gesicht und meine einzigartigen Augen, und den Spiegel danach nicht mehr in ihrem Haus dulden. Sie zerschlug ihn und kehrte die Splitter auf, ohne einen Blick auf sie zu wagen, weil irgendwie auf jedem – so sagte sie – mein ganzes Gesicht abgebildet war, nicht nur ein Teil davon. Sie konnte es kaum ertragen mich auch nur gelegentlich anzusehen und sah meistens an mir vorbei oder betrachtete etwas ganz anderes, wenn wir miteinander sprachen. Als sie nun mein Gesicht auf einer Vielzahl von mit Silber beschichteten gezackten Glasscherben sah, rastete sie beinahe aus.

Obwohl Mutter trank und manchmal auch Drogen nahm, glaube ich, dass sie die Wahrheit sagte, was Spiegel betraf. Sie belog mich nie und liebte mich auf ihre verquere Art. Wegen ihrer Schönheit, sagte ich mir, müsse sie mehr als andere Frauen darunter leiden, dass sie jemanden mit meinem Aussehen zur Welt gebracht hatte.

Von weiten Wäldern umgeben lebten wir in einem behaglichen Haus am Ende einer langen unbefestigten Zufahrt, Meilen von den nächsten Nachbarn entfernt. Auf irgendeine Weise, über die sie nie sprach, war sie zu allem Geld gekommen, das sie ihr Leben lang brauchen würde, dabei hatte sie sich jedoch auch Feinde gemacht, die sie aufgespürt hätten, wenn sie an einem weniger abgelegenen Ort Zuflucht gesucht hätte.

Vater war ein Romantiker gewesen, der seine Vorstellung von Liebe mehr liebte als sie. Ruhelos und davon überzeugt, das ersehnte Ideal anderswo finden zu können, hatte er uns vor meiner Geburt verlassen. Mutter nannte mich Addison, und ich trage ihren Familiennamen Goodheart.

In der Nacht meiner Geburt, der schwere Wehen vorangingen, holte eine Hebamme namens Adelaide mich in Mutters Schlafzimmer auf die Welt. Sie war eine gottesfürchtige brave Frau vom Lande, aber bei meinem Anblick hätte sie mich erstickt oder mir das Genick gebrochen, wenn es Mutter nicht gelungen wäre, ihre Pistole aus der Nachttischschublade zu holen. Vielleicht aus Furcht vor einer Anzeige wegen versuchten Mordes oder weil Angst sie dazu motivierte, dieses Haus um jeden Preis zu verlassen, versprach die Hebamme hoch und heilig, niemals von mir zu sprechen und nie wieder zurückzukommen. Was die Welt betraf, war ich eine Totgeburt gewesen.

Ich konnte nur den Spiegel in meinem kleinen Zimmer benutzen: einen Ganzkörperspiegel auf der Innenseite meiner Kleiderschranktür. Manchmal stand ich davor, um mich selbst zu begutachten, im Lauf der Jahre allerdings weniger oft. Ich konnte mein Aussehen nicht ändern oder auch nur andeutungsweise begreifen, wer ich sein könnte, und die mit Selbstbetrachtung vertane Zeit brachte mir nichts.

Als ich älter wurde, fand Mutter es zunehmend schwieriger, meine Anwesenheit zu ertragen, und ich durfte oft tagelang nicht ins Haus kommen. Sie war eine Frau mit schlimmen Erfahrungen, ebenso taff wie schön, und bis ich aufkreuzte, war sie so furchtlos gewesen, wie man nur sein konnte, ohne töricht oder leichtsinnig zu sein. Sie verabscheute ihre Unfähigkeit, sich ganz mit meiner Gegenwart abzufinden, und dass es ihr nicht gelang, die Beklemmung zu verbergen, die sie nur mildern konnte, indem sie mich gelegentlich aus dem Haus verbannte.

Kurz nach Sonnenaufgang an einem Oktobertag, ein paar Wochen nach meinem achten Geburtstag, sagte sie: »Dies ist so unrecht, Addison, und ich verabscheue mich dafür, aber du musst aus dem Haus, sonst weiß ich nicht, was ich tue. Vielleicht nur für einen Tag, vielleicht für zwei, ich weiß es nicht, ich hänge die Fahne auf, wenn du wieder ins Haus kommen darfst. Aber im Augenblick will ich dich nicht in meiner Nähe haben!«

Als Fahne benutzte sie ein Geschirrtuch, das sie an einen Haken an einem Pfosten der Veranda hängte. Wurde ich aus dem Haus verbannt, kontrollierte ich jeden Morgen und nochmals am Spätnachmittag, ob die Flagge aufgehängt war, und war jedes Mal entzückt, wenn sie dort hing. Zumindest für mich war Einsamkeit eine schlimme Härte, auch wenn sie die Grundvoraussetzung meiner Existenz war.

Hatte ich Hausverbot – das auch für die Veranda galt –, schlief ich im Garten, wenn das Wetter warm war. Im Winter schlief ich in der baufälligen Garage auf dem Rücksitz ihres Ford Explorer oder in einem bequemen Schlafsack auf dem Betonboden. Sie stellte mir jeden Tag einen Picknickkorb mit Essen hin, sodass mir nichts fehlte außer dem, was am meisten zählt – Gesellschaft.

