Leben Lernen Helfen (eBook)
180 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7597-3918-6 (ISBN)
Ballenstedt
Die Kleinstadt am nordöstlichen Rand des Harzes, an der Straße der Romantik, entstand bei einem Kollegienstift (1046) und einem Benediktinerkloster (1123) aus einem Dorf (1297) mit dem Residenzschloss der Fürsten von Anhalt (1525) und den Rechten einer Stadt (1543). Sie entwickelte sich zur Residenzstadt (1765) mit kultureller, politischer, wirtschaftlicher Strahlkraft. Später wurde sie als Alterssitz und Ausflugsziel geschätzt, von der Naziherrschaft auch mit einem Standort der NAPOLA (1936−1945). Jedenfalls lag sie aktuell außerhalb der Zielgebiete des Bombenkrieges.
Von 1943 bis 1945 wohnten wir in Ballenstedt am Stadtrand in der Lindenallee 17 bei der Familie Elze, mit eigenen Möbeln. Hier besuchte ich die Grundschule mit Leistungen, die für Versetzungen reichten. Gegen Ende des Krieges wurden die zugeteilten Nahrungsmittel zunehmend knapper. Wir durften im Garten einige Tomaten pflanzen, düngen und ernten. Wir Kinder sammelten auf nahen Wiesen Löwenzahn, Sauerampfer und Schafgarbe und in Wäldern der Umgebung Bucheckern als Ergänzung oder Ersatz von Mahlzeiten.
In den letzten Wochen des Krieges fielen Schulstunden aus. Wir Jungen spielten in abgestellten Automobilen. In den letzten Tagen geriet meine Schwester Ingrid bei einer Besorgung in den Beschuss eines Tieffliegers, blieb körperlich unverletzt, aber seelisch traumatisiert. Ende April 1945 rückten amerikanische Truppen ein. Ein dunkelhäutiger Infanterist war der Bote des Wandels, den ich, »gelbsüchtig« durch Hepatits A, trotz strenger Bettruhe und Verboten hinter der Gardine erspähte.
Mein Vater blieb in Recklinghausen, bei Fliegeralarm in dem für ihn gebauten Kleinstbunker im Garten der Limperstraße 14. Zur Verwaltung der Hibernia in Herne und zu deren Anlagen fuhr er mit dem durch Holzkohlengas angetriebenen Dienstwagen, bei Störungen des Fahrzeugs oder der Verkehrswege mit dem Fahrrad. Zu seinen Aufgaben, den Betrieb der Zechen und Kraftwerke zu leiten und die Versorgung der Menschen des Landes mit Kohle und Strom zu sichern, kamen die Schäden hinzu, die durch meist nächtliche Fliegerangriffe an den technischen Einrichtungen entstanden. Hierbei hatte er zu entscheiden, was kurzfristig auszubessern, was mittelfristig aufzuschieben und was langfristig aufzugeben war. Schlimmste Zerstörungen verursachten deutsche Truppen mit dem Sprengen von Brücken, bei denen Leitungen der Versorgung zerrissen.
Im April 1945 besetzten amerikanische Kampftruppen die Limperstraße 14 in Recklinghausen. Die Offiziere trafen bei meinem Vater auf Kenntnisse ihrer Sprache und ihres Landes, die er auf der Schule und bei seiner Studienreise (1926) erworben hatte. Er durfte zunächst im Haus bleiben und die Vorräte seines Weinkellers loswerden. Hierbei erfuhr er die geplante Aufteilung Deutschlands in drei westliche und eine östliche Zone. Nach dem Abzug der Kampftruppen beanspruchten andere Einheiten das ganze Haus. Mein Vater kam in das benachbarte Haus Elperweg 21. Hier wohnte ein Kollege, der seine Mitgliedschaft in der Nazipartei mit dem Abhängen seiner Uniform im Kleiderschrank meines Vaters »entsorgen« wollte. Allerdings erfolglos, da bei der Durchsuchung des Hauses durch Offiziere der Entnazifizierungsbehörde die Anprobe ergab, dass die »guten Stücke« meinem Vater nicht passten. Schließlich zog er in das Haus Elperweg 23.
Nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945 drängte mein Vater auf die Heimkehr seiner Angehörigen aus Ballenstedt, bevor in das von den Truppen der USA besetzte Sachsen-Anhalt die der UDSSR nachrückten. Am Wochenende Ende Mai/Anfang Juni kam er mit dem Dienstwagen und dem Anhänger mit Holzkohlen zur Lindenallee. Er bat seine Frau, mit den Kindern und dem Nötigsten mitzukommen. Ihre Antwort: »Ohne meine Möbel fahre ich nicht« verfehlte die Zustimmung. So nahm mein Vater erst meine Schwester Ingrid und einige Koffer mit. Eine Woche später, nachdem meine Mutter ihre Möbel andernorts untergebracht hatte, kehrte auch sie mit mir nach Recklinghausen zurück. Tage später rückten die Russen nach. Die Möbel brachte später eine Spedition.
In Recklinghausen besuchte ich die Grundschule mit guten (26x) und befriedigenden Noten (13x). Bei bestandener Aufnahmeprüfung schickte mich mein Vater auf das Gymnasium Petrinum in Recklinghausen. Diese Bildungseinrichtung entstand aus einer Lateinschule (um 1236, erstmals 1421 erwähnt), einer höheren Schule der Franziskaner (1730), einer städtischen Schule (1809), einem Progymnasium (1820) und einem Gymnasium mit Abitur (1829) des Preußischen Staates. Sie entwickelte sich in der Folgezeit zu einer bedeutenden Bildungsstätte der Stadt und ihrer Region. Sie bot humanistische Inhalte u. a. mit Latein und Griechisch als Pflichtfächern.
Für die großen und kleinen Ferien fand mein Vater als Kontrastprogramm zu meiner Leselust Aufenthalte und Arbeiten auf Bauernhöfen. So lernte ich 1946 das Leben auf dem Lande bei den Eheleuten Nolte in Drohne bei Dielingen kennen, nahe dem Heimatort seiner Sekretärin Elfriede Ellermann. In den folgenden Jahren nahm ich als Erntehelfer an dem Schaffen der Eheleute Kückelmann in Scherlebeck bei Herten und der Eheleute Steinhoff bei Witten tatkräftig teil. Die Erfahrungen hierbei erleichterten in späteren Jahren meine Entscheidung, mich für den Erhalt des Gutshofes der Ingolds in Bayern einzusetzen.
Gymnasium Petrinum
Gute Schüler können auch schlechte Menschen, schlechte Schüler auch gute Menschen sein.
Am Gymnasium Petrinum in Recklinghausen lehrten in meiner Schulzeit von 1947 bis 1957 unter den Direktoren Dr. Sprenger (bis 1953) und Hartweg (ab 1954) als Klassenleiter die Herren Dr. Schlotterose (Deutsch), Dr. Marx (Biologie), Trottenberg (Deutsch), Bentfeld (Latein), Buller (Latein) sowie die Herren Dolezich (Kunst), Engelberg (Englisch), Feische (Mathematik), Hoffmann (Erdkunde), Jablonski (Musik), Klages (Griechisch), Raters (Physik), Sandkühler (Deutsch), Schneider (Religion), Ziegenfuß (Deutsch). Jeder von ihnen hinterließ bei Jedem von uns bleibende Eindrücke. Als Lichtgestalt erschien uns besonders der Lehrer Ziegenfuß.
