Heimliche Weisheit (eBook)

Mystisches Leben in der evangelischen Christenheit

(Autor)

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2024 | 1. Auflage
416 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61455-8 (ISBN)

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Heimliche Weisheit -  Walter Nigg
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Mystik als das Gebiet am Grenzrand des Glaubens, das Gebiet, in dem die Seele Atem holt zwischen Wort und Wort (Martin Buber), spielte in der katholischen Tradition schon immer eine wichtige Rolle (neben oder entgegen der offiziellen Lehre), und zahlreiche Mystiker ­ von Augustin bis Ignatius ­ wurden heiliggesprochen. Wie steht es mit dem Protestantismus? Kennt auch er, neben der aufs biblische Wort ausgerichteten Lehre, mystische Strömungen? Dieser Frage ist Walter Nigg als ein wahrer Entdecker nachgegangen. Dargestellt werden folgende Mystiker des 16. bis 19. Jahrhunderts: Martin Luther, Thomas Müntzer, Kaspar Schwenckfeld, Sebastian Franck, Valentin Weigel, Johann Arndt, Jakob Böhme, Angelus Silesius, Johann Georg Gichtel, Georg Fox, Peter Poiret, Gottfried Arnold, Gerhard Tersteegen, Friedrich Christoph Oetinger, Michael Hahn, Novalis.

Walter Nigg, geboren 1903 in Luzern, war Professor für Kirchengeschichte in Zürich und wirkte als protestantischer Pfarrer im zürcherischen Dänikon, wo er 1988 starb. Neben Heiligen, Ordensgründern, Propheten und Mystikern handeln seine Bücher auch von Künstlern und Dichtern und nicht zuletzt von Ketzern, die er als »verunglückte Heilige« verstand.

Vor etlichen Jahren besuchte ich das Kloster «La Valsainte», um ein konkretes Bild vom Leben der Kartäuser zu bekommen. Der Gastpater beantwortete mit einer rührenden Geduld meine vielen Fragen. Auch gab er bereitwillig Auskunft über Dinge, die ihm offensichtlich nicht angenehm waren, so zeigte er mir einen Bußgürtel, den die Mönche heute noch tragen. Zuletzt sagte der freundliche Pater: «Haben Sie nun alles gefragt, was Sie wissen wollten?» Auf meine Erwiderung, das Leben der Kartäuser stehe jetzt ganz lebendig vor meinem Geiste und ich hätte wirklich nichts mehr auf dem Herzen, rückte der Pater seinen Stuhl etwas näher an meine Seite und sprach zu mir: «Gut, aber nun erzählen Sie mir doch etwas von dem Gottesleben in Ihrer evangelischen Kirche». Die Frage kam aus der lautersten Gesinnung, und doch versetzte sie mich in eine nicht geringe Verlegenheit. Unwillkürlich schnappte ich nach Luft, hilflos irrten meine Blicke in der kahlen Mönchszelle umher, und ich fühlte, wie mir das Blut in die Wangen schoß. Der Pater hatte mich nicht nach den theologischen Strömungen im Protestantismus gefragt, sonst hätte ich ihm einige Stunden von dem Problem der Enteschatologisierung, von der dialektischen Theologie und ihrer Rückkehr zu den Reformatoren, von der Diskussion zwischen Theologie und Naturwissenschaft usw. erzählen können. Aber darnach hatte mich der Pater nicht gefragt, die gelehrten Auseinandersetzungen der Theologen beschäftigten ihn sichtlich nicht sonderlich. Vom Gottesleben im Protestantismus begehrte er zu hören, wie er auch mir ausschließlich von der religiösen Lebensführung im Kartäuserkloster berichtet hatte. Es ist mir entfallen, was ich in meiner Verlegenheit gestammelt habe; meine Antwort war kläglich und stand in keinem Verhältnis zu der Tiefe seiner Ausführungen.

