Das Leben ist die grösstmögliche Ruhestörung -  Julia Kohli

Das Leben ist die grösstmögliche Ruhestörung (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
294 Seiten
Lenos Verlag
978-3-03925-711-9 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
20,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Matylda ?elichowska, 58, ist nach ihrer Scheidung Multimillionärin geworden. Sie hat ein bewegtes Leben hinter sich, ist eine schillernde, manchmal nervige, sensible, phantasievolle, aber auch selbstkritische Person. Nachdem unvorteilhafte Bilder über sie in der Klatschpresse erschienen sind, erleidet sie einen psychischen Zusammenbruch und verkriecht sich in ihrer Luxuswohnung. Auch mit ihrer besten Freundin, der Galeristin Antonia, gerät sie in Konflikte. Täglich tröstet sie sich mit der Beobachtung des Flusses, der unter ihrem Fenster vorbeifließt, gießt ihre Pflanzen, isst wenig, trinkt viel Alkohol. Ab und zu vergibt sie Gelder durch ihre Stiftung zur Förderung von Kunst und Literatur. Die Arbeit ermüdet und langweilt sie. Zuweilen wandert sie nachts durch die Stadt und wird dabei Zeugin seltsamer Machenschaften. Um der wachsenden Einsamkeit zu entfliehen, reist Matylda in ihr Heimatland Polen. Der Besuch bei ihrer Tante und die Spurensuche im Schatten der Vergangenheit ihrer Familie gestalten sich schwierig. Nichts ist mehr so, wie sie es sich vorgestellt hat. Matylda muss sich endlich ihren Dämonen stellen. Ein unterhaltsamer, humorvoller, zeitgeistig stimmiger Gesellschaftsroman.

Julia Kohli, geboren 1978 in Winterthur, absolvierte eine Buchhandelslehre und studierte Wissenschaftliche Illus­tration, Anglistik, Osteuropäische Geschichte sowie Kultur­publizistik in Zürich. Sie schreibt u.a. für Das Magazin und die NZZ am Sonntag. Ihr Roman 'Böse Delphine' wurde 2018 mit dem Studer/Ganz-Preis für das beste unveröffentlichte Prosadebüt ausgezeichnet und erschien 2019 bei Lenos. 2021 legte sie den Erzählband 'Menschen wie Dirk' vor. Julia Kohli lebt in Zürich. juliakohli.com.

1


Ohnmachten werden oft falsch beschrieben. Neben der üblichen Dramatik und Peinlichkeit, die so ein Kontrollverlust mit sich bringt, überwiegt nämlich das Erlösende.

In meinem Fall geschah es inmitten einer gutbesuchten Vernissage. Vor mir atmete ein Birkengemälde. Die Bäume rauschten freundlich, befreiten sich aus der Leinwand, streckten mir ihre Äste entgegen, während sich die Galerie langsam um mich herum zusammenfaltete. An ein Festhalten dachte ich erst gar nicht, dafür fehlte es an Sekunden – und vermutlich wollte ich mich gar nicht festhalten, denn ich war viel zu beschäftigt damit, meinen Gedanken zuzuschauen, wie sie sich in kaleidoskopische Fragmente aufteilten, kurz aufleuchteten, sich vervielfältigten, mich und die Zeit zerschnitten. Ich glaube sogar, ich habe gelacht, als ich zwischendurch zu einer mittelalterlichen Burg wurde, in der sich schwere Türen öffneten. Ein Orkan wehte durch mich hindurch, Wind, wie ich ihn einst auf der schottischen Insel Iona hatte heulen hören, hinweg über König Macbeths Grabstein, über das moosbewachsene Kloster, hinaus über das türkiskalte Meer, immer weiter und weiter zum Arktischen Ozean. Weder taumelte ich, noch drehte sich was. Welten zogen durch mich hindurch.

»Wieso Birken?«, hatte ich den Künstler noch vor einem Augenblick gefragt, mit dieser mir selbst fremden Kopfstimme, die mich manchmal übermannte, wenn ich mein Gegenüber nicht überfordern wollte. Dabei hatte ich in seinem Förderantrag alles über diese Birken gelesen. Dass es ihm nicht um Birken als solche ging, dass Birken Platzhalter, Gefässe, Symbole, Metaphern, Ikonen, Projektionsflächen, Utopien, Phantasien des Pastoralen, was weiss ich, sein könnten. Auf keinen Fall nur schöne Bäume. Schönheit ist für Idioten.

