Wofür brennst du?! -  Christian Schiffer

Wofür brennst du?! (eBook)

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2024 | 2. Auflage
358 Seiten
epubli (Verlag)
978-3-7598-1194-3 (ISBN)
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Der passionierte und bei Schülern wie Kollegen sehr beliebte Gymnasiallehrer Sebastian Gericke erfährt im Alter von vierunddreißig Jahren, dass er an 'Frontotemporaler Demenz' (FTD), einer besonders seltenen Form der Demenz, erkrankt ist. Sein bisheriges Leben aus Beruf, Familie und privaten Interessen gerät vom einen auf den anderen Tag völlig aus den Fugen. Wie soll er sein weiteres Leben bestreiten? Was, wenn er alles um sich herum nach und nach vergisst? Und wer hilft ihm dabei, seine Anliegen und Krisen aus der eigenen Vergangenheit zu bewältigen, bevor die jeweiligen Erinnerungen für immer erloschen sind? Sebastian muss sich auf der folgenden Reise seiner größten Furcht stellen: der eigenen Erinnerung!

Christian Schiffer, Jahrgang 1985, hat Germanistik, Philosophie und Klassische Literaturwissenschaften in Köln studiert. In seinem Debütroman 'Wofür brennst du?' schöpft er dabei aus den Erfahrungen und Ereignissen seines Zivildienstes als Pflegekraft in einer Psychiatrie, in dem er sich mit dem anspruchsvollen Themenbereich der neurodegenerativen Erkrankungen erstmalig auseinandersetzte.

Sommer 2019

 

1.

Wenn man flach geradeaus über den Asphalt schaute, ganz bis zum Horizont und darüber hinaus, konnte man das sommerliche Flimmern der Luft mit bloßem Auge erkennen. Wie aufgeregte, durchsichtige Wellen schlich hier die Thermik über den von Hitze aufgeladenen Straßenbelag, der tagtäglich tausende, wenn nicht hunderttausende Autos, Lkw, Motorräder und sogar Schwertransporter aushalten musste.

Sebastians Beine fühlten sich von der sengenden erbarmungslosen Sommerhitze schon ganz schwer und ausgelaugt an, jeder Schritt ein Martyrium – jede Bewegung Auslöser eines neuen Schwalls Körperschweiß, der unaufhörlich von den Schultern kommend über den Rücken rann und sein Polohemd schon seit geraumer Zeit in einen nassen Baumwollsack verwandelte, kein Ende in Sicht.

 

„MÖÖÖÖP“, hupte ihn ein vorbeifahrendes Auto an. Es war jetzt bestimmt das zwanzigste, dreißigste seiner Art gewesen, und doch erschrak Sebastian bei jedem lauten Hupen aufs Neue. Auch die vielen „GEHT`S NOCH?!“-Ausrufe und „MEISTER, BIST DU NOCH GANZ DICHT IN DER BIRNE?!“-Schreiattacken aus den vorbei zischenden Fahrzeugen brachten ihn immer wieder für Sekundenbruchteile kurz durcheinander, kurz wieder zurück.

Wenn er auch nicht jede Wortmeldung akustisch verstand, die Gesten hinter den Autoscheiben waren teilweise deutlicher als jede Schimpftirade es hätte sein können – ein Mittelfinger oder der „Scheibenwischer“ mit der Hand vor dem Gesicht als Geste der Abfälligkeit in seine Richtung waren ja wohl eindeutig genug. War er nicht auch mit einem Auto unterwegs gewesen? Doch! Stimmt! Aber dann hatte ihn dieses ungute, dieses bedrohliche Gefühl von Platzangst und Orientierungslosigkeit schon wieder überfallen. Das passierte jetzt immer häufiger. Es schlich sich klammheimlich an und packte ihn dann im Würgegriff wie eine bösartige Kreatur mit scharfen Klauen und stinkendem Atem. Anfangs war er wenigstens tagsüber vor dem düsteren Anrauschen, der dumpfen Tumbheit in den Schläfen, dem Schwindelgefühl und der subtilen, gestaltlosen Angst sicher gewesen. Doch seit ungefähr vier Wochen – einem Monat schon! war er der Bestie rund um die Uhr willkürlich ausgeliefert.

 

„MÖÖÖÖÖÖP!“ Ein besonders tiefes und bassiges Lkw-Horn riss ihn aus seinem panischen Gedankenmatsch, der riesige Vierzigtonner fuhr demonstrativ nah und langsam an Sebastian vorbei, er konnte den kühlen Luftzug auf der Haut spüren, es schüttelte ihn richtig, da der nassgeschwitzte Rücken die plötzliche Kälte direkt multiplizierte.

