Der Friedhofswärter (eBook) -  Ron Rash

Der Friedhofswärter (eBook) (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
241 Seiten
ars vivendi (Verlag)
978-3-7472-0608-9 (ISBN)
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Eine hochatmosphärische Geschichte über Freundschaft und Verrat von »einem der besten lebenden amerikanischen Autoren« (New York Times) Blowing Rock, North Carolina, zu Beginn der 1950er Jahre. Der junge Blackburn Grant, seit seiner Kindheit von einer Polioerkrankung gezeichnet, arbeitet als einziger Friedhofswärter der kleinen Stadt in den Appalachen. Sein Leben mit den Toten passt gut zu seiner zurückhaltenden Art, und die gelegentlichen Momente des Unbehagens bringen ihn längst nicht so aus dem Konzept wie die Gespräche mit den Bewohnern der Stadt. Doch als sein einziger Freund Jacob für den Koreakrieg eingezogen wird, bekommt Blackburn die Aufgabe, sich um dessen schwangere Frau Naomi zu kümmern. Die sechzehnjährige, mittellose Naomi und Jacob sind seit ihrer Hochzeit, die gegen den Willen von Jacobs wohlhabenden Eltern vollzogen wurde, Ausgestoßene in Blowing Rock. Naomi und Blackburn kommen sich näher, und als Jacob im Krieg schwer verwundet wird, entsteht ein Plan, der das Leben von vielen Menschen erschüttern wird ...

Ron Rash, geboren 1953, ist Schriftsteller und Lyriker und veröffentlichte zahlreiche Romane und Short Storys. Er gilt als einer der bedeutendsten amerikanischen Gegenwartsautoren und unterrichtet an der Western Carolina University.

1


JACOB HATTE WACHDIENST, postiert am Ufer eines Flusses, der die beiden Armeen voneinander trennte. Die Nacht war kälter als alles, was er daheim in Watauga County je erlebt hatte. Diese Kälte kroch nicht nur unter die Haut. Sie schloss Finger und Füße wie in Eisen ein, brachte Zähne zum Klappern wie Glas kurz vor dem Zerspringen. Die Schichten von Wolle und Baumwolle, die er unter dem gefütterten Parka trug, konnten sie nicht abhalten. Seit Wochen wartete Jacob darauf, dass die Kälte aufhörte. Jetzt war es März geworden, aber dieser Ort scherte sich nicht um das, was im Kalender stand. Der Fluss war noch immer zugefroren. Jacob stellte sich vor, dass das Eis bis zum Grund hinunterreichte – ohne Strömung, die Fische unbeweglich, wie fixiert. Der Fluss hatte einen Namen, aber Jacob ließ nicht zu, dass er sich in seinem Gedächtnis festsetzte. Seit er in Pusan auf den Landungssteg getreten war, war es sein Ziel gewesen zu vergessen, nicht sich zu erinnern.

In Fort Polk hatte er alle möglichen Geschichten darüber gehört, was ihn in Korea erwartete. Vieles davon war völliger Unsinn: dass die Nordkoreaner rohe Ratten und Schlangen aßen und in der Dunkelheit sehen konnten wie Katzen. Aber es gab Geschichten, die der Wahrheit entsprachen, etwa dass sie bei Nacht in die Außenposten krochen, einem Soldaten die Kehle durchschnitten und dann wieder in der Dunkelheit verschwanden. Selbst wenn man sich auf der anderen Seite des Flusses befand, kamen sie und brachten einen einzigen Mann um, obwohl sie genauso gut drei oder vier hätten töten können. Sie hinterließen damit eine Botschaft: Dich heben wir uns für das nächste Mal auf.

Dass der Fluss gefroren war, spielte keine Rolle, das wusste Jacob. Zwei Nächte zuvor hatte ein Nordkoreaner den Wachtposten einer anderen Einheit enthauptet. Dazu war er über das Eis gekrochen. Jacob spähte in die flache, geräuschlose Schneelandschaft vor sich. Zumindest war heute Nacht Vollmond. Jägermond, so nannten sie ihn daheim. Er versilberte die Eiskristalle auf dem Fluss. Hätte er nicht das Messer eines Feindes fürchten müssen, Jacob hätte die schimmernde Schönheit dieses Augenblicks bewundert. Doch er konnte sich das nicht einmal für einen kurzen Moment erlauben. Er war entschlossen, dass Korea für ihn wie ein Haus sein würde, das er betrat und dann wieder verließ, die Tür für immer hinter sich verriegelt. Er musste nur überleben. Zwölf Tage zuvor war seine Einheit zum ersten Mal in Kampfhandlungen verwickelt gewesen. Aubert, ein Cajun aus Louisiana, war ins Bein geschossen worden. Die Kugel hatte seine Kniescheibe zertrümmert, und die Ärzte sagten, dass er den Rest seines Lebens einen Gehstock brauchen würde. Das sei kein Problem, hatte Aubert geantwortet. Er würde lebend zu seiner Frau und seinen Kindern heimkehren, und ihm würde endlich wieder warm sein.

