Vincent van Gogh - Der Blick in die Sonne (eBook)

Ein biographischer Essay

(Autor)

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2024 | 1. Auflage
192 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61454-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Vincent van Gogh - Der Blick in die Sonne -  Walter Nigg
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Ein Leben lang hat sich der Theologe Walter Nigg mit großen religösen Denkern befasst und seine Liebe scheint dabei eher den Unheiligen als den Heiligen, eher den Ketzern als den Folgsamen zu gehören. In Vincent van Gogh trifft der unorthodoxe Theologe auf eine der unorthodoxesten Gestalten des 19. Jahrhunderts, einen genialen Maler, der gleichzeitig Ketzer ist, Denker, Gottsucher und Prophet, der sein Leben lang zu Gott strebt und mit diesem doch immer wieder in erbittertem Streit liegt. Wie Tolstoi sagt sich van Gogh schließlich von der Kirche und den Priestern los und lebt nach den Gesetzen einer Religion, die er ganz aus sich und der Natur schöpft.
Walter Niggs Unterfangen, den Lebensweg von Vincent van Gogh nachzuzeichnen, scheint ehrgeizig über kaum einen Maler ist so viel geschrieben worden wie über van Gogh, wenig Bilder sind bekannter als dessen Sonnenblumen. Doch gerade diese Fülle von Literatur macht Niggs Buch um so lesenswerter. Denn wie hier van Goghs Leben für einmal aus einer ganz anderen Perspektive geschildert wird, nämlich der religiösen, und wie sehr religiöse und künstlerische Entwicklung immer wieder miteinander verschmelzen das ist in solcher Originalität und Eindringlichkeit nur selten zu lesen.'

Walter Nigg, geboren 1903 in Luzern, war Professor für Kirchengeschichte in Zürich und wirkte als protestantischer Pfarrer im zürcherischen Dänikon, wo er 1988 starb. Neben Heiligen, Ordensgründern, Propheten und Mystikern handeln seine Bücher auch von Künstlern und Dichtern und nicht zuletzt von Ketzern, die er als »verunglückte Heilige« verstand.

»Ich fühle, wie Vater und Mutter instinktiv – ich sage nicht bewußt – über mich denken. Es besteht eine ähnliche Scheu davor, mich ins Haus zu nehmen, wie wenn man einen großen zottigen Hund im Haus haben sollte. Er wird mit nassen Pfoten ins Zimmer kommen – und dann ist er überhaupt zottig. Er wird einem jeden in den Weg laufen. Und er bellt so laut. Kurzum, er ist ein schmutziges Vieh. Gut – aber das Tier hat eine menschliche Geschichte und, obwohl ein Hund, eine Menschenseele, und zwar eine so zartfühlende, daß er selbst fühlt, wie man über es denkt, was ein gewöhnlicher Hund nicht kann. Und ich, indem ich zugebe, daß ich eine Art Hund bin, lasse sie bei ihrer Würde.«1 Unter diesem Gesichtspunkt erfaßte der ungepflegte und struppige Vincent van Gogh sich selbst. Begreiflich, daß die Menschen vor ihm unwillkürlich einen Schritt zurückwichen. Sogar die Eltern und nicht nur die fein kultivierten Kunstliebhaber erlebten dies so. Vincent hat es selbst in einem Brief an seinen Bruder Theo geschrieben, und seine Zeilen sind nicht aus einer übertriebenen Sensibilität hervorgegangen. Sein Leben und Werk, unvoreingenommen betrachtet, lösen zunächst einen leichten Schrecken aus.

Man spürt noch heute in seinen Selbstbildnissen einen kleinen Nachhall davon. Er hat verschiedene gemalt, eines übertrifft das andere an Ungewöhnlichkeit, und keines huldigt nur der geringsten Verschönerungstendenz. Eine beinahe altrömische Härte spricht aus dem Selbstbildnis, das die Widmung an Gauguin trägt, und welch menschliche Wärme strahlt das Selbstporträt mit der Pfeife aus, während andere Darstellungen von ihm wiederum eine geradezu männliche Schönheit in sich bergen. Vor einem seltsamen Hintergrund, der auf die Unendlichkeit hinweist, hebt sich der Kopf eines Mannes ab, mit wild aussehendem rötlichem Haar. Ein durchdringender Blick, der sich in seiner Unbestechlichkeit nichts vormachen läßt, schaut dem Betrachter entgegen. Nein, der magisch-realistische Eindruck, der aus diesen Selbstbildnissen spricht, ist mit Worten schlechterdings nicht wiederzugeben. So also hat van Gogh ausgesehen, denkt man überrascht, und tatsächlich vergißt man dieses Antlitz nie wieder, hat man es einmal mit dem inneren Auge gesehen. Genau so ergeht es einem mit der Kunst dieses Menschen: fremd und vertraut zugleich, erweckt sie im Betrachter eine zwiespältige Empfindung.

