Für mich bist du tot -  Elisabeth Charlotte

Für mich bist du tot (eBook)

Zerstörte Illusionen
eBook Download: EPUB
2024 | 24. Auflage
175 Seiten
epubli (Verlag)
978-3-7598-0964-3 (ISBN)
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In dieser zutiefst bewegenden Erzählung schildert die Autorin den schleichenden Zerfall ihrer kleinen Familie. Die Authentizität dieser Geschichte wurzelt in den 1950er-Jahren, als der Vater aus der DDR in den Westen Deutschlands flieht. Für die zurückgelassene Familie beginnt eine Ära voller Entbehrungen. Die überforderte Mutter, konfrontiert mit den täglichen Herausforderungen der Kindererziehung, sucht Zuflucht in Alkohol und Tabletten. Diese Flucht vor der Realität hinterlässt verheerende Auswirkungen auf alle Familienmitglieder, insbesondere auf die Entwicklung der Kinder. Die Leser werden Zeugen des von schicksalhaften Ereignissen geprägten Lebensweges der Protagonistin, von einem schüchternen Mädchen hin zu einer selbstbewussten Frau. Die Geburt ihres Sohnes markiert einen Wendepunkt. Doch ihr schmerzhaftes Coming-out und eine erste unglückliche Liebe bringen zusätzliche Herausforderungen mit sich. Als sie schließlich die Frau findet, die ihr Lebensglück zu vervollständigen scheint, bricht die eigentliche Tragödie herein und verändert ihr Leben von Grund auf.

Elisabeth Charlotte, geboren 1949, hat ihre Kindheit im ehemaligen Ost-Berlin, genauer im Bezirk Friedrichshain, verbracht. Seit 1989 lebt sie gemeinsam mit ihrer Lebensgefährtin in Kleinmachnow. In ihrem Buch offenbart sie ihre ungewöhnliche Lebensgeschichte, die in der DDR beginnt. Sie lässt Erinnerungen aufleben und zieht Vergleiche zwischen den verschiedenen Lebensabschnitten. Der Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 bringt eine drastische Veränderung in ihr eigenes und das Leben ihres Sohnes. Die plötzliche Freiheit wird von beiden mit einem hohen Preis bezahlt.

erhielten wir emotionale Hilfe von einem älteren Ehepaar, das eine Etage über uns wohnte. Sie stammten aus Ostpreußen und waren kinderlos.

Mein Bruder und ich nannten sie liebevoll Tante und Opa. Wir empfanden eine aufrichtige Liebe zu den beiden, da sie uns wie eigene Enkelkinder verwöhnten. Durch das Spielen mit uns, das Ausstatten mit Kleidung und gemeinsame Ausflüge schenkten sie uns besondere Aufmerksamkeit. Wir durften sogar bei ihnen übernachten, wenn unsere Eltern feierten oder stritten. In ihrer Gesellschaft fanden wir das Gefühl von Geborgenheit, das uns zu Hause fehlte. An die Großeltern mütterlicherseits kann ich mich nicht erinnern. Der strenge Großvater war bereits vor meiner Geburt verstorben, und die Großmutter verstarb, als ich zwei Jahre alt war. Meine Mutter erzählte mir, dass ich sie sehr geliebt haben soll und sie stets als »Omileinchen« bezeichnete. Leider habe ich keinerlei Erinnerungen an sie, was ich zutiefst bedauere. Zum Großvater väterlicherseits hatte ich nur oberflächlichen oder besser gesagt gar keinen Kontakt. Dies lag vermutlich daran, dass die Großeltern geschieden waren und jeglichen gegenseitigen Kontakt vermieden. An schöne familiäre Momente oder besondere Höhepunkte während meiner frühen Kindheit kann ich mich nicht erinnern. Ich war ein ruhiges und introvertiertes Mädchen. Wo man mich auch hinstellte, spielte ich in meiner eigenen Welt. Spielzeug war nur wenig vorhanden, deshalb verweilte ich besonders gerne auf unserem Hof in einer blumengeschmückten Ecke unter den Wohnzimmerfenstern einer freundlichen Familie. Hier tauchte ich in eine andere Welt ein, sang laut und mit Leidenschaft meine Lieblingslieder. Die Nachbarn waren wohl ziemlich genervt. Doch man mochte mich und ließ mich gewähren. Bis auf mein zu lautes Singen war ich ruhig und unauffällig. Meine Eltern waren in der Nachbarschaft, bei Freunden und Bekannten sehr beliebt. Es sprach sich schnell herum, dass ihre Partys immer lustig und ausgelassen waren und dort jede Menge an Alkohol floss.

