Kein Wetter für Dachdecker und kleine Gänschen -  Erdmann Gilbeau

Kein Wetter für Dachdecker und kleine Gänschen (eBook)

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2024 | 1. Auflage
348 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7597-6247-4 (ISBN)
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Erdmann lebt in dem Teil Deutschlands, der sich dem Aufbau des Sozialismus verschrieben hatte. Im Jahr 1983 beendete er seine zehnjährige Polytechnische Schulbildung. Im Alter von sechzehn Jahren begann er, nicht ganz seinen persönlichen Wünschen entsprechend, mit gemischten Gefühlen eine Lehre als Dachdecker. Der Direktor seiner Schule hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Erdmanns berufliche Zukunft sorgfältig zu verbauen. Erdmann, der kein stromlinienförmiger sozialistischer Schüler war, verdiente in seinen Augen keine weitere Bildung oder gar die Chance auf eine akademische Laufbahn in der sozialistischen Gesellschaft. Meister Gebauer und seine Gesellen, die Erdmanns Ausbildung übernommen haben, gehen dabei nicht immer mit Samthandschuhen vor. So wie jedes Dach eine neue Herangehensweise erfordert, so unterschiedlich sind die Gesellen, mit welchen Erdmann es tun bekommt. Glücklicherweise ist Erdmann mit einer großen Portion Humor gesegnet, so dass er dennoch in den meisten Fällen was zu lachen hat.

Unter dem Pseudonym Erdmann Gilbeau schreibt ein ehrenwerter Dachdeckermeister. Er lebt und arbeitet in einer kleinen Stadt in Thüringen.

Fressen


Ein plötzliches lautes Geräusch ließ Erdmann aus dem Tritt geraten. Nur mit Mühe konnte er die Rolle Dachpappe auf der Schulter ausbalancieren. Ein riesiger Truthahn stand am Zaun seines Geheges. Genau da, wo Erdmann in einer Entfernung von kaum einem halben Meter vorbeiging. Der Truthahn reichte Erdmann fast bis zur Brust. Der Kopf knallrot, der Hautlappen, der von seinem Schnabel hing, wurde länger und länger, während er den Kopf schüttelte und dabei aus Leibeskräften schrille, gurgelnde Geräusche von sich gab.

Je weiter sich Erdmann vom Zaun entfernte, desto ruhiger wurde der Truthahn. Selbst der merkwürdige runzlige Hautlappen, der vom Kopf des Truthahns hing, verkürzte sich wieder auf eine anständige Länge. Erdmann lud die Pappe ab und machte sich auf den Rückweg, wobei er wieder am Gehege des Truthahns vorbeikam.

Der hatte Erdmann nicht aus den Augen gelassen und machte erneut seinem Unmut lautstark Luft, je näher Erdmann kam, wobei der Kopf aufs Neue die knallrote Farbe annahm und der Hautlappen sich abermals zusehends verlängerte. Ein Ritual, das sich jedes Mal wiederholte, wenn Erdmann oder einer seiner Kollegen am Zaun vorbeilief.

Nachdem sie sich um das Dach des Hauptgebäudes gekümmert hatten, waren Erdmann und seine Gesellen dabei, einige Dächer im Tierpark zu flicken. Dass die Dachpappe nicht leicht war, hatte Erdmann inzwischen gelernt. Ebenso hatte Jockel ihm gezeigt, wie er die Dachpappe auf die Schulter bekam, ohne, wie es Bernd ausdrückte, über dem Gürtel abzubrechen.

»Ob der Lehrling heute Vormittag was gelernt hat?«, fragte Jockel in Richtung Bernd.

»Ich weiß nicht. Zumindest, warum es heißt, dass du einen ›Zapfen‹ hängen hast, wenn du sauer bist«, meinte Bernd.

»Meinst du? Der Truthahn sieht schon irgendwiekomisch aus, wenn er bockig wird«, fand Jockel.

