Maria -  Lalla Romano,  Klaudia Ruschkowski

Maria (eBook)

Roman | Die Seelenverwandtschaft zweier ungleicher Frauen im Piemont der 1940er-Jahre
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
192 Seiten
marixverlag
978-3-8438-0765-4 (ISBN)
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Lalla Romano erzählt die Geschichte einer kleinen Familie im Piemont in den 1930er und 1940er Jahren. Sie erzählt von der Beziehung zwischen zwei Frauen, die sich in Herkunft, Kultur und Lebensweise sehr voneinander unterscheiden: Maria, eine Bäuerin, und eine Lehrerin, Schriftstellerin und Malerin, in deren Haus Maria als Bedienstete arbeitet. In ihrer nüchternen, genauen, mitunter fast spröden Sprache zeichnet Lalla Romano ein Porträt von Maria. Und dabei entwirft sie das Porträt des Dorfes von Maria mit seinen Menschen, seiner Landschaft und seiner Zeit, in die der Zweite Weltkrieg fällt. Die Bindung zwischen beiden Frauen, ihre Seelenverwandtschaft, tritt zutage, als das Kind der Erzählerin geboren wird. Mit dem Heranwachsen des Kindes wird sie immer offenkundiger. Und so erzählt Lalla Romano in ihrem Roman »Maria«, den sie als »eine wahre Geschichte« bezeichnet, im Grunde von diesem Kind, von Kindern und ihren Müttern. »Maria«, der erste von Lalla Romanos zahlreichen Romanen, erschien 1953 im Turiner Verlag Einaudi und wurde 1954 mit dem Premio Internazionale Veillon ausgezeichnet.

LALLA ROMANO, geboren 1906 in eine alte piemontesische Familie, studierte Literatur in Turin und Malerei bei Felice Casorati. Ab 1941 veröffentlichte sie Gedichte, Erzählungen und Romane. 1969 wurde sie mit dem Premio Strega ausgezeichnet, 1987 mit dem Premio Grinzane Cavour. 1994 erhielt sie den Premio internazionale Latina für ihr Gesamtwerk. Lalla Romano starb 2001 in Mailand. CLAUDIA IMIG, 1970 in Bonn geboren, studierte Romanistik und Musikwissenschaften in Osnabrück, wo sie anschließend freiberuflich als Koordinatorin der Osnabrücker Kulturnacht, Übersetzerin, Dozentin und Moderatorin tätig war. 2019 verlegte sie ihren Lebensschwerpunkt nach Rom. KLAUDIA RUSCHKOWSKI, 1959 in Dortmund geboren, Autorin, Dramaturgin, Herausgeberin und literarische Übersetzerin aus dem Italienischen und Englischen. Sie lebt in Italien und Deutsch-land und konzipiert Literatur, Kunst- und Kulturprojekte. 2021 erschien im S. Marix Verlag ihr Roman Rot, sagte er.

IV.


Eines Abends verließ ich wie so oft das Haus, um Pietro entgegenzugehen. Es war März: In der Allee waren sie dabei, die Bäume zu beschneiden. Pietro tauchte inmitten der vielen abgesägten Äste auf und trug ein Bündel unter dem Arm. Er begrüßte mich wie immer mit einem flüchtigen Kuss, sagte aber nichts.

Zu Hause wurde das Bündel geöffnet: Es enthielt Pietros Arbeitsjacke, leicht abgenutzt an den Ellbogen. Die Firma zog nach Turin.

Pietro sagte, er habe schon seit einiger Zeit damit gerechnet, aber die Anordnung sei plötzlich gekommen. Er müsse in drei Tagen aufbrechen.

Ich sah, dass er ruhig war, aber gedemütigt; er sagte, es täte ihm leid für mich. Ich wusste, was er damit meinte: dass er mir ersparen wollte, aus erster Hand zu erfahren, wie unbeständig alles ist, selbst das Geringste und Gute. Er wollte nur nicht, dass ich leide, es ging nicht darum, dass ich eine solche Erfahrung nicht machen sollte; in diesem Sinne glaube ich sogar, dass er es für gut hielt, Bescheid zu wissen.

Von da an fand ich jeden Morgen in dem hellen Holzkasten am Treppenaufgang einen Brief. Er war in winziger Schrift geschrieben und recht kurz. Ich las ihn viele Male und oft betrachtete ich ihn einfach.

Zwei Abende in der Woche kam Pietro nach Hause; ich konnte nicht zum Bahnhof gehen, wegen des Kindes; es war aber auch schöner, dass er so hereintrat, als käme er nicht von weit her. Wir unterhielten uns leise, im Flüsterton, um das Kind nicht zu wecken.

Am nächsten Morgen nahm Pietro den ersten Zug.

Ich blieb am Fenster und schaute ihm nach. Pietro drehte sich um und winkte: Es schien mir, als würde er, während er sich entfernte, immer größer werden. Schließlich verbargen ihn die Baumstämme vor meinem Blick.

