Zeitbrücke -  Hans Blazejewski

Zeitbrücke (eBook)

Geschichten zwischen Damals und Heute
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
230 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7597-4506-4 (ISBN)
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Tauchen Sie ein in eine Welt voller Erinnerungen und Träume - Kurzgeschichten, die das Herz berühren und den Geist beflügeln! Dieses Buch führt uns über die Zeitbrücke zur Spurensuche an Orte aus der Kindheit des Autors bis zur Jetztzeit, festgehalten in wunderbaren Erzählungen, Geschichten und Geschichtchen, unter anderem von * einem Heiden, der am Kreuz verbrannt wird, * einem Bahnhof und Pustekuchen, dem Vorsteher, * einem Familientreffen am Jenseitslagerfeuer * einer Geisterorgel, die eine Bachfuge spielt, * einem Badewannenmörder, der freigesprochen wird, * einem Totenhemd, das kratzt, * einem Dichter, den niemand kennt, * einem Liebespaar, das am »Standesunterschied« scheitert, * einer Ménage-à-trois, bestehend aus Adonis, Aphrodite und Persephone, * Ruth - einem Mehrfachbild über Opfer und Täter in der Nazizeit, * Maria, wie sie ihren Kopf verlor, * einem Deutschen und wie es ihm erging, als er in Paris ein Franzose sein wollte, * einer Fischjagd, * Männern in Zwangsjacken, * einem Tortenparadies, * einer bemehlten Großmutter, * Claire, die Sommersprossen, rote Haare und einen göttlichen Busen hatte.

Ich in Stichworten Jahrgang 1940, geboren in Tilsit, Nord­Ostpreußen in der Nähe der litauischen Grenze. Flucht 1944-45 mit Großeltern, deren Wurzeln sowohl im Ermland als auch in Königsberg und im Insterburgischen zu finden sind. Ausgespuckt in Westfalen. Schlüsselkind, Einweisung in ein Kinderheim 1951-1956, die Zeit, die die besten Jahre meiner Kindheit unter anderen Umständen hätten werden können. Verschiedene Berufe: Kaufmann, Maurer, Beamter, Blumenverkäufer, Architekturstudium, Reisender, Handelsvertreter, Museumsrestaurator, in Frankreich gelebt und gearbeitet als "Spinner und Färber", Verleger, Rentner

In der Nacht der Steinkauz rief


Manchmal, wenn mich der Blues hat, dann überschreite ich die unsichtbaren Grenzen und lege mich in meiner Verlassenheit zu den Altvorderen.

Oder am Abend, wenn mir kalt ist, wenn meine Einsamkeitstemperatur mich nicht schlafen lässt, mach ich rüber und besuche die Ahnen. Die sitzen am Feuer. Grüßen mich mit »Johannes, da bist du ja. Wir haben dich schon vermisst. Was bringst Neues?« Ich entschuldige mich mit Sätzen wie: »Tut mir leid, aber ich hatte keine Zeit. Ihr wisst doch, wie es in der Ernte ist.« Dann reden wir über das Gewesene, also die vergangene Zukunft.

Nicolaus nimmt das Wort und sagt:

»Wir hatten mal einen Pfarrer. Der war außen stark wie ein Kujel und groß wie eine Germaneneiche, aber innen sanft wie das Lamm Gottes. Im Krug konnte ihn keiner unter den Tisch trinken. Und unsere Weiber, nicht nur die Frommen, waren rein dammlich, wenn er sie ansah. Der hat das nicht mehr ausgehalten, das mit den Mädchen und auch das mit einigen Knaben nicht.

In der Nacht hatte der Steinkauz gerufen. Der wohnt im Glockenstuhl. Hoch über der Gemeinde. Das Schulgebäude, die Priesterwohnung gleich gegenüber der Kirche, dahinter auf einer Anhöhe der Friedhof, in der Ferne silberdunkel der See am Gutshof.

Und als der Steinkauz am Fenster saß und den Pfarrer rief und dann noch einmal hoch vom Glockenturm, da ist der Stellvertreter Gottes in der Nacht hochgestiegen, nahm einen Strick. Band ein Endchen an den Glockenschwengel, band sich das andere Ende um seinen Hals, dann ist er gesprungen. Der Wind hat ihn bewegt und die Glocke hat die lange, lange Nacht hindurch den Abschiedsgruß ihres Priesters bis hinter das Moor getragen. Die Weiber zündeten Kerzen an, traten vor die Tore und schauten erst über das nahe Moor, aus dem der Nebel sie kalt ansprang und dann zum Glockenturm. Die Klageweiber banden ihre Kopftücher fester und hakten sich unter, als die Glocke nicht schweigen wollte.«

»Und?«, sag ich.