 

Im September 1955 begann mein Schulleben mit dem ersten Schultag. Meine Schultüte war mit einer prächtigen Schleife verziert und weil sie groß war, wurde sie bis zur Mitte mit Zeitungspapier gefüllt. Nur der obere Teil, der durchsichtig war, ließ einige Süßigkeiten und Schulutensilien erkennen. Zu unserer Klassenlehrerin, die uns von der 1. bis zur 4. Klasse begleitete, hatte ich von Anfang an eine ganz besondere Bindung. Ich verehrte sie, fühlte mich in ihrer Gegenwart wohl und hatte das Gefühl, dass sie mich etwas mehr mochte als die anderen Kinder. Dies mag gewiss Einbildung gewesen sein, aber es gab meinem kindlichen Selbstbewusstsein einen enormen Schub. Das Lernen fiel mir unter ihrer Anleitung leicht und nur auf ihre Anregung hin trat ich dem Schulchor bei. Ob das für den Chor vorteilhaft war, kann ich heute nicht mehr sagen, aber ich tat alles, was sie vorschlug, ohne zu zögern. Schnell wurden wir Erstklässler in die Jungpionier-Organisation aufgenommen und trugen stolz das blaue Halstuch, das Zeichen der Jungpioniere. Obwohl die Pionierorganisation heutzutage oft kritisiert wird, leistete sie viel für ihre jungen Mitglieder. An den Pionier-Nachmittagen wurde gebastelt, gewerkelt und Theater gespielt. Es wurden Ausflüge und Exkursionen organisiert, die kostenfrei waren oder gelegentlich einen geringen Beitrag erforderten. Während der Schulferien hatten Kinder die Möglichkeit, für zwei Wochen in Ferienlagern zu entspannen, fernab von Schule und Eltern. Dadurch war gewährleistet, dass die Kinder nach dem Unterricht beschäftigt waren, beaufsichtigt wurden und soziale Fähigkeiten erlernten. Für Schüler wie mich, die nach Schulschluss aufgrund berufstätiger Eltern nicht nach Hause konnten, gab es einen Hort. Dort wurden gemeinsam Mahlzeiten eingenommen, Hausaufgaben unter Aufsicht erledigt und natürlich gespielt. Obwohl für das Wohl der Schüler gesorgt wurde, fühlte ich mich in diesen Gruppen nicht besonders wohl.

Ich war unauffällig, schüchtern und erschien für mein Alter viel zu ernst. Meine Freunde bestanden hauptsächlich aus den Nachbarskindern aus den umliegenden Häusern sowie einigen Schulkameraden. Mein engster Freund wurde Jürgen vom Haus gegenüber. Wir waren im gleichen Alter, verstanden uns bestens, verbrachten viel Zeit miteinander und teilten unsere kleinen Geheimnisse. Beide liebten wir Tiere und kümmerten uns um Hunde, die in engen Käfigen bei einem nahegelegenen Tierhandel gehalten wurden, bis sie verkauft wurden. Wir führten sie spazieren, spielten mit ihnen und brachten sie zum Ladenschluss wieder zurück. Oft besuchten wir den freien Platz an der Ecke, wo früher einmal ein Haus stand. Dort fanden regelmäßig Jahrmärkte mit vielen Karussells oder manchmal auch Zirkusleben statt. Stundenlang verbrachten wir dort, lauschten der Musik, beobachteten das bunte Treiben und träumten vor uns hin. Diese Welt übte eine faszinierende Anziehungskraft auf mich aus. Allerdings hatten wir beide praktisch nie genügend Geld für die Karussells. Wie die meisten Kinder spielte auch ich hauptsächlich auf der Straße, eine damals übliche Beschäftigung. Zu dieser Zeit gab es keine Spielekonsolen, Erlebnishöfe, Spaßbäder oder Abenteuerlandschaften, geschweige denn Handys. Die Straße und die noch vorhandenen Ruinen boten uns Abenteuer genug. Spielzeug hatten nur wenige Kinder. Unsere Treffpunkte als Kinderclique waren größtenteils die Hausflure und die Ruinen. Dort bauten wir mit den Steinen, die herumlagen, kleine Wohnungen mit Küche und Wohnzimmer und tauchten so in unsere eigene kleine Welt ein. Unser meistgespieltes Spiel war »Vater, Mutter, Kind«, bei dem jedes Mal neu entschieden wurde, wer die Rollen von Mutter, Vater oder Kind übernehmen durfte. In der Nähe, drei Häuser weiter, befand sich ein echter kleiner landwirtschaftlicher Betrieb, etwas versteckt im zweiten Hinterhof. Dort gab es einen Stall mit Pferden, Hunden, Hühnern und Katzen. Besonders die Pferde zogen mich magisch an. Ich war dort gerne, durfte die Pferde füttern, den Stall freiwillig und voller Freude ausmisten und mit den anderen Kindern im Stroh herumtoben. Es war ein kleines Paradies für mich, und dort fühlte ich mich absolut wohl.

