Bittere Sonne -  Lilia Hassaine

Bittere Sonne (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
182 Seiten
Lenos Verlag
978-3-03925-712-6 (ISBN)
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Saïd wird Ende der fünfziger Jahre in einem Bergdorf in Algerien für die damals florierende Autoindustrie in Frankreich angeworben. Nach fünf entbehrungsreichen Jahren kann er die Familie in seine Sozialwohnung in einem Vorort von Paris kommen lassen. Nadscha und ihre drei Töchter reisen voller Freude und Zuversicht in die neue Welt. Saïds älterer Bruder Kader war bereits mit Ève, einer Französin aus bürgerlicher Familie, verheiratet. Nachdem Nadscha nochmals schwanger geworden ist, beschließen sie und Saïd, das Baby Kader und Ève zu überlassen, da diese keine Kinder bekommen können. Doch unerwartet bringt Nadscha Zwillinge zur Welt. So werden Ève und Kader zu Daniels Eltern, während Amir bei Nadscha und Saïd aufwächst. Dass sie Brüder sind, bleibt ein streng gehütetes Familiengeheimnis. Lilia Hassaine lässt in einem facettenreichen Panoptikum ein lebendiges, sensibel gezeichnetes Bild über das Zusammenleben in den heute problembehafteten Banlieues von Paris während der fünfziger bis Ende der achtziger Jahre entstehen und zeichnet berührende Porträts der starken Mütter und ihrer selbstbewussten Töchter, die in der neuen Heimat ihre Träume zu verwirklichen suchen.

Lilia Hassaine, geboren 1991, ist eine französische Journalistin, Schriftstellerin und Fernsehredakteurin. Nach einem Literaturstudium schloss sie 2015 am Institut français de presse mit einem Diplom ab. Sie arbeitete für arte, Le Parisien und Le Monde, ab 2017 für die Sendung 'Quotidien' (TMC). 2019 veröffentlichte sie ihren ersten Roman, 'L'?il du paon'. 'Soleil amer' ist ihr zweiter Roman, er wurde mit dem Prix littéraire de la Ville de Caen ausgezeichnet und schaffte es in die Vorauswahl für den Prix Goncourt.

1964


I


Der Krieg war vorüber und hatte seinen Teil Schweigen und Geheimnisse angeschwemmt. Saïd arbeitete jetzt schon fünf Jahre in Frankreich. Er war vom Handlanger zum angelernten Arbeiter aufgestiegen; er wusste, weiter würde er nicht mehr kommen. Sein einziger Stolz bestand darin, dass er genug Geld gespart hatte, um seine Familie nachzuholen.

Nadscha hatte sich vorgestellt, in Paris sei alles leichter. Auf dem Schiff von Algier nach Marseille hatte sie die restlichen Datteln an die Vögel verfüttert, überzeugt, dass es ihren Kindern an nichts mehr fehlen würde. Der Horizont war wolkenlos. Das wahre Leben begann.

Sie hatte oft an Frankreich gedacht, an den Komfort und den Wohlstand, den sie sich vorstellte.

Aber die Illusion hatte sie schnell aufgegeben: Die Wohnung war im dritten und letzten Stock eines heruntergekommenen Hauses. Sie hatten nur ein Schlafzimmer und ein Wohnzimmer mit Spüle. Vor allem war ihr Ehemann nicht mehr derselbe. Er war brutal gealtert, die Farbe seiner Augen hatte sich verändert, so stumpf und traurig waren sie geworden. Das war die Folge jahrelanger Fliessbandarbeit in den Tiefziehhallen der Fabrik. Saïd hatte die Barackensiedlungen erlebt, in Wohnheimen für Gastarbeiter genächtigt, Schlafsälen, in denen die Männer zu sechst oder zu siebt zusammengepfercht waren, ohne jede Privatsphäre. Man betrachtete sie schlicht als Werkzeuge, hatte sie von ihren Familien und den Freuden des Lebens abgeschnitten. Viele waren dem Alkohol verfallen.

Bei ihrer Ankunft fielen die Frauen der angestauten Frustration ihrer Männer zum Opfer.

Nadscha wurde schwanger.

An einem Samstag im Juli besuchte Saïd mit der ganzen Familie seinen grossen Bruder.