Die Bemühungen der Lehrer ergaben bei mir folgende Benotungen: sehr gut 1x, gut 74x, befriedigend 120x, ausreichend 137x, mangelhaft 18x. Fächer mit guten Noten waren: Sport 10x, Musik und Religion jeweils 9x, Geschichte 6x, Deutsch 5x, Biologie 4x, Erdkunde, Schrift und Zeichnen jeweils 2x. Fächer mit den Noten mangelhaft waren: Mathematik 5x, Latein 2x, Deutsch, Englisch, Erdkunde, Geschichte, Griechisch, Latein, Musik, Physik, Schrift jeweils 1x.
Die dürftigen Ergebnisse erklären sich aus den Beurteilungen meiner Einstellung zu dem Bemühen meiner Lehrer in den Zeugnissen: Führung (und Ordnung): meist gut; aber Beteiligung am Unterricht: befriedigend 6x, unaufmerksam, ungleichmäßig 8x, abgelenkt, albern, störend oder verträumt 11x; häuslicher Fleiß: befriedigend 8x, ausreichend 8x, unbefriedigend, ungleichmäßig oder unzureichend 9x. Was waren die Ursachen? War es eine heftige Pubertät? Oder waren es die Inhalte der Bücher meines Vaters über die Geschichte der Menschen, die ich den Lehrstoffen vorzog?
Angesichts der Defizite meiner Zeugnisse fuhr mein Vater mich Ende 1949 in das Bildungszentrum der Zeche Ewald-König-Ludwig zu einer psycho-technischen Prüfung. Das Ergebnis fasste er am 10.01.1950 so zusammen:
»Ein Mensch mit einer schnellen Auffassungsgabe, ausdauernd logisch denkend, der auch nach 5−6 Stunden ununterbrochener Prüfung noch im Stande ist, wenn er will, eine Arbeit, die hohe Konzentration verlangt, zu erfüllen. Dazu kommt ein ungewöhnliches Verständnis für technische Vorgänge (Bestleistung als 13-Jähriger gegenüber 20- und 30-Jährigen). Es ist nun ganz klar, dass ich ihn vorläufig auf dem Gymnasium lasse und versuche, ihn etwas zu stützen, aber natürlich von ihm selbst außerdem äußersten Fleiß und äußerste Konzentration zu verlangen.«
Diese Ansätze blieben erfolglos. Bei mangelhaften Zensuren in Latein und Mathematik hatte ich am 25.03.1953 das Klassenziel nicht erreicht und durfte ab dem 16.04.1953 die Unterse-kunda wiederholen. Doch anstelle einer Demütigung ereignete sich eine Erneuerung. Ich kam in eine Klasse, deren Schüler mich freundlich aufnahmen und zu Freunden wurden.
Hierzu gehörten: Heinrich Boll (Dr. Ing., Diplomingenieur), Georg Geppert (Diplomtheologe), Karl-Heinz Griese (Rechtsanwalt, Notar), Holger Homann (Dr. phil., Dozent, Buchautor), Karl Jacobi (Prof. Dr. rer. nat., Physiker, Forscher), Walter Klingenhäger (Bauingenieur, Bauassessor, Ltd. Direktor), Ernst von der Loch (Dipl. sc. pol., Dozent), Norbert Loevenich, Rudolf Neymann (Dr. med., Allgemeinarzt), Klaus Peus (Diplomkaufmann, Prokurist), Burkhard Reisige (Vermessungsingenieur, Ltd. Direktor), Klaus-Joachim Schlegel (Diplomkaufmann), Raymund Streitenberger (Diplomingenieur), Wilhelm Tolks-dorf (Offizier, Brigadegeneral), Siegbert Warwitz (Prof. Dr. phil., Dozent, Buchautor), Karl Weber (Lehrer, Studiendirektor), Hans-Wilhelm Wetzel (Dr. med., Gynäkologe), Ansgar Wildermann (Prof. Dr. phil., Dozent, Buchautor)....
Erscheint lt. Verlag | 27.5.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
ISBN-10 | 3-7597-3918-0 / 3759739180 |
ISBN-13 | 978-3-7597-3918-6 / 9783759739186 |
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