»Der Krawall, den er macht, weckt Tote auf. Aber wir waren doch beim Stift hängen geblieben und was der …«

»… gelernt hat«, beendete Bernd Jockels Satz. »Wer weiß schon, was in seinem Kopf vor sich geht. Wollten wir nicht heute noch mit dem Bärenkäfig anfangen?« Erdmann wusste nicht, was er von der Unterhaltung seiner Gesellen halten sollte. Auch wusste er nicht, wie er sich daran beteiligen sollte, und entschied sich dafür, den Mund zu halten. Nach einer Woche als Lehrling schien ihm diese Lösung am besten.

»Ja doch! Das wollen wir. Lass uns mal sehen, wie und wo wir am besten angreifen können.« Sie gingen langsam in Richtung Bärenkäfig. Erdmann folgte ihnen mit einigem Abstand. Da er nichts zu tun hatte, versuchte er sich so unauffällig wie möglich zu geben, da die Gesellen sonst nur auf dumme Ideen kamen, wenn sie ihn ohne Beschäftigung wähnten. So viel hatte er schon mal gelernt.

Der Braunbär hatte sein Quartier gleich im Eingangsbereich. Er bekam sein Fressen mithilfe einer Art Schaufel, die der Tierpfleger durch die dafür vorgesehene Öffnung im Gitter schob. Er überließ die Schippe samt Inhalt dem Bären und ging die nächsten Tiere versorgen.

Jockel sah zu, wie der Bär sein Fressen in Empfang nahm. Ruhig und gelassen machte der Bär sich daran, das Futter zu inspizieren, und schließlich begann er zu fressen. Jockel trat hinzu und wackelte an der Schaufel, deren Griff in Kniehöhe aus dem Gehege ragte. Der Bärhörte auf, geräuschvoll zu kauen, und beobachtete das Wackeln seines Futters ohne ein Zeichen von Aufregung. Jockel zog und rüttelte stärker an der Futterschippe. Der Bär hob den Kopf langsam höher und sah den merkwürdigen Bewegungen seiner Mahlzeit zu. Diese Gleichgültigkeit seitens des Bären ließ Jockel sein Tun weiter intensivieren. Er zog die Futterschippe unter weiterem Schlackern und Schütteln ein Stück heraus und schob sie wieder rein und so fort. Durch den ziemlich kurzen Griff der Schippe und die hektische Tätigkeit, in die sich Jockel immer weiter hineinsteigerte, kam es, dass er und der Bär inzwischen nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt waren – nur getrennt durch einige stabile Gitterstäbe. Der Bär begann leise zu brummen. Sein Kopf schwang bedächtig hin und her.

Plötzlich ließ Jockel die Schaufel los und versuchte rückwärts zu springen, wobei er nach hinten umfiel und über den Rasen kullerte. Mit einem letzten Schwung kam er wieder auf die Beine und blieb schwankend mit verdutztem Gesicht stehen.

»Beinahe hätte mich der Bär erwischt!«

Der Bär hatte mit einer seiner Pfoten blitzartig, ohne Vorankündigung, durch das Gitter gegriffen und Jockels Jacke nur um Haaresbreite verpasst. Die nötige Ruhe beim Fressen war damit wiederhergestellt.

Bernd lachte herzhaft. »Das hast du davon, wenn du den Bären ärgerst«, prustete er außer Atem. »Wie hätte der Alte das deiner Mutter erklären sollen? Den Arm von einem Bären abgebissen!«

Jockel pumpte noch wie ein Maikäfer und versuchte sich über die Situation klar zu werden.

»Der Alte! Er würde überall rumfahren und allen erzählen, was los war. Als Erstes würde er zu Karlo fahren: ›Hrrm! Hrrm! Stell dir vor, Karlo. Den Kettler hat der Bär zum Frühstück gefressen!‹« Bernd lachte immer noch.

»Das kann ich mir vorstellen. Da haste mal eine kleine Rauferei mit einem Bären, schon wirst du für tot erklärt. Schöne Kollegen!«, war Jockel ein wenig säuerlich.