Kader wohnte in einem Einfamilienhaus mit Garten, Blumen im Garten und Bienen in den Blumen. Es war ein Haus, das herausstach in dem grauen Viertel, ein Haus aus Kalkstein und mit blau gestrichenen Fensterläden. Auf den Eingangsstufen streckte sich eine Katze in der Sonne. Der Ort hatte etwas Liebliches. Man drückte eine Holztür auf, und gleich dahinter war ein kleiner Tümpel. Maryam war elf, Sonia neun, Nour fünf. Maryam rannte los, die Fische mit Brot füttern. Sonia schnappte sich die Katze. Nour versteckte sich hinter den Beinen ihres Vaters.

Nadscha ging als Erste hinein. Sie hatte am Vortag matlu* gebacken und einen Korb voll mitgebracht.

Kader umarmte Saïd, den er seit Dezember nicht mehr gesehen hatte: Die beiden Brüder lebten zwanzig Kilometer voneinander entfernt, aber Kader verbrachte einen Teil des Jahres in Belgien – er arbeitete bei seinen Schwiegereltern in einem Schokoladenunternehmen, und eine der Fabriken war auf der anderen Seite der Grenze. Die Geschäfte liefen gut. Kader dankte Nadscha für das Brot: »Du bringst mir den Duft der Heimat! Wie geht es meinen Bergen?«, dann eilte er in die Küche und setzte Wasser auf. »Ève müsste jede Minute hier sein. Samstags hilft sie immer in der Bibliothek aus.«

Nadscha waren sofort die Bücher aufgefallen. Reihe um Reihe in den Wohnzimmerregalen, unordentliche Stapel auf den Kunstledersesseln. Noch nie hatte sie so viele gesehen. Sie trat näher und versuchte, die Titel zu entziffern. Nadscha sprach Französisch, aber konnte es weder lesen noch schreiben. Seit ihrer Ankunft ging sie einmal pro Woche mit anderen maghrebinischen Frauen in einen Kurs ins Gemeindezentrum. Sie lernte schnell. Und als sie mit der Hand die verstaubten ledernen Buchrücken entlangstrich, Duras, Gary, Céline, hörte sie draussen Reifenquietschen. »Das ist Ève«, rief Kader. »Sie hat gerade erst den Führerschein gemacht, es ist eine Katastrophe!«

Lachend kam Ève zur Tür herein. »Ich hab schon wieder eine Beule ins Auto gefahren! Hallo!«

Nadscha war überwältigt. Noch nie hatte sie eine Frau dieses Schlages getroffen. Ève trug einen Lederminirock und eine beige Satinbluse, die ihren Busen locker umspielte. Ève war blond, ihr Pony zu lang, das Gesicht mit Sommersprossen übersät.

Sie kam näher und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Sie sind also die berühmte Nadscha!« Die beiden Frauen tauschten einen liebevollen Blick. »Kommen Sie, ich muss Ihnen was zeigen. Dann sind die beiden unter sich«, schlug sie vor.

Ève stieg die Treppe hinauf, ohne erst die Stiefel auszuziehen, und Nadscha folgte ihr, sie konnte den Blick nicht von ihr abwenden. Sie beobachtete, wie sie sich bewegte, wie sie sich hielt, wie sie sprach. Alles war anmutig und verdiente Aufmerksamkeit. Sie hörte Ève nicht zu, sie analysierte Ève. »Das ist unser Schlafzimmer. Ich hab hier eine Kleinigkeit versteckt, die meiner Mutter gehörte.«

Ève kniete sich hin und holte eine Hutschachtel unter dem Bett hervor. Darin lag ein naturfarbenes Babystrickjäckchen mit weissen Perlmuttknöpfen in Muschelform. »Das ist sehr schön«, flüsterte Nadscha, die noch kein einziges Wort gesagt hatte. »Na bitte. Das ist für Sie!«, erwiderte Ève und machte die Schachtel abrupt wieder zu. »Und jetzt gehen wir raus. Das Wetter ist herrlich.«

Nadscha wurde von dem Wirbelwind Ève überrollt. Sie liess sich führen, traute sich nicht, etwas zu sagen, traute sich nicht einmal, die Geschenke abzulehnen. Die beiden Frauen gingen ins Wohnzimmer. Die Mädchen stippten Sablés in Milchkaffee. Nour hatte ein Bilderbuch über Musik entdeckt und blätterte ganz vertieft darin, unempfänglich für die Aussenwelt. Sie war so anders als ihre Schwestern. Vorhin hatte sie sich als Einzige geweigert, ihrer Tante einen Begrüssungskuss zu geben. Saïd hatte die Stirn runzeln müssen.