Nach Beendigung des Besuches fuhr ich zu Tal, voller Eindrücke von der ernsten Frömmigkeit des klösterlichen Lebens in der Kartause und im Bewußtsein, daß mir eines der stärksten und unvergeßlichsten Erlebnisse widerfahren war. Noch lange sah ich vor mir die leuchtenden Augen des von einer inneren Fröhlichkeit erfüllten Paters, der mich in eine mir bis dahin unbekannte Welt hineinschauen ließ. Nie mehr ist das von einer wirklichen Gottesstille erfüllte Kloster aus meiner Erinnerung entschwunden, und noch oft habe ich in schlaflosen Stunden an das mitternächtliche Gotteslob der Kartäusermönche denken müssen. Aber ebenso brannte in meinem Gewissen das Versagen gegenüber der Aufforderung des Paters, ihm vom Gottesleben in der evangelischen Christenheit zu erzählen. Nicht schmerzte mich, daß ich eine beliebige Frage nicht zu beantworten vermocht hatte. Kein Mensch kann über alles Auskunft geben, und man muß nur wenig von Sokrates begriffen haben, um nicht beständig vom kleinen Umfang unseres Wissens durchdrungen zu sein, das in eine viel größere Unwissenheit eingetaucht ist. Wäre es eine Nebenfrage gewesen, dann hätte ich mir mein beschämendes Stottern ohne weiteres verziehen, aber ich war in einer zentralen Frage die Antwort schuldig geblieben. Ich war nicht fähig gewesen, über das Gottesleben in der evangelischen Christenheit ein anschauliches Bild zu zeichnen. Es war eine Schmach und eine Schande, daß ich nicht imstande war, dem Wunsche des Mönches zu entsprechen, und das Versagen bohrte unablässig in mir.

Gab es kein Gottesleben in der evangelischen Kirche, wie es die Kartäuser Tag und Nacht so eindrucksvoll in ihrem Kloster lebten? Das konnte doch gar nicht der Fall sein! Vielmehr wußte ich nichts oder doch nur ganz ungenügend davon. Immer wieder beschäftigte mich die Frage, was ich dem Pater hätte erzählen können und sollen. Nach längerer Überlegung faßte ich schließlich den Entschluß, mit aller Leidenschaft dem Gottesleben in der evangelischen Christenheit nachzuspüren. Sicherlich war etwas davon in den Menschen vorhanden, die ihr eigenes Leben in verzehrendem Helferwillen an ihren schwachen und gefährdeten Mitmenschen verströmten, und an solchen von der Liebe Christi durchdrungenen Gestalten ist die evangelische Christenheit nicht arm. Noch unmittelbarer leuchtete es mir aber aus den in einer mystischen Verbindung mit dem Allmächtigen stehenden Christen entgegen. Im mystischen Leben blüht die Gottestrunkenheit wie eine Rose auf, und wenn von ihr ein Zeugnis abgelegt werden sollte, war meine Aufgabe klar umrissen: die Mystik im evangelischen Raume darzustellen.

Bei den Vorarbeiten zu der Schilderung wurde mir freilich bald eine unumgängliche Voraussetzung klar. Das mystische Leben ist von den theologischen Streitigkeiten scharf zu trennen und kann mit ihren Kategorien gar nicht erfaßt werden. Auf den tieferliegenden Unterschied vom verborgenen Leben mit Gott und der Tätigkeit der Theologen ist bereits die in einem unmittelbaren Gottesverhältnis stehende Jeanne d’Arc aufmerksam geworden, als sie zu den sie prüfenden Männern sagte: «Gott hat mehr Bücher als ihr», und nach einer Weile des Nachdenkens noch hinzufügte: «Gott besitzt ein Buch, in das noch nie ein Priester blicken durfte1.» Ein unheimliches, abgrundtiefes Wort, dem gegenüber man nur erschrocken zurückfahren kann, wirft es doch beinahe alle theologische Betrachtung mit einem Schlag über den Haufen. Das geheimnisschwere Gottesbuch, in das nach der Jungfrau von Orléans noch nie ein Priester hineinschauen durfte, handelt vor allem vom mystischen Leben. Damit war eine erste Einsicht gegeben: wer nur ein wenig in dem göttlichen Buch zu lesen wünscht, hat nicht nur den theologischen Rock vorher auszuziehen, er muß sogar das rein wissenschaftliche Interesse zurückstellen, denn die Gelehrten durften so wenig wie die von sich eingenommenen Kleriker hineinblicken. Sowohl angesichts der theologischen Besserwisserei als der bloß gelehrten Neugierde schließen sich die Deckel des Buches, ehe man nur einen Buchstaben davon erhascht hat. Ohne Bild gesprochen, möchte ich keine Unklarheit darüber aufkommen lassen, daß die Darstellung des mystischen Lebens in der evangelischen Christenheit keine Forschung um der Forschung willen ist. Natürlich kann jeder Abschnitt historisch genau belegt werden, und nicht die kleinste Begebenheit ist erfunden. Die Lektüre eines mystischen Buches erschließt sich immer nur einer hungernden und dürstenden Seele. Es öffnet sich einzig dem Menschen, der darin eine Anleitung für sein eigenes Innenleben sucht und die mystische Gottesbeziehung in seinem Dasein zu realisieren bemüht ist. Das Gottesleben ist zudem von einer solch unergründlichen Reichhaltigkeit, daß es buchmäßig nie auszuschöpfen ist. Deswegen war es auch nicht möglich, eine Geschichte der evangelischen Mystik zu schreiben, die nur den leisesten Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Auch wenn noch Daniel von Czepko, Emanuel Swedenborg, Jung-Stilling, Friedrich Oberlin, William Blake usw. in die Darstellung hätten einbezogen werden können, ohne die Arbeit allzu umfangreich anschwellen zu lassen, so wäre immer noch nicht der hundertste Teil erfaßt worden. Es sind nur einige Szenen, die Unermeßliches andeuten, und dabei sind sie doch bloß Abbilder, die weit hinter dem Urbild zurückbleiben.