»Wieso nicht?«, hatte er geantwortet, und seine Kieferknochen mahlten, als hätte er Drogen konsumiert, vielleicht waren es auch nur die Nerven, die ich ihn kostete. Er wusste nicht, dass ich sein Stipendium bezahlt hatte, ohne das diese Birken, die verschlungenen, die äugenden, die leuchtenden, die gelben, die blauen, die genitalienförmigen, wohl nicht zustande gekommen wären. Mir allein und meinem Kontakt zur Galeristin hatte dieser Pinkel es zu verdanken, dass seine Werke in diesem Moment für mehrere Hunderttausend Franken verkauft wurden. Trotz seiner ruppigen Antwort hielt meine Maske perfekt, ich kicherte wie ein Schulmädchen, tastete aus lauter Verlegenheit mein Haar ab, als wüsste ich nicht, wo ich selbst ende oder beginne. Und ob überhaupt.

Dann trübte Nebel meine Sicht. »Raucht da jemand?«, fragte ich, wohl ahnend, dass diese Rauchschwade meine eigene war. Der Künstler hatte sich bereits von mir entfernt, unerreichbar, wie es sich gehört.

Ein Schildkrötengesicht, irgendein milliardenschwerer Industrieller vom Zürcher Rotary Club, dessen Name mir entfallen war, redete auf ihn ein. Mein Glas umklammernd, kicherte ich in die Leere vor mir. Über mir und durch mich hindurch Wellen aus Gemurmel und Geschwätz, glänzende Augäpfel, die mich kurz fixierten, an mir abglitten, auf den Boden kullerten.

Ich bin sonst jemand, auf den man in Galerien zukommt. Ein paar dieser Köpfe, so wusste ich, hätten irgendwann meine Nähe gesucht, sich an mir festgehakt, Fragen aus ihren faltigen Mündern abgesondert, sich mit Witzen angebiedert, versucht, mich in ihre Pläne und Projekte zu verwickeln. So unglücklich war ich also nicht, als das ganze Pack im Nebel verschwand. Ich blickte noch rasch zum Ausgang, aber der Weg dorthin hatte sich bereits vervielfacht, war von Menschendickicht überwuchert, einer Masse aus Speichelfäden in aufgerissenen Mäulern, wie ein einziges Fratzengesicht von Otto Dix. »Nur auf ein Gläschen«, hatte ich Antonia gesagt. Und jetzt das.

Menschen. Allein in diesem Wort verfange ich mich, bleibe kleben, da wird’s mir ganz eng um den Hals. Menschen wie Manschetten, Menschen wie millionenfach gleichförmige Maschen, die sich um mich schlingen. Immer sprach Antonia davon, dass ich mich mit Menschen umgeben müsse. Wahrscheinlich war sie die letzte wahre Philanthropin dieser Welt. Dumpf erinnere ich mich daran, früher Ähnliches gesagt zu haben. Im Nachhinein glaube ich eher, dass ich mich dazu erzogen, wenn nicht dressiert hatte, Menschen zu mögen. Mein vergangenes Ich, dieses seltsame Wesen, es ähnelte einem Hund. Eigentlich hatte ich gehofft, mich im Laufe der Jahre vom Hündischen befreit zu haben, aber so einfach ist das nicht, wie mir die Begegnung mit dem Birkenkünstler bewies. Ich bin mit drei Frauen aufgewachsen, deren Alltag daraus bestanden hatte, sich über Männer lustig zu machen, manche sogar bis aufs Blut zu verabscheuen, sobald jedoch ein Exemplar auftauchte, verfielen wir in eine Art Lähmung, wurden weich, lieblich, geradezu fürsorglich. Ein trauriger, unwürdiger Reflex – aber wer weiss, vielleicht hatte er einst Leben gerettet? Zunehmend frage ich mich, ob meine frühere Menschenliebe je eine ehrliche gewesen ist oder ob ich mir auch diese bei anderen abgeschaut hatte, um zu überleben. Antonia hingegen nahm ich sie ab. Woher sonst hätte sie die Energie genommen, ständig Kontakte zu knüpfen, mich immer wieder irgendwohin einzuladen, damit ich aus meiner »Eremitenphase«, wie sie es nannte, erwachen möge? Neben ihren Projekten in Georgien, Bulgarien und Rumänien, wo sie Galerien mitfinanzierte und auserkorenen Wunderkindern Stipendien zukommen liess, war ich zu einer Art Hobbyprojekt geworden. Sporadisch bereitete ich ihr die Freude, mich »unter Menschen« gebracht zu haben. In erster Linie tat ich das zum Erhalt unserer Freundschaft, im Grunde der einzigen, die mir geblieben war.