Bis zu meinem achten Geburtstag war ich so häufig durch den Wald gestreift, dass er ebenso mein Heim war wie das Haus. Nichts im grünen Dom von Mutter Natur fürchtete mich oder erschrak auch nur vor meinem Anblick. Weil ich mich nicht an die Hebamme erinnern konnte, hatte ich außer Mutter nie einen Menschen gesehen, und sie hatte mir eingeschärft, eine solche Begegnung werde bestimmt mit meinem Tod enden. Aber was sich mit Flügeln oder auf vier Beinen fortbewegte, verurteilte mich nicht. Außerdem war ich für mein Alter beachtlich stark und schnell und besaß jederzeit einen intuitiven Sinn dafür, wo ich im Wald war und wie ich mich dort am besten bewegen konnte. Ich trug Trekkingstiefel und Jeans und ein Flanellhemd; in einer Tasche hatte ich ein Schweizer Armeemesser mit zahlreichen Werkzeugen. Ich war acht, aber in mancher Beziehung älter als ein Achtjähriger, ein Junge, aber doch kein Junge wie jeder andere.

Die schönsten Werke der Menschen, die ich in Fotobänden gesehen hatte, waren nicht so bezaubernd wie mein gemischter Laubwald – Eichen und Ahorne, Birken und Wildkirschen. Und es gab Erlen, den bescheidenen Baum, den selbst erfahrene Waldläufer oft nicht wahrnehmen und der so haltbar ist, dass die halbe Stadt Venedig noch heute auf Erlenpfählen steht, die dem unaufhörlichen Ansturm des Meeres jahrhundertelang widerstanden haben. Wilde Akazien, die im Sommer rot blühen. Waldlilien mit ihren riesigen weißen Blütenblättern. Und all die eleganten Farne, Lanzenschildfarn und Farnspargel, und zierlich ausgestanztes Ptilidium pulcherrimum und Straußenfarn mit seinen Wedeln wie Federbälle. Weil Mutter als Naturliebhaberin eine Bibliothek von Nachschlagewerken hatte, wusste ich die Namen aller Dinge. Ich liebte den Wald, und als ich an jenem Tag Anfang Oktober aus dem Haus verbannt wurde, flüchtete ich in die Wildnis, die in jenem Jahr in bunten Herbstfarben leuchtete.

Über eine Meile vom Haus entfernt erreichte ich einen meiner Lieblingsplätze, eine vom Wetter in Jahrtausenden gestaltete Kalksteinformation, deren sanft fließende Formen aussahen, als schmelze sie dahin. Die Formation mit etwa zwölf Metern Durchmesser wies hier und dort röhrenförmige Schlunde auf, die mit Hohlräumen in ihrem Inneren – von denen einige durch Öffnungen am Fuß der Felsmasse zugänglich waren – in Verbindung standen. Wehte der Wind stark genug aus Norden, nutzte er den Kalkfelsen als natürliches Instrument, dem er die wehmütigsten Töne entlockte.

Ich saß auf dem höchsten Punkt, gut zwei Meter über dem Waldboden, und genoss die Sonne, die in warmen goldenen Strahlen durch die überhängenden Bäume fiel. Der prangende Wald war mit so vielen Vogelstimmen angefüllt wie Farben, vor allem Winterammern und Pirole, aber die Zipfelfalter, die mich mit ihren blauen Flügeln begeistert hatten, waren wie der Sommer verschwunden. Ich trauerte dem Sommer nach, den der Herbst vor Kurzem abgelöst hatte, denn bald würde der Wald weniger einladend sein, und viele Tiere würden weniger aktiv sein oder nach Süden ziehen … oder sterben.

Als der Wolf erschien, war ich nicht überrascht, denn ich hatte schon früher einige gesehen, die sich so lautlos zwischen den Bäumen bewegten, als wären sie die Geister längst toter Wölfe. Seit Jahren waren die Wölfe in diesen Bergen von Leuten ausgerottet worden, die sie falsch verstanden und irrtümlich für eine Gefahr für Menschen hielten. Aber jetzt kehrten sie zurück, ebenso scheu wie prachtvoll.

Wölfe suchen selten Blickkontakt, denn als stark sozial geprägte Tiere wissen sie, dass ein Anstarren herausfordernd sein kann. Ihre Neigung, andere Lebewesen indirekt zu beobachten, ist fälschlich als listige Verschlagenheit gedeutet worden. Dieser, ein großes Männchen, tauchte aus einer Masse elegant gewölbter Farnwedel auf, fast als ob er inmitten grüner Schals, die ein Zauberer ausgebreitet hatte, Gestalt annehme. Er stand vor der Felsformation, auf der ich saß, starrte zu mir herauf und stellte kurz Blickkontakt her, bevor er demütig zu Boden sah.

Wir hatten keine Angst voreinander. Und wie ich in den folgenden Jahren erfahren sollte, würde ich in Gegenwart von Menschen weit gefährdeter sein als allein mit einem Wolf im Wald.

Ich stand auf und blickte auf ihn hinab. Er sah mich noch einmal direkt an, dann wieder weg. Weil ich niemanden hatte, mit dem ich hätte reden können, sprach ich ihn an. Und warum auch nicht? Das am wenigsten Seltsame an mir war vielleicht, dass ich mit Tieren sprach, wenn ich keine menschliche Gesellschaft hatte. »Was willst du?«

Er umkreiste die Felsformation, schnüffelte in die Luft, stellte die Lauscher auf und starrte in den Wald. Als er nach Osten sah, sträubte sich plötzlich sein Nackenfell. Er winselte ängstlich, klemmte den Schwanz zwischen die Beine, starrte mich an, winselte nochmals, trabte nach Westen ins Unterholz davon und war fort. Hätte er reden können, hätte er nicht deutlicher ausdrücken können, dass von Osten eine Gefahr nahte. Er schien mich eigens aufgesucht zu haben, nur um mich zu warnen.

Vergleichbares hatte ich noch nie erlebt. Außer dem, was die Natur mir im Mutterleib angetan hatte, außer...

Erscheint lt. Verlag 30.5.2024
Übersetzer Wulf Bergner
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-98676-145-4 / 3986761454
ISBN-13 978-3-98676-145-5 / 9783986761455
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