Unsere Eltern waren berufstätig und verdienten ihr Geld. Dennoch reichte es offensichtlich nicht bis zum nächsten Zahltag. Der Monat war immer viel zu schnell herum und so ließ man kurzerhand zum Monatsende beim Händler anschreiben. Das war Usus, viele Menschen, bei denen das Geld schneller verbraucht war als der Monat zu Ende, machten das damals so. Es war also nichts Außergewöhnliches, sofern man die aufgelaufenen Schulden dann auch wieder beglich. Gerade das aber gelang meinen Eltern nicht immer, es häuften sich schnell größere Summen an. Erst beim Lebensmittelladen unten im Haus, dann beim Gemüsehändler gegenüber, mitunter auch mal beim Nachbarn.

Mein Vater war ein charmanter, lustiger und gut erzogener junger Mann. Schnell fiel ihm auf, dass es neben meiner Mutter auch andere attraktive Frauen gab. Diese Frauen fanden auch Gefallen an ihm und umwarben ihn. Er war ein attraktiver Mann und so begann er mit der einen und auch der anderen Frau eine Affäre. Damals nannte man solche kleinen Romanzen noch »Techtelmechtel«.

Die Anwesenheit der Damen blieb meiner Mutter natürlich nicht verborgen, insbesondere wenn einige von ihnen unangemeldet bei uns vorbeikamen und den »Bruder« meiner Mutter sprechen wollten. Das führte zu häufigen Auseinandersetzungen und hitzigen Diskussionen, die nicht nur verbal ausgetragen wurden. Gelegentlich flogen Kochtöpfe mit dem Mittagessen durch die Küche, Geschirr wurde an die Wand geworfen oder aus dem Fenster geschleudert. Es schien wichtig zu sein, dass alle Hausmitbewohner mitbekamen, was vor sich ging. Die beiden Erwachsenen gerieten tatsächlich in heftige körperliche Auseinandersetzungen, ohne Rücksicht auf uns Kinder. Ein besonders erschütternder Moment war für mich, als meine Mutter nach einem solchen Streit wimmernd auf dem Boden lag, während mein Vater ohne Gnade auf sie eintrat, kalt über sie hinwegstieg und dann die Wohnung verließ.

Die Erinnerung an dieses Ereignis begleitet mich bis heute. Nachdem sich die Gemüter etwas beruhigt hatten, fand, wie konnte es anders sein, die Versöhnung auf lebhafte und laute Weise im Schlafzimmer statt.

Eines Tages war die Last der Schulden, die Streitigkeiten mit meiner Mutter und die Bindung zu verschiedenen Damen für meinen Vater zu viel geworden. Über Nacht verließ er uns ohne Vorwarnung in Richtung Westdeutschland. Unsere Mutter blieb zurück, mit uns Kindern, den Schulden und einem knappen Brief. Seine einzigen Worte waren: »Ich werde im Westen nach Arbeit suchen und dann Geld für euren Unterhalt schicken«. Diese Ausreise machte ihn nach den geltenden DDR-Gesetzen strafbar und in der DDR galt er jetzt als Republikflüchtling. In unregelmäßigen Abständen erhielten wir etwas Westgeld, was jedes Mal ein besonderes Ereignis war. Durch den Umtausch in Ostmark hatten wir meist das Dreifache oder sogar Vierfache zur Verfügung. Es reichte für das Nötigste an Kleidung und manchmal auch für kleine Genüsse. Leider flossen diese Gelder unregelmäßig und konnten die wachsenden Schulden meiner Mutter nicht decken. Sie litt sehr unter der Trennung, war emotional labil und hatte Schwierigkeiten im Umgang mit Geld. Wenn Geld da war, wurde großzügig gelebt, bei Geldknappheit wurden wieder Schulden gemacht. Sie zögerte nicht, bei Nachbarn, Freunden, Bekannten und sogar bei meiner Klassenlehrerin um finanzielle Hilfe zu bitten. In diesen Momenten schämte ich mich zutiefst und sehnte mich danach, unsichtbar zu sein.

1959 – 1969

Nach längerer Zeit als Alleinerziehende entschied sich meine Mutter dazu, ihre...

Erscheint lt. Verlag 30.4.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-7598-0964-2 / 3759809642
ISBN-13 978-3-7598-0964-3 / 9783759809643
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