»Ach so, ’ne kleine Rauferei! Dafür bist du aber sehr weit weg gehopst. Sah wie Angsthase auf der Flucht aus.«

»Ach was! ’ne perfekte Stuntrolle war das.« Jockels gesunde Gesichtsfarbe kehrte zurück.

»Nee, Rolle rückwärts«, prustete Bernd.

»Jeder Stuntman wäre stolz. Ich könnte morgen bei der DEFA anfangen. Oder nicht?«, war Jockel stolz auf sich.

»Eher oder! Wir müssen weitermachen! Was soll der Lehrling denken?«, beendete Bernd abrupt die Diskussion.

Erdmann dachte gar nichts. Auch er hatte sich ein Lachen nicht verkneifen können. Aber es schien ihm angemessen, leise zu lachen, ohne die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

Am nächsten Tag war Jockel damit beschäftigt, das Dach der Bärenunterkunft mit einem neuen Bitumenanstrich zu versehen. Dächer aus Dachpappe mussten alle paar Jahre gestrichen werden.

Die künstliche Bärenhöhle, ein Anbau am Bärenzwinger, war gut zweieinhalb Meter hoch. Nach oben setzte sich das Gitter des daran angeschlossenen Außengeheges noch zwei Meter fort. Erdmann versorgte Jockel mit dem nötigen Bitumenkaltanstrich und einem Besen zum Verstreichen desselben. Als Erdmann mit dem nächsten Eimer Kaltanstrich ankam und nach Jockel sah, wurde ihm heiß und kalt. Jockel stand auf dem Dach mit dem Rücken zum Gitter. Hinter ihm hing der Bär, mit den Füßen auf dem Rand seiner Höhle stehend, an den Gitterstäben und angelte mit einer Pfote nach ihm.

»Pass auf! Hinter dir!«

Jockel war schneller vom Dach, als Erdmann gucken konnte.

»Den Rest machst du fertig.«

»Aber, ich hab doch keine …«

»Ach? Du hast keine Ahnung. Du hast gesehen, wie es geht!«

»Und wer holt den Anstrich und gibt mir die Eimer hoch?«

»Ich! Gib her! Du gehst hoch und streichst das bisschen!«

Jockel nahm den vollen Eimer, den Erdmann gerade hatte hochgeben wollen, und Erdmann stieg auf das Dach des Bärenkäfigs.

Der Bär hatte sich brummend zurückgezogen und beobachtete die Machenschaften auf dem Dach seiner Unterkunft von Weitem.

Erdmann erledigte auf diese Weise in der ersten Wocheseiner Lehrzeit die erste und vorläufig letzte eigenverantwortliche Arbeit, wobei ihm sogar ein Geselle als Handlanger unter die Arme griff. Wenn der Bär nicht gewesen wäre, hätte er sich auch entsprechend großartig gefühlt, doch so wollte sich keine wirkliche Freude einstellen. Erdmann strich langsam und vorsichtig das Dach mit Bitumenanstrich an, wobei er darauf achtgab, dem Bären nicht den Rücken zuzudrehen. Aber die Aussicht, Erdmanns habhaft zu werden, schien den Bären nicht besonders zu reizen. Vor den lebhaften Bewohnern des Affenkäfigs, es handelte sich um eine Horde Rhesusaffen, wurden die drei von einem mürrisch dreinschauenden Tierparkmitarbeiter gewarnt.

»Passt auf! Die greifen nach allem, was sie erwischen können. Dann ziehen sie es zu sich rein. Ich schätze, euer Werkzeug wollt ihr behalten. Wer weiß außerdem schon, was die Affen mit einem Hammer von euch machen würden! Die Jungen, so niedlich wie die sind, die passen noch durch die Gitterstangen und sie sammeln das ein, was die Großen nicht erreichen. Die hopsen immer in den in der Nähe stehenden Bäumen rum, nur so weit, wie sie die Mütter noch hören und sehen können. Wenn die rufen oder wenn es dunkel wird,...

Erscheint lt. Verlag 16.5.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Comic / Humor / Manga
ISBN-10 3-7597-6247-6 / 3759762476
ISBN-13 978-3-7597-6247-4 / 9783759762474
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