Die vom mystischen Gottesleben erfüllten Christen wurden zu ihren Lebzeiten meistens verfolgt. Ausweisung und Bekämpfung an sich erfahrend, haben sie damit erneut die apostolische Rede bestätigt, daß alle, die gottselig leben wollen, Verfolgung erleiden müssen. Es verrät ein wenig tiefes Denken, sich darüber allzusehr zu verwundern, denn das Leiden ist immer ein Zeichen der Auserwählung. Unbegreiflich dagegen ist es, daß, nachdem diese Gottesmänner längst in die Ewigkeit eingegangen sind, sie noch heute in den kirchengeschichtlichen Werken als Sonderlinge, Phantasten und Schwärmer geschmäht werden. Vorurteile über Vorurteile werden über sie verbreitet, und keiner der gelehrten Männer denkt nur einen Augenblick an die Äußerung Christi, daß «der Mensch einst Rechenschaft geben muß von jedem unnützen Wort, das er geredet hat», und erst recht von jeder bösartigen und verleumderischen Aussage. Doch hat sich die namentlich in der Zwischenkriegszeit bis zur Schalheit nachgesprochene Meinung von der Unvereinbarkeit von Mystik und Evangelium inzwischen in Dunst aufgelöst, so daß sie heute keiner ausführlichen Widerlegung mehr bedarf. Sie ist auch eine bloß dogmatische Konstruktion, deren Urheber weder eine genaue geschichtliche Kenntnis vom mystischen Leben besaßen, noch aus eigener Erfahrung über das Gottesleben sprechen konnten. An Stelle der verständnislosen Ablehnung der Mystik hat eine ehrfürchtige Sehnsucht nach der heimlichen Weisheit zu treten, wie sie aus den Worten zweier Männer hervorgeht, die sich näher mit der Mystik beschäftigt haben. Nikolai Berdjajew schreibt gegen die Furcht vor der Mystik als einem Herd der Häresien: «Die Mystik hebt die Dogmen nicht auf, sie geht aber in eine größere Tiefe als jene, für welche die dogmatischen Formeln ausgearbeitet werden. Die Mystik ist tiefer und urtümlicher als die Theologie2.» Ebenso hat Martin Buber bezeugt: «Glaube und Mystik sind nicht zwei Welten, obgleich in ihnen immer wieder die Tendenz, zu zwei selbständigen Welten zu werden, die Oberhand gewinnt. Die Mystik ist das Gebiet am Grenzrand des Glaubens, das Gebiet, in dem die Seele Atem holt zwischen Wort und Wort3.» Die Zeit ist überfällig, die uneinsichtige Befehdung der Mystik im evangelischen Raum abzubrechen und statt dessen zu erkennen, daß zu den tiefsten Schichten, zu denen wir Menschen überhaupt vorzudringen imstande sind, das Erleben des Mystischen gehört. Wem das Organ hiefür fehlt, der ist in religiöser Beziehung tot, und mag er jetzt noch so mit...

Erscheint lt. Verlag 24.4.2024
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte Evangelisch • Martin Luther • Mystik • Religion • Theologie
ISBN-10 3-257-61455-1 / 3257614551
ISBN-13 978-3-257-61455-8 / 9783257614558
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