»Der Bischof hat verkünden lassen, ein Unglück sei geschehen. Gestolpert sei er und dass er heimgegangen ist zu Gott. Wir haben ihn abgeschnitten. Aber die hohen Herren haben ihre eigene Sicht der Dinge. Sollen sie.«

Jetzt sag ich, was sie nicht wissen können, weil das lange nach »ihrer Zeit« passiert ist. »Da gab es zwei Mädchen«, sage ich. »Zwillingsschwestern, wie ich vermute. Jung und hübsch, denk ich mir. Die eine, die Ella, blond, keck bis unterm Kopftuch. Lebenshungrig. Tanzte gern und ausgiebig auf Garnisonsbällen und überall dort, wo es was zu feiern gab. Die andere, Frieda, etwas rundlich, auch blond, aber mit Zöpfen und eher so ein Mauerblümchentyp. Kann vorkommen, so was, auch bei Schwestern.«

Und dann stand es im Dezember 1915 in der Tilsiter Zeitung. Sie hätten sich mit Leuchtgas vergiftet, aber ohne Explosion. Die sind gemeinsam aus dem Leben geschieden, schrieb so ein Schreibstubenhengst, übrigens aus Schlesien, vom Pferdedepot der Tilsiter Garnison, an seine Mutter:

Denk bloß, Ella und Frieda und mit Leuchtgas. Und er wusste nicht mal warum, hatte sie ihm doch Wochen vorher noch so lustige Briefe geschrieben und so komische Fotos beigefügt.

Vielleicht, denke ich, waren sie unglücklich verliebt, dann macht man vielleicht so was. Oder man hat über sie geredet. Man weiß ja, wie das so zugeht, wenn sie hinter deinem Rücken tuscheln, oder die Straßenseite wechseln, wenn sie dir entgegenkommen. Und du kannst dich nicht wehren. Nicht als junges Mädchen, womöglich in der Fremde. Vielleicht waren sie in Stellung, als Dienstmädchen und der Herr hat mehr getan als ihnen nur unter den Rock gefasst, mit Folgen, die nicht mehr zu kaschieren waren. Traurige Geschichte das. Und grade fällt mir ein, es kann auch ganz anders gewesen sein: Undichte Gasleitung und keiner hat es in der Nacht gemerkt.

Michael, der Potenzriese, noch im Alter von 65 Jahren hatte der Drillinge mit seinem vierten Eheweib. Wenn wir die drei Nachschrapsel mitzählen, dann kommen wir auf 16 Kinder, alle selbstgemacht, wie es sein soll.

Michael also erzählt vom Andreas, dem Altenteiler, der zu unruhig war, um sein Altenteilerdasein genießen zu können. Also ist er in der Kartoffelernte aufs Pferd gestiegen. Da war er schon über neunzig. Aber nicht wie früher, also mit Fuß in den Steigbügel und dann mit kräftigem Hochziehschwung in den Sattel.

Der Andreas hatte sich eine Trittleiter zusammenschlagen lassen. Drei Stufen und dann wie üblich erst linken Fuß in den Bügel und dann den rechten über den Pferderücken. Dann ist er aufs Feld geritten. Vielleicht wollte er die vollen Körbe zählen, oder den Weibern unter die Wäsche gehen, der alte Bock. Meecht einer nicht wissen. Jedenfalls ist er auf dem Rückweg vom Pferd gestürzt und hängen geblieben im Steigbügel.

Ich denke, er wollte auf dem Heimweg noch schnell bei seinem Bruder auf Besuch gehen. Wie ihr wisst, der wohnte im Schlangennest. Möglich, sein Pferd wird vor einer Kreuzotter gescheut haben. Dort hat es schon immer die größten Exemplare gegeben. Wie es war, wird keiner wissen, und Pferde reden bekanntlich nicht mit uns.

Sein Pferd hat ihn dann über Stock und Stein auf den Hof geschleift. Sah nicht mehr aus wie neu, das kann man ruhig sagen. Wär besser für ihn gewesen, er hätte auf seiner Bank am Hühnerstall gehuckt und Striche mit dem Stock in den Sand gezeichnet, immer dann, wenn eine Henne ein Ei gelegt hatte. Der Andreas konnte das hören. Am Abend hat er dann die Striche zusammengezählt und wusste gleich, wie viele Deputateier wir im vorsetzen mussten.