Nach Hause kommen war das Einzige, worauf es ankam. In ihrem letzten Brief hatte Naomi geschrieben, Dr. Egan zufolge würde das Baby im Mai geboren werden. Dieser Gedanke war ein Talisman, der Jacob immer begleitete. Er konnte nicht sterben. Gott oder das Schicksal, was auch immer, hatte Naomi und ihn zu einem gemeinsamen Leben bestimmt. Wie sonst wäre dieser Abend in Blowing Rock vor zwanzig Monaten zu erklären? In genau dem Moment, in dem er am Yonahlossee-Kino vorbeigegangen war, hatte Naomi, eine völlig Fremde, mit einer Münze in der Hand neben der Abendkasse gestanden. Hätte er in diesem Augenblick zur Anzeigentafel hochgeschaut oder hätte ihm ein Freund auf der anderen Straßenseite etwas zugerufen, Jacob hätte sie nie bemerkt. Sie hatte weder Ohrringe noch Rüschensöckchen getragen, weder bunte Schleifen noch Armreifen wie alle anderen Mädchen, die er kannte. Aber solche Accessoires hätten nur von ihrem Gesicht abgelenkt, von der glatten Haut und den hohen Wangenknochen, den bemerkenswerten blauen Augen und den langen schwarzen Haaren. Liebe auf den ersten Blick. Ihr hübsches Aussehen war nur ein Teil dessen gewesen, was ihn gebannt hatte. Naomi hatte eine Zehn-Cent-Münze zwischen Daumen und Zeigefinger gerieben und erst auf das Poster und dann auf die Münze geschaut, während die anderen Leute an ihr vorbeigingen, ohne einen Gedanken an den Eintrittspreis zu verschwenden.

So vieles war in jenem Moment in Gang gesetzt worden, unter anderem ein gemeinsames Leben, das jetzt für Jacobs sichere Heimkehr sorgen würde. Schon dass Naomi an jenem Abend überhaupt in Blowing Rock gewesen war, grenzte an ein Wunder; ihr Schwager hatte zufällig ein Exemplar des Nashville Tennessean gekauft und die Stellenanzeige bemerkt: Zimmermädchen für die Saison gesucht. Green Park Inn. Blowing Rock, North Carolina. War nicht auch das ein Wink des Schicksals gewesen? Viele Soldaten brachten von zu Hause etwas mit, das sie schützen sollte, eine Hasenpfote, eine Glücksmünze, eine Spielkarte – warum also nicht eine Überzeugung? Aber vergangene Woche war Doughtery, trotz zweier Kruzifixe und einer Streichholzschachtel mit vierblättrigen Kleeblättern, auf eine Mine getreten und getötet worden. Deshalb hielt Jacob seinen Blick auf den Fluss gerichtet, lauschte, ob das Rascheln von Kleidung auf dem Eis oder das Kratzen eines Fingernagels zu hören war.

In den meisten Nächten heulte der Wind über die harsche Landschaft, aber heute Nacht herrschte eine seltene, beunruhigende Stille. Der Rest der Einheit campierte fünfzig Meter hinter ihm; die Choseniabäume verschluckten Schnarchgeräusche und Traumgemurmel. Ob die Nordkoreaner jemals schliefen? Vielleicht warteten sie nur, bis man selbst schlief. Die Stille war ebenso greifbar wie die Kälte. Die Dorfbewohner glaubten, dass die Geister toter Amerikaner in diesen Bergen umgingen. Gwisin nannten sie sie. Die meisten Männer lachten darüber, doch aufgrund der Gegend, in der er aufgewachsen war, lachte Jacob nicht.