*

Mein Geld stelle ich mir manchmal zäh und dunkelflüssig vor, wie Waldhonig. Nach meiner Scheidung – Cédric war zu dumm gewesen, einen Ehevertrag aufzusetzen – war die Hälfte der Masse zu mir geflossen, langsam und schwer. Man nennt es unverdientes Geld, man hat Meinungen dazu, besonders hierzulande. Und darum, weil ich für dieses Geld keinen Finger gekrümmt habe, verlange ich keine Dankbarkeit, wenn ich damit andere beglücke. Im Gegenteil – mit jedem Werkbeitrag, den ich im Namen meiner Stiftung vergebe, werde ich etwas leichter. Das klingt vielleicht abgedroschen oder stereotyp, aber genau so wird man, wenn man zu viel Geld hat. Ich weiss es am besten.

An der sogenannten Öffentlichkeit habe ich übrigens zur Genüge teilgenommen, dorthin zieht es mich nicht mehr, dort hat man mich abgestraft. Über viele Jahre habe ich mich in alle möglichen Kostüme gezwängt, habe alle namhaften Orte auf diesem Globus besucht, Filmfestivals, Kunstmessen, Vernissagen, Privatpartys bei Oligarchen. Sogar an Workshops für strategische Philanthropie habe ich teilgenommen, in Kalifornien, wo Leuten wie mir beigebracht wird, dass sie für den Erhalt der Demokratie unerlässlich sind. Ungeheure Lügengeschichten – nichts liebt der Mensch mehr.

Bis zu meinem Tod, so lautet mein Plan, will ich die hundertzwanzig Millionen ausgegeben haben. Und sonst erben halt entfernte Verwandte in Polen den Rest und lassen sich Säulenpaläste bauen, neoklassizistisch, wie sie es im Osten lieben, mit Eisentoren vor dem Haus, deren Spitzen dolchartig in den Himmel ragen und Eindringlinge aufspiessen.

Nicht dass ein falscher Eindruck entsteht – puritanisch bin ich nicht, ich liebe Ästhetisches, den einen oder anderen Luxus gönne ich mir. Aber in Zukunft will ich mir vor allem Ruhe kaufen, so viel Ruhe wie nur möglich: akustisch, visuell, olfaktorisch, haptisch. So hatte ich es Antonia auch am Telefon erklärt.

»So isoliert zu leben würde mich umbringen«, hatte sie mir beim letzten Telefonat gesagt. Heute würde man eine solche Aussage übergriffig nennen, aber ich hatte den Kommentar geschluckt, sogar mit Humor genommen. Das kann ich gut.

»Mich würde dein Leben umbringen«, konterte ich, »all die Gespräche mit Milliardären und ihren Gattinnen, die nichts von Kunst verstehen. Und die meisten Künstler stehen denen in nichts nach, die zwei Seiten ergänzen sich prima, wie die Faust aufs Auge. Kunst ist doch nur noch eine Waschanlage für Despotengelder. Mich würde es umbringen, liebe Antonia, wenn ich mich täglich mit diesen Menschen herumschlagen müsste.«

»Was redest du da für Unsinn, Matylda? Früher hast du den ganzen Trubel doch genossen.«

»Ich kann mich nicht erinnern.«

»So? Und wie sicher bist du, dass Cédric sein Geld nicht auch mit Despoten gemacht hat? Jedenfalls müssen wir Menschen kommunizieren, sonst gehen wir ein.«

»Wir Menschen? Was ist das überhaupt?«

»Herrgott, das Leben ist doch für alle ermüdend. Du kannst nicht vor allem fliehen.«

»Doch, ich kann vor allem fliehen, und ich fühle mich sehr wohl in meinem Zuhause,...

Erscheint lt. Verlag 22.4.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-03925-711-0 / 3039257110
ISBN-13 978-3-03925-711-9 / 9783039257119
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 3,2 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99