Die Zeitgenossen Vincents konnten sich nicht ohne weiteres in diese ungewohnte Kunst hineindenken. Sie war so ganz verschieden von dem, was Maler sonst zu schaffen pflegten. Hugo von Hofmannsthal erzählte einmal, daß ihm diese Bilder im ersten Augenblick grell und unruhig, roh und sonderbar vorkamen, so daß er sich zunächst zurechtfinden mußte, um überhaupt die Einheit dieser Schöpfungen zu sehen. Verständlich, daß auch die Künstler der alten Schule, die an ihren Bildern oft ein bis zwei Jahre malten, entrüstet sagten: »So’n van Gogh schmiert da so’n Sonnenuntergang in einem Nachmittag zusammen, was soll’n das?«2 Unmöglich kann vom künstlerischen Standpunkt aus übersehen werden, daß die Gemälde der Impressionisten einen größeren Charme besitzen als diejenigen Vincents. Bei den impressionistischen Malern begegnet man keinen unfertigen und ungedeckten Leinwandpartien, keinen stehengelassenen Überarbeitungen und vertuschten Roheiten wie bei van Gogh. Es gibt vielleicht nicht ein Gemälde Vincents, auf das die Kategorie der Vollendung zutreffen dürfte.

Im Gegensatz zu dem befremdenden Eindruck sprechen jedoch Vincents Bilder von einem Lebensgefühl, das der moderne Mensch sehnsuchtsvoll als sein eigenes sucht und empfindet. Es ist kein Zufall, daß die Reproduktionen von Vincents Bildern in den Kunsthandlungen immer noch zu den am meisten verlangten Blättern gehören. Der holländische Künstler übt eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus; man kann sich des nachhaltigen Eindruckes seiner Schöpfungen nicht erwehren, denn seine Bilder verfolgen den Menschen förmlich. Sie ergreifen den Betrachter und lassen ihn nicht mehr los. Karl Jaspers redet sogar von einem »Stoß«, den er durch diese Bilder erhalten habe, und Meier-Graefe gesteht: »Einmal glaubten wir alle, ihn nachahmen zu müssen, auch wir, die nicht malten, glaubten, in dieser Demut und Einfalt, in diesem Glauben Rettung zu finden. Er brachte uns von einer Seite, was Dostojewskij von vielen brachte, stand uns womöglich noch näher.«3 Die Anerkennung van Goghs nahm ungeahnte Formen an, ja eine Zeitlang gab es eine wahre Van-Gogh-Manie, die wie eine Epidemie um sich griff. Seine sich nicht an der Schönheit weidenden Landschaftsbilder drücken die Bewegung und das Flammende der Natur lebendig und lesbar aus, und diese Wesenseigentümlichkeit ist es, die den heutigen Menschen unmittelbar anspricht und ihn veranlaßt, in van Gogh und auch in Cézanne die Begründer der modernen Malweise zu sehen.

Die weitverbreitete Begeisterung für van Gogh bei der offenkundigen Unvollkommenheit seiner Bilder bleibt ein Rätsel. Als solches wurde Vincent auch empfunden, über den man schon das Urteil fällte: »Seine Gemälde, in denen Greco, Goya und Daumier, die unheimlichsten Maler des neueren Europa, zu schreckhafter Wiedergeburt auferstanden sind, wirken wie gespenstige Alpdrücke, zermalmende Karikaturen, peinigende Verzeichnungen, diabolische Versuchungen; bisweilen denkt man mit Schauder, so müßten Klopfgeister malen.«4 Vincent war von der Gewalt des neuzeitlichen Lebens erfaßt; er hat die Wahrheit seines Jahrhunderts mit völligem Bewußtsein in sich aufgenommen, und daher fühlt der moderne Mensch instinktiv, daß in diesen Bildern sein eigenes Schicksal wiedergegeben ist, obschon van Gogh die Natur ganz unmondän und im deutlichen Gegensatz zu den Impressionisten aufgefaßt hat.