„DU BLÖDER WICHSER! DAS IST DIE A3 UND KEINE LAUFSTRECKE!“, brüllte ihn der Fahrer aus der Kabine an, während die Lkw-Pneumatik bedrohlich zischte und raunzte, als würde sich selbst das massige Fahrzeug über ihn aufregen wollen.

Sebastian nahm all diese äußeren Faktoren nur schemenhaft wahr, wie durch eine Plexiglasscheibe hindurch gefiltert, ein wirres Abbild der Realität, wie er sie kannte und verstand.

Heute Morgen war noch alles in Ordnung gewesen. Er hatte sich um sechs Uhr fünfzig in sein Auto gesetzt, war zur Schule gefahren und hatte nach einem kleinen Kreislaufproblem im Lehrerzimmer wenig später den Unterricht in der 8D begonnen. „Vasallentreue des Fränkischen Reiches“ Trockener Stoff, da musste man durch! Das Mittelalter setzte den jungen Schülerinnen und Schülern zu, es war auch tatsächlich nicht sein historisches Lieblingskapitel, da Religion und Staat damals eine gemeingefährliche Symbiose der Dauergewalt und Mordlust eingegangen waren.

Tja, aber so war das nun mal mit dem Lehrplan. „Curriculum bringt Freude um!“, pflegte sein Kollege und Duz-Kumpel Raphael Schnittmann zu sagen. Raphael unterrichtete – wie er – Englisch und Geschichte an der Weibelfeldschule in Dreieich bei Frankfurt am Main. Die beiden waren zeitgleich vor zwei Jahren eingestellt worden. Für Sebastian war es bereits die zweite Schule seiner Berufslaufbahn, Schnittmann war mit seinen sechsundzwanzig Jahren frisch von der Uni gekommen. Eigentlich hätte er „locker“ noch promovieren können in Geschichte, aber seinem Vater war die Dauerstudiererei seines Juniors nach fast acht Jahren zu bunt geworden, es musste jetzt mal ein Punkt gemacht werden, beziehungsweise ein zweites Staatsexamen inklusive Referendariat. Er kam an die Weibelfeldschule und wurde Sebastian als Protegé zugeteilt, obwohl dieser lediglich sechs Jahre älter war als Schnittmann.

„Das machen Sie doch mit links, Herr Gericke! Bisschen dem Jungspund das Fliegen zeigen, jetzt wo die Nestwärme von der schönen Uni fehlt“, hatte sein Vorgesetzter, Herr Doktor Telben, gemeint und ihn unangenehm jovial in die Seite geknufft. Ekelhaft, wie zwei Gläser Sekt manche Leute aufweichten, jegliche Distanz verschwinden ließen.

„Ja, gut. Mal sehen“, hatte Sebastian peinlich berührt und unbeholfen zurückgestottert, „mit neuen Leuten kann ich ja per se ganz gut.“

Bingo, Telben zwinkerte ihm zu und Sebastian konnte sich zum ersten Mal so richtig leibhaftig vorstellen, wie er – Telben – als junger Mensch gewesen sein musste: distanzlos und widerlich! Das war er jetzt auch noch, allerdings in alt.

 

„SAG MA, HAST DU HEUT MORGEN SCHNAPS INS MÜSLI GEKIPPT“, keifte es von irgendwoher zu ihm. Sebastian hielt kurz inne, verlangsamte aber sein Lauftempo nicht merklich. Von wo kam das denn jetzt? Es war doch nach dem Lkw kein anderes Fahrzeug mehr an ihm vorbeigerauscht. Oder doch? „EYYY! HIER OBEN, DU VOLLHORST!“ Er tat, wie ihm befohlen, und legte den Kopf in den Nacken, kniff aber alsbald die Augen kräftig zu, damit ihn die Sonne nicht frontal blenden konnte. Durch einen winzigen Spalt öffnete er sie wieder und konnte die Silhouette einer jungen Frau erahnen, die auf einer Autobahnbrücke stand und halb ängstlich, halb wütend mit den Armen in seine Richtung wedelte. Ne, jetzt wird nicht gestoppt! Besser läuft er die zehn Kilometer sicher nicht mehr so bald. Muss sie einsehen, müssen alle einsehen! Wieso kamen keine Autos mehr, gar nix mehr? Seine Gedanken wurden unscharf, der Puls schlug bis zum Hals – ach was: AUS dem Hals! Wo war er denn? Warum war sein Auto weg? Wie weit war es noch und wohin sollte er laufen, wenn er gleich nicht mehr konnte? Sebastian dachte nicht ans Aufgeben, das kam gar nicht in die Tüte!

