Das Fest der Schlangen (eBook)
256 Seiten
Festa Verlag
978-3-98676-139-4 (ISBN)
Der US-amerikanische Schriftsteller Harry Crews (1935-2012) wuchs in ärmlichen, brutalen Verhältnissen in Georgia auf. Bekannt wurde er 1968 mit seinem Debütroman THE GOSPEL SINGER. Harry Crews gilt als versoffener, aber genialer Kultautor, ähnlich wie Charles Bukowski. Und auch er schildert in autobiografisch gefärbten Werken düstere, gestörte Gestalten. Aber Crews steht mit seiner wilden Mischung aus beißend-satirischer Southern Gothic und rebellischem Existenzialismus eher in der Tradition großer Südstaaten-Schriftsteller wie Flannery O'Connor. Harry Crews arbeitete auch als Dozent für kreatives Schreiben und spielte eine Nebenrolle in dem Film INDIAN RUNNER (1991) unter der Regie von Sean Penn, mit Viggo Mortensen und Charles Bronson. In dem Dokumentarfilm SEARCHING FOR THE WRONG-EYED JESUS (2003) spielte er sich selbst.
Sie spürte die Schlange zwischen ihren Brüsten, sie spürte sie und liebte dieses Gefühl, dieses prall geschwollene S, starr und reglos, wie zum Zuschnappen bereit. Sie liebte den Anblick der Schlange, aufgenäht auf ihrem High-School-Sweatshirt, mit ihrem harten Diamantmuster, das in der Sonne glitzerte. Mit 15 Grad war es ungewöhnlich warm für einen November in Mystic, Georgia, und sie konnte das leichte Moschusaroma ihres eigenen Schweißes riechen. Sie mochte den Schweiß, mochte es, wie er sich anfühlte, so glitschig wie Öl, in allen Gelenken ihres Körpers, ihren Knochen, in den festen, geschmeidigen Muskeln, die jetzt gespannt und arretiert waren, bereit loszuschnellen – zuzuschnappen –, sobald die Band hinter ihr die Schulhymne anstimmte: »Fight On Deadly Rattlers of Old Mystic High«.
Ein einzelner Schweißtropfen löste sich in ihrem Rücken, verharrte für einen Augenblick und rollte dann in die weiche Rille zwischen ihren angespannten Pobacken. Als sie spürte, wie der Schweiß sie dort berührte, wanderte ihr Blick automatisch zum Spielfeld, und sie versuchte, Willard Miller auszumachen, den ›Boss Snake‹ der Mystic Rattlers, ihren Boss Snake, versuchte, ihn aus all den anderen Jungs herauszupicken, die mit ihren Helmen und weißen Trikots auf der anderen Seite der Aschenbahn trainierten. Wenn die Spieler aufeinanderprallten, hallten ihre leisen, fast schon sanften Grunzlaute vom grünen Trainingsfeld zu ihr herüber.
Sie glaubte, seine Laute aus denen der anderen heraushören zu können, und dachte, wie erstaunlich ähnlich diese Töne doch den abgehackten Schnaufern waren, die er ihr ins Ohr stöhnte, wenn er sie brutal auf der Motorhaube ihrer Corvette vögelte. Es gab kaum einen Unterschied zwischen den Geräuschen, die er von sich gab, ob er nun auf dem Spielfeld zum Schuss kam oder bei ihr. Bei allem, was er tat, war er immer laut und ungestüm und feucht, denn er neigte auch ein bisschen zum Sabbern.
Der Bandleader hob seinen Tambourstab und sie machte sich bereit, verlagerte ihr Gewicht nach vorn auf die Fußballen – und dann donnerte die Musik um sie herum los, die Posaunen schmetterten, die Trommeln knatterten, und sie marschierte, als gäbe es kein Morgen. Von den Seiten des Feldes erklang das trockene, furchterregende Rasseln der Klapperschlangen. Einige der Fans waren zum Spielfeld gekommen und hatten ihre Kürbisrasseln mitgebracht. Es waren Flaschenkürbisse mit krummem Hals, so groß wie Zuckermelonen und voll mit getrockneten Kernen, und wenn man sie schüttelte, erfüllten sie die Luft mit einem Rasseln, das genau wie das einer Klapperschlange klang. Während eines Heimspiels jagte die Heimtribüne der Mystic Rattlers allen einen kalten Schauder über den Rücken. Man konnte den Lärm dieser getrockneten Kürbiskerne aus zwei Meilen Entfernung hören, ein Surren wie aus dem größten Schlangennest, das Gott je gesehen hatte. In der Footballsaison entfernte sich niemand in Mystic jemals weit von seiner Kürbisrassel. Manche trugen sie sogar in der Stadt mit sich herum, unten beim Lebensmittelladen oder im Simpkin’s, dem einzigen Kurzwarenladen in Mystic.