Der moderne Mensch vermochte sich die rätselvolle Erscheinung Vincents anzueignen, weil er sich seiner unter dem Aspekt der Intensität bemächtigte. Van Gogh war oft von der Wirklichkeit stark fasziniert, in fieberhaftem Arbeitseifer drückte er dann die Farben direkt aus den Tuben auf die Leinwand und gab mit dieser brennenden Malweise dem leidenschaftlichen Lebensgefühl des modernen Menschen Ausdruck. Zweifellos verkörpert Vincent eine dramatische Existenz, in der mit seltener Reinheit Leben und Kunst vom gleichen Formwillen gestaltet wurden. Ohne Zwang läßt sich sein bewegtes Dasein unter dem Gesichtspunkt der Dynamik betrachten. Wenn auch nach Plato alle Kunst dem Menschen nur durch eine Art Raserei zuteil wird, so genügt es trotzdem keineswegs, van Goghs Existenz »einem Leben in Leidenschaft« gleichzusetzen. Diese Darstellung der Romanciers ist zu einschränkend, sie bleibt am Vitalen hängen und übersieht, daß die Intensität nur ein nach außen sichtbarer Ausdruck eines inneren Vorganges ist. Wofür empfand Vincent solche Leidenschaft? War er lediglich ein Mensch, der von einem Dämon getrieben wurde? Diese Auffassung ist doch nur die halbe Wahrheit, eine Wahrheit, die nicht imstande ist, den Hintergrund aufzuhellen, aus dem die Gestalt heraustritt. Jedenfalls war es keine blinde, karamasowsche Leidenschaft, verfangen in der eigenen Intensität, sondern eine geistige Leidenschaft, die sich selbst verstand. Gerade auf dieses Selbstverständnis muß sich die Aufmerksamkeit richten, will man dem Sinn von van Goghs Existenz näherkommen.

Van Gogh reicht über die vitale Betrachtungsweise weit hinaus, seine Erscheinung durchbricht alle gewöhnlichen Maßstäbe. Er entzieht sich der bloß rationalen Erfassung, und es gibt kein traditionelles Schema, das auf ihn angewendet werden könnte. Das Wort Goethes über Shakespeare gilt auch von ihm: »Man kann gar nicht über ihn reden, es ist alles unzulänglich.« Da van Gogh noch jenes ursprüngliche Staunen kannte, das der Anfang allen echten Philosophierens ist, und er mit seiner Kunst »an unsern Instinkt für das Metaphysische appelliert«, so kann sein innerstes Wesen nur mit Kategorien erschlossen werden, die eigens für ihn erfunden werden müssen.

Selbstverständlich malte Vincent Bilder. Das will besagen, er malte weder eine Weltanschauung noch ein Lehrsystem. Das ist eine nicht zu bestreitende Feststellung. Ein Kunstwerk muß in erster Linie künstlerisch gesehen werden; doch sei sogleich hinzugefügt, daß diese künstlerische Betrachtung mit den traditionellen Kategorien der Ästhetik nicht identisch ist. Vincent war alles andere als ein ästhetischer Mensch. Wie hätte er dann von sich die Vorstellung eines zottigen Hundes haben können, der mit nassen Pfoten das Zimmer beschmutzt und laut bellt? Van Gogh selbst hegte den Argwohn, es handle sich bei seiner Malerei womöglich gar nicht um Kunst, sondern um etwas anderes. Dieses andere ist nicht leicht zu beschreiben. Sein Werk ist keine schöngeistige Angelegenheit, sondern, man ist versucht zu sagen, eine Überwindung der Kunst durch die Kunst. Wie alle großen Schöpfer rang Vincent letztlich um eine tiefgehende Deutung des Daseins. Seine Malerei ist die Geschichte des Ringens um eine neue Lebensform, die der seelischen Situation des modernen Menschen entspricht und die auflösenden Tendenzen der Neuzeit durch eine neue Synthese überwinden will. In van Goghs Kunst ist etwas ausgesprochen Metaphysisches, es vollzieht sich in ihr eine neue Sinngebung des Lebens, und der Betrachter wird vom Unbedingten ergriffen. Van Goghs Lebensentwurf hat die Menschen sogar dazu geführt, seine Malerei, der vielleicht die letzte Vollendung fehlt, zu überschätzen; willig übersahen sie die kleinen Unvollkommenheiten über dem Drama seiner menschlichen Existenz.

Vincent ist ein Mensch, der eine Passion erlitten hat....

Erscheint lt. Verlag 24.4.2024
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
ISBN-10 3-257-61454-3 / 3257614543
ISBN-13 978-3-257-61454-1 / 9783257614541
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