Na schön, kurze Pause. Keuchend und am Ende seiner Kräfte drehte er sich um, nahm die Lage in Betracht. Er war seit bestimmt knapp vier Kilometern auf der rechten Fahrspur der Autobahn gelaufen, zwei weitere Spuren lagen links von ihm, eine vierte war von rot-weiß gestreiften Warnbarken und gelben Fahrbahnlinien als Baustelle kenntlich gemacht. Dann die Leitplanke und dieselbe Anzahl Fahrspuren auf der anderen Seite noch mal. Klar, für die andere Richtung halt, weiß man doch.

Dann ein Seitenstreifen und eine größere Baustelle gesäumt von einer Sandmulde, die gleichzeitig als Abstellfläche für die benötigten Baustellenfahrzeuge fungierte. Genau dort stand eine Gruppe Gelbhemden mit Schaufeln und gelben Helmen auf den Köpfen. Sichtlich besorgt winkte ihm der Mann ganz außen zu, seine Kollegen standen mit eingefrorener Miene und teilweise gezückten Mobiltelefonen daneben und wirkten geschockt bis amüsiert bei seinem Anblick. Er wollte so etwas rufen wie „Alles in Ordnung!“ Oder auch: „Wie weit ist es bis Dreieich?“ Doch seine Überlegungen wurden von einem riesigen Lärm überschattet, wobei Schatten durchaus wörtlich zu nehmen war: Ein gigantischer Schatten, von tosendem Motorengeräusch begleitet, hüllte ihn und seine nähere Umgebung in wohltuendes Dunkel. Sebastian blickte leicht auf und konnte die ausklappenden Reifen eines riesigen Flugzeugs über seinem Kopf ausmachen, die sich elektronisch surrend in die Choreografie aus Lärm, Wind und Schattenwurf einfügten. Der mitgebrachte Fahrtwind riss wie ein unsichtbares Seil an den umliegenden Sträuchern, Flatterbändern und allem, was lose am Boden existierte. Dem Flugzeug mit starrem Blick folgend, erkannte Sebastian die Gebäude des Flughafens neben der Autobahn. Die große Aufschrift „Frankfurt Airport“ in blauen Lettern verhieß wohl nichts Gutes.

Das konnte nicht sein! Er war doch eben noch auf dem Parkplatz seiner Schule gewesen, hatte die Tragetasche mit seinen Unterlagen und der Brotdose auf dem Beifahrersitz verstaut und sich über die Musikauswahl seiner Frau Stephanie aufgeregt. (Wie konnte sie nur eine Flamenco-CD im Player lassen? Jeder weiß doch, dass Flamenco nur im Spanienurlaub richtig funktionierte. Dasselbe galt für Matjes Brötchen zu Hause: schmeckt nicht! Dafür musste man schon am Hafen stehen, die Möwen über sich kreisen hören und mindestens zwei Schiffe mussten dazu am Horizont um den besseren Platz im Sonnenuntergang konkurrieren, kurz bevor die große, gelb-rote Sonne ins Meer zu fallen schien).

Aber egal, er hatte die CD in ihre Hülle zurückbefördert, ins Handschuhfach gelegt und war losgefahren. Das hier war grotesk! Flughafen? Und wieso fuhr jetzt überhaupt kein Auto mehr? Auf allen Fahrspuren in beide Richtungen herrschte gespenstisch-gähnende Leere, eine fast meditative Ruhe. Nur die Sommerhitze und ein ganz leichter Wind, gepaart mit immer wieder hörbar hochfahrenden Flugzeugturbinen, sorgte dafür, dass man sich nicht der Illusion einer Welt auf Pause-Taste, einem Dasein im Mute-Modus hingeben konnte. Sebastian atmete hektisch. Was war nur passiert? Er war vom Parkplatz der Schule gefahren, hatte sich eingereiht in die Schlange auf der Linksabbiegerspur, hatte den Gegenverkehr ordnungsgemäß durchgelassen und war dann Richtung Heimat gefahren.

Hatte ihn dieses Gefühl etwa wieder überfallen? War die große schwarze Glocke aus Angst und...

Erscheint lt. Verlag 7.5.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-7598-1194-9 / 3759811949
ISBN-13 978-3-7598-1194-3 / 9783759811943
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