Er wünschte, er könnte eine rauchen, aber das Aufleuchten der Streichholzflamme oder das Glimmen der Zigarettenspitze konnten einen umbringen. Seit einer Stunde hatte Jacob sich kaum geregt. Eine unmerkliche Bewegung des Gewehrs, ein langsames Wenden des Kopfes, sonst nichts, ganz wie Sergeant Abrams es ihnen geraten hatte. Seine Finger tasteten nach dem Kaugummi in der Tasche seines Parkas, bis ihm einfiel, dass er ihn vor zwei Tagen einem Kind im Dorf geschenkt hatte. Jacob blickte wieder auf. Nur der Mond; kein einziger Stern. Er hatte das Gefühl, als hätten sich beide Armeen still zurückgezogen und ihn allein an diesem gefrorenen Fluss zurückgelassen.

Dann, wie um ihn eines Besseren zu belehren, eine Bewegung auf der gegenüberliegenden Seite des Eises. Jacob veränderte die Position des Gewehrs, legte seine behandschuhte Hand auf den Abzug. Er beobachtete das ferne Ufer, die vereisten Untiefen. Nichts regte sich. Nach stundenlangem Wachdienst konnte ein Soldat sich leicht etwas einbilden, sogar halluzinieren. Der Wind wurde zu einem Wispern, Schatten verdichteten sich zu menschlichen Leibern. Jacob legte seine Finger wieder auf den Schaft der Waffe. Wenn man Wachdienst hatte, war nur eines schlimmer als das Alleinsein: die Angst davor, es nicht zu sein. Die Posten hatten unterschiedliche Strategien, mit dieser Furcht umzugehen. »Ich stelle mir vor, ich wäre kein Mann, sondern ein Baum, und mein Herz befindet sich in der Mitte des Baumes, ganz innen im innersten Ring«, hatte Sergeant Abrams ihnen erzählt. »Wenn ihr euch richtig verwurzelt, schauen sie euch an und sehen bloß einen Baum. Sie gehen direkt an euch vorbei und bemerken euch nicht.«

Jacob stellte sich vor, wie ihn das Farmhaus umgab, in dem er mit Naomi lebte. Zuerst die Balken und das Gerüst, dann Wände, Böden und Fenster, Dach und Terrasse. Jeder Nagel und jedes Brett an seinem Platz, und Jacob in der Mitte von allem. Herzholz nannten die Bauleute diesen zentralen Balken, und das war es, was ihn beschützte.

Jacob ließ seinen Blick von links nach rechts schweifen. Daheim in North Carolina hatte er breite Bäche gesehen, die vom Eis bedeckt waren, aber niemals einen ganzen Fluss. Wie er Naomi geschrieben hatte, hatte er nicht gewusst, was Kälte bedeutete, bis er hierhergekommen war. Oder Einsamkeit. Erneut dachte er daran, dass sie eine Familie gründen würden. Naomi würde erst im Mai achtzehn werden. Obwohl ihre Schwester Lila ihr erstes Kind mit siebzehn bekommen hatte, beunruhigte der Gedanke ihn. Seine Eltern hätten helfen können. Ein volles Jahr lang hatten er und Naomi, nachdem sie durchgebrannt waren, bewiesen, dass sie auch ohne ihre Unterstützung ein gutes Leben für sich schaffen konnten. Sie hatten Geld gespart; als Dr. Egan sagte, Naomi solle nicht länger schwer heben, hatten sie es sich leisten können, dass sie ihren Job in der Wäscherei des Krankenhauses aufgab. Dann, im Dezember, als Naomi im vierten Monat gewesen war, kam der Einberufungsbefehl.

»Du hast geschworen, nie wieder einen Fuß in dieses Haus zu setzen«, hatte sein Vater gesagt, als Jacob auf der Veranda vor dem Eingang stand. Im Flur hallten die Fußtritte seiner Mutter. Die Hand seines Vaters ruhte auf dem Türknopf, aber er öffnete die Tür etwas weiter, damit sie sehen konnte, wer da war. Auf dem Kaminsims hinter seinen Eltern stand die Fotografie von Jacob und Veronica Weaver beim Schulball, das einzige Bild, das sie nicht entfernt hatten. Das war gehässig und zugleich so, als wollten seine Eltern verkünden, dass sich nichts ändern würde, solange sie es nicht gestatteten.

»Ich weiß, dass die Dinge zwischen uns nicht gut gelaufen sind, aber ich möchte, dass es anders wird.«

»Wir haben dir gesagt, was du dafür tun musst«, antwortete sein Vater, »und du...

Erscheint lt. Verlag 2.5.2024
Übersetzer Sigrun Arenz
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-7472-0608-5 / 3747206085
ISBN-13 978-3-7472-0608-9 / 9783747206089
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