Die Band hatte sich jetzt zu einer Schlangenlinie formiert. Die Musiker orientierten sich an den Yard-Markierungen, um ihre Positionen einzunehmen und auf der Stelle zu marschieren, mit hochgezogenen Knien und hin und her geschwenkten Instrumenten, sodass die gesamte Schlange in der Sonne vibrierte. Die Marschtrommeln standen unter dem einen Torpfosten und wurden gerührt, was das Zeug hielt, während sie unter dem anderen Pfosten stand, im Maul der Schlange, die Arme starr erhoben wie Fangzähne. Sie war eins mit der Musik. Sie musste für ihren Auftritt nicht großartig überlegen. Von allen Majorettes – und es gab noch fünf weitere – riss sie beim Im-Stand-Marschieren die Knie am höchsten, hatte das strahlendste Lächeln, die makelloseste Haut, die besten Zähne. Sie war ein Naturtalent und als solches war ihr einziger Makel – wenn sie denn einen hatte –, dass sie dazu neigte, ihre Gedanken wandern zu lassen. Sie musste nicht überlegen, musste sich nicht konzentrieren, so wie die anderen Mädchen, um die richtigen Bewegungen zu machen. Infolgedessen langweilten die eingeübten Figuren sie manchmal und ihre Gedanken schweiften ab. Auch jetzt, als sie auf der Stelle paradierte, den Rücken durchgedrückt, das Becken vorgestreckt, zwinkerte sie Joe Lon Mackey zu, der unter der Tribüne der Endzone stand.
Dort stand er immer, wenn er beim Training zusah, und sie war nicht überrascht, ihn da zu sehen, sogar froh, denn es gab ihr etwas, um ihre Gedanken zu beschäftigen. Er stand nur gute fünf Meter von ihr entfernt im Schatten, in der einen Hand einen Jutesack, in der anderen eine braune Papiertüte, aus der er hin und wieder einen Schluck nahm. Er hatte ihr zugezwinkert, als sie unter dem Torpfosten angekommen war. Sie hatte zurückgezwinkert. Ihn angelächelt. Sie hatte ihn schon immer gemocht. Teufel, jeder mochte Joe Lon. Aber eigentlich kannte sie ihn gar nicht so gut. Ihre Schwester, die auf die University of Georgia in Athens ging, ihre Schwester Berenice, die kannte ihn so gut.
Ihre Schwester und Joe Lon waren einmal das Paar in Mystic gewesen – in ganz Lebeau County eigentlich –, und Joe Lon hätte zur University of Georgia in Athens gehen können oder an irgendein beliebiges anderes College in diesem Land, nur hatte sich herausgestellt, dass Joe Lon kein besonders guter Schüler war. So drückten es alle hier in Mystic aus: Joe Lon ist kein besonders guter Schüler. Aber tatsächlich war es noch schlimmer, und das wussten auch alle. Es war nie eindeutig geklärt worden, ob Joe Lon überhaupt lesen konnte. Die meisten Lehrer an der Mystic High, die das Privileg genossen hatten, ihn unterrichten zu dürfen, waren der Meinung, dass er es wahrscheinlich nicht konnte. Aber sie mochten ihn trotzdem, liebten ihn sogar, liebten den großen, blonden High-School-Vorzeigeathleten Joe Lon Mackey, dessen außergewöhnliche Schweigsamkeit abseits des Spielfeldes von den meisten wohlwollend als Höflichkeit bezeichnet wurde. Er galt als der höflichste Junge in ganz Lebeau County, obwohl allgemein bekannt war, dass er einige schlimme Dinge getan hatte, unter anderem hatte er einen Handelsvertreter runter zum July Creek geschleift und ertränkt, während fast die ganze erste Mannschaft Bier trinkend vom Ufer aus zugesehen hatte.