Erich, der Jüngste der Zukunftslosen unter uns. Hatte ein kurzes Leben. Mit dreißig in Korotoyak a. Don: Bumm. Volltreffer. Ganz unerwartet ein Held.

Bevor er zu Worte kommt, will ich mit seiner Erlaubnis seinen letzten Brief an seine Eltern vorlesen:

Liebe Eltern u. Geschw.

Mein liebes Mütterlein, ich danke dir von ganzem Herzen für Deinen Brief und Zigaretten. Ich kann jetzt aber nur nicht mehr schreiben, weil ich weder Papier noch Umschläge habe. Diese Karte habe ich mir schon geliehen. Wenn ihr was habt, dann bitte schickt mir welches. Dass Du, meine gute Mutter, alles für mich tust, weiß ich, genau wie Ihr Euch mit Vati auf meine Hilfe verlassen könnt. Auch ich tue für Euch alles. Habt Ihr die 110 Mark schon erhalten, ich schickte einmal 40 und das andere Mal 70 M. ab. Wenn es angekommen ist, dann schreibt mir. Am 21.9. schicke ich Euch wieder 70 M. Das so lange jeden Monat, wie ich im Osten bin. Es ist ja nicht viel, aber freuen werdet Ihr Euch doch. Es ist doch eine Hilfe. Und nun habe ich eine große Bitte. Schickt mir aber bitte, bitte sogleich, wenn Ihr die Karte erhaltet, Rasierklingen, Zahnpaste, irgendwelche Messer (ich habe keins zum Brotschneiden) Umschläge. Dann noch etwas. Wenn Ihr könnt, dann bitte ein paar Päckchen mit Zucker und ein bisschen Pudding. Das könnt Ihr im kleinen Päckchen à 100 Gramm eintüten.

Tut es bitte sogleich, sonst vergesst Ihr es. Mir geht es sonst gut, bin gesund u munter. Vergesst auch nicht, mir viel und oft zu schreiben. Erfüllt mir die Bitte, ich hätte eine große Freude. Was zum Lesen fehlt auch.

Und nun wünsche ich Euch alles, alles Gute.

Es grüßt Euch alle herzlich Euer Erich.

Als seine Karte die Eltern erreichte, da war er schon ein totgestorbener Held der Großdeutschen Wehrmacht.

So, Erich, erzähl uns, wie das war mit der Polina.

»Also das war so, sagt er. War im November 41. Der Iwan hatte uns kräftig eingeheizt in der Gegend um Rostow. Überall Schlamm. Der zog dir die Knobelbecher von den Füßen. Aber wir haben uns trotzdem gut gewehrt. Väterchen Frost und eine Brigade der Leibstandarte SS Adolf Hitler haben geholfen, dass der Iwan den Sack nicht zumachen konnte.

Wenn es an der Front ruhig war, so machte die SS Jagd auf Partisanen, die in umliegenden Sümpfen hausten und unsere Nachschublinien bekämpften. Ich war gerade im Gefechtsstand unserer Armee, als ein Stoßtrupp der SS mit einer gefangenen Partisanin ankam. Sie haben sie verhört. Sie sagte, ihr Name sei Polina und sie stamme aus Kasachstan. In den Rayon Rostow sei sie gekommen, um ihren Großeltern auf deren Bauernhof zu helfen. Die SS-Männer haben nur gelacht und sie als Iwans Hure und Flintenweib beschimpft. Sie haben ihr die Kleider vom Leib gerissen und ihr die Haare abgeschnitten. Dann wurde sie, mit den Füßen zuerst, an einen dicken Ast einer Eiche aufgehängt. Zuletzt wurde sie immer wieder mit Wasser übergossen. An dem Tag hatten wir ungefähr minus 40 Grad bei eisigem Ostwind. Sie hat das nicht lange überlebt. Zuletzt sah sie aus wie ein unförmiger Eisklotz. Ein Schild hatte ihr die SS umgehängt, auf dem sie geschrieben hatten: Mit Flintenweibern machen wir kurzen Prozess.«

Jetzt spricht der Ältervater vom Tatareneinfall.

»Ach, mein Lenchen«, flüstert er vor sich hin. Er schaut lange ins Feuer. Dann erzählt er: »Das war, als der Teufel...

Erscheint lt. Verlag 9.4.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-7597-4506-7 / 3759745067
ISBN-13 978-3-7597-4506-4 / 9783759745064
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