Nour stach heraus, sowohl wegen ihrer Schönheit als auch wegen ihres Charakters. Manchmal hatte man das Gefühl, dass eine alte Seele in dem Kinderkörper wohnte. Wegen des pechschwarzen Haars und der graublauen Augen hatten ihre grossen Schwestern ihr einen unschönen Spitznamen verpasst: Sie nannten sie sahira, die Hexe. Aber Nour schenkte ihnen keinerlei Beachtung, sie liebte einzig ihren Vater.

Nadscha fragte, ob sie den Tee servieren dürfe. Kader hatte schon alles vorbereitet: »Hier bin ich für die Küche zuständig!«

Saïd verschluckte sich fast.

Auf dem Heimweg schimpfte er über seinen Bruder: »Die Französin buttert ihn unter. Sie hat ihn zum Schaf gemacht …« Nadscha gab keine Antwort, und er setzte hinzu: »Das ist doch keine Frau! Kein Haushalt, keine Küche, keine Kinder!«

»Warum?«

»Warum was?«

»Warum hat sie keine Kinder?«

»Sie kann keine kriegen.«

Damit war das Gespräch beendet. Nadscha hatte grosses Mitleid mit dieser Frau, die ihr ohne langatmige Erklärungen ein Erinnerungsstück der eigenen Mutter geschenkt hatte. Sie hatte geschenkt, wie nur wahrhaft grosszügige Wesen zu schenken verstehen: einfach so.

II


Nadschas Bauch schwoll von Woche zu Woche mehr an, bald schon war sie im vierten Monat. Der Sommer ging zu Ende, und die Einsamkeit machte sie melancholisch. Ihre Töchter spielten den ganzen Tag draussen, und sie blieb allein zurück und wiederholte die immer gleichen Handgriffe. Staub wischen, fegen, putzen. Der Französischunterricht war in den Sommermonaten ausgesetzt, und nach der Geburt würde sie bestimmt keine Zeit mehr haben. Einzig Èves Gegenwart bot ihr Abwechslung. Ihre Beziehung hatte sich zu einer echten Freundschaft entwickelt.

Ève kam jeden Mittwoch. Jedes Mal brachte sie Kleidung mit, die sie nicht mehr anzog und die Nadscha nie im Leben tragen würde: Abendkleider, kurze Blusen, unter denen der Kugelbauch hervorguckte, und den ganzen Nachmittag lang spielten sie Anprobe. Ève kämmte Nadschas lange braune Locken und wickelte ihr Haarbänder um den Kopf. Sie malte ihr Rehaugen mit schwarzem Kajal.

»Du siehst aus wie diese italienische Schauspielerin … Claudia Cardinale … ich bring dir mal ein Foto mit. Ihr habt das gleiche Gesichtchen, und die Augenringe, die du nicht leiden kannst, aber die machen den Zauber grosser Schauspielerinnen aus. Deine Müdigkeit macht dich schön, Nadscha. Wir sollten die Spuren der Zeit lieben lernen, Falten, die wie Tränen sind, von einem ängstlichen Naturell zeugen und die Stirn zerfurchen. Am besten altern Gesichter, die gelebt haben. Ich werde wie meine Mutter altern, ihre Falten waren nichts anderes als das reine Alter, das verbitterte Alter einer Frau, die ihren Körper getrimmt hat, aus Angst, zuzunehmen oder dem Tod auch nur einen Quadratzentimeter Haut zu überlassen. Ich bin vom selben Schlag. Und ich werde enden wie sie, auf einem weiss bezogenen Bett, und in traumlosem Schlaf diese Welt verlassen.«

Ève hatte die Gabe, schöne, tiefsinnige Dinge leichthin und geradeheraus auszusprechen. Dann wechselte sie mit einem Schulterzucken das Thema, als hätte das eben Gesagte keinerlei Bedeutung.

An...

Erscheint lt. Verlag 22.4.2024
Übersetzer Anne Thomas
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-03925-712-9 / 3039257129
ISBN-13 978-3-03925-712-6 / 9783039257126
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