Sie überhörte das Pfeifsignal des Bandleaders, mit dem er das Zustoßen der Schlange signalisierte, und infolgedessen rannten die anderen fünf Mädchen, die mit ihr den Kopf der Schlange bildeten, sie beinahe über den Haufen. Die Arme wie Fangzähne gekrümmt, hatte sie dagestanden und Joe Lon zugezwinkert, der im Schatten an seiner Papiertüte nippte, und sie hatte sich gefragt, ob Berenice wohl zum Round-up nach Hause kommen würde, als das Mädchen direkt hinter ihr im Marschtritt ein Knie in ihre Niere stieß und sie fast zu Fall brachte. Sie konnte sich gerade noch fangen und zischte über die Schulter nach hinten: »Willst was auf die Fresse oder was?«
Das Mädchen erwiderte irgendetwas, das aber im Dröhnen der Tuba unterging. Unter der Tribüne trank Joe Lon Mackey den letzten Schluck Jim Beam und ließ die Papiertüte mit der leeren Viertelliterflasche ins Gras fallen. Er holte zwei Streifen Kaugummi aus der Tasche und steckte sie sich in den Mund, dann zündete er sich eine Zigarette an. Er hatte Candy beobachtet – die von so ziemlich allen Hard Candy genannt wurde, außer von ihren Eltern, Dr. und Mrs. Sweet –, weil sie ihn an Berenice erinnerte und an all die Dinge, die für ihn hätten wahr werden können, es aber nicht geworden waren. Vor zwei Jahren war Berenice im Abschlussjahr und die erste Majorette gewesen, und er, Joe Lon, der Boss Rattler.
Es hatte geheißen, dass Joe Lon es an jedem beliebigen Tag während seines letzten High-School-Jahres mit den besten College Defensive Lines im ganzen Land hätte aufnehmen können. Aber er hatte es nicht getan. Er hatte nie einen Fuß auf ein College-Footballfeld gesetzt, obwohl er Einladungen von mehr als 50 Colleges und Universitäten erhalten hatte. Aber das war schon okay. Er hatte seinen Teil gehabt. Das sagte er sich jeden Tag ungefähr zehnmal: Es ist okay. Bei Gott, ich hab meinen Teil gehabt.
Er griff in die Gesäßtasche seiner Levi’s und zog ein blaues Blatt Papier heraus. An den Stellen, an denen es gefaltet war, war es fast ganz durchgescheuert. Er schüttelte es auseinander und hielt es ins Licht. ›Ich sehe dich beim Klapperschlangenfest. In Liebe, Berenice‹, stand dort. Unter dem Namen waren mehrere Kreuze. Der Brief hatte Joe Lon vor drei Tagen im Laden erreicht. Fast den ganzen Nachmittag hatte er gebraucht, um die Worte zu entziffern, und als er sie verstanden hatte, hatten sie ihn nicht erfreut. Er hatte gedacht, dass er das alles hinter sich hätte, dass er seinen Frieden gemacht hätte. Er faltete das Blatt zusammen und steckte es wieder in die Hosentasche. Aber auf dem Weg zu seinem Pick-up holte er den Brief wieder heraus und zerriss ihn mithilfe seiner Zähne und seiner freien Hand in winzige Stückchen, die er hinter sich in der düsteren Gasse unter der Tribüne zu Boden flattern ließ.
Er fuhr rüber zu der schmalen Straße, die am Übungsplatz vorbeiführte, und sah Willard Miller beim Training zu. Sie ließen ihn gegen die Luschen anrennen, die schmächtigeren, zweitrangigen Spieler, die aus Gott weiß was für Gründen zum Football gingen, denn sie wurden so gut wie nie in einem Spiel eingesetzt und konnten nur ihre Körper als Tackling-Dummys für die stärkeren, schwereren Jungs zur Verfügung stellen. Joe Lon sah zu, wie Willard...
Erscheint lt. Verlag | 14.5.2024 |
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Übersetzer | Manfred Sanders |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
ISBN-10 | 3-98676-139-X / 398676139X |
ISBN-13 | 978-3-98676-139-4 / 9783986761394 |
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