Bevor ich wieder ins Bett ging, lief ich unruhig durch die Zimmer.

In der Küche, auf dem Tisch, stand der Teller mit den Apfelschalen. Im Flur begegnete ich Maria, die sich gerade zur Messe aufmachte. Maria sah mich an und sagte »Nur Mut« oder »Gehen Sie nochmal ins Bett«. Manchmal umarmte ich sie, fühlte ihre zierliche Gestalt in meinen Armen und spürte, dass ich diesen Menschen liebte.

Ich hatte mir angewöhnt, Maria in die Küche zu folgen, nachdem ich das Kind zu Bett gebracht hatte.

Maria spülte das Geschirr und trocknete es dann ab, behutsam, als wäre es kostbar. Ich musste sie immer bitten, ihr helfen zu dürfen, als ob es für mich eine zu große Herablassung bedeutete.

Ich lenkte das Gespräch auf ihre Familie und auf die Casa Barcellona. Wir waren verzaubert, sie erzählte und ich hörte zu; bald bemerkte sie, dass die Arbeit nicht vorankam; aber sie unterbrach die Erzählung nicht.

Der Mensch, von dem Maria am ehrfürchtigsten sprach, war ihr Vater.

Ich hatte in der Casa Barcellona zwei kleine Fotos von Marias Vater gesehen. Auf dem einen war er mittleren Alters, umringt von seinen Kindern, alles Jungen, und dazu Maria als kleines Mädchen; auf dem anderen war er alt, und Maria stand an seiner Seite. Die Gestalt des Vaters hatte sich nur wenig verändert. Ein hagerer Mann, nicht groß; die Stirn hoch, der Blick klar und fest, strenger als der von Marias Brüdern. Die alten Fotos hatten die Würde seiner Erscheinung getreu bewahrt.

Für Maria verkörperte der Vater eine Mischung aus Furcht, Bewunderung und Hingabe, die sie auch in gewissem Maße ihren Brüdern und den Priestern entgegenbrachte, ohne dabei auf ein eigenes, wenn auch nachsichtiges und wohlwollendes Urteil zu verzichten.

Vielleicht hatte Maria in ihrem irdischen Vater ein Abbild der Güte und Gerechtigkeit des himmlischen Vaters gesehen.

Einer der Brüder, der jüngste, litt als Junge an einem nächtlichen Übel, das damals mit dem Gürtel geheilt wurde. Über Marias Gesicht zog schmerzhaft die mit jenen Schlägen verbundene Emotion; aber ihr Vater, der sie verabreicht hatte, weckte in der Erinnerung kein Hassgefühl. So sehr musste die Gerechtigkeit für sie jede seiner Handlungen von Grund auf bestimmt haben.

Er war nicht nur streng, der Vater, sondern oft auch humorvoll und sogar zärtlich. Als er in seinen letzten Jahren erkrankte, war er auf Pflege von Maria angewiesen, was sie zwang, nachts mehrmals aufzustehen.

Nicht nur, dass er selbst gar nicht so viel verlangt hätte, er bedauerte auch, dass es notwendig war; so sehr, dass er oft im Stillen darüber weinte.

Eines Tages, als Maria ein bedrücktes Gesicht hatte – ihr Kopfschmerzgesicht –, fragte ich sie, wie es ihr gehe, und sie sagte, sie habe im Traum ihren Vater gesehen. Es war, als wäre er erneut gestorben, sagte sie. Hinter ihm, der auf dem Bett lag, habe an der Wand ein riesiger gekreuzigter Jesus gehangen, weiß und mit Wunden übersät, die seine große Gestalt befleckten. Derweil habe es im Zimmer geschneit, leise, ganz leise.

Maria wurde jenseits der italienischen Grenze, in Oronayes, einem kleinen Dorf in den provenzalischen Alpen, geboren. Ihr Vater war dorthin ausgewandert, als es in Lemma, der letzten Alm auf dem Berg, keinen Platz mehr für neue Kinder und im Tal keine Arbeit mehr gab.

Das französische Dorf war nicht nur größer als das heimatliche Lemma, sondern auch reicher, sauberer und fröhlicher. An diesen Ort, an die Roggenfelder, die so hoch unter dem Himmel aufragten und stets im Wind wogten, hatte Maria eine lebhafte Erinnerung. Doch sofort zeichnete sich eine schwarze Gestalt ab, die alles Licht verdunkelte: der Lehrer.

Der Lehrer war ein kräftiger Mann mit einem schwarzen Bart; der Ton seiner Stimme hatte die Macht, das kleine Mädchen derart zu verängstigen, dass es zu zittern begann, wann immer er es ansprach.

Maria hatte auch nach so vielen Jahren noch Angst vor ihm. Dennoch achtete sie ihn: Sie war zu der Erkenntnis gelangt, dass er ein sehr guter Lehrer gewesen war.

Es schauderte sie aber immer noch, wenn sie von ihm erzählte: wie er die Ohren der Kinder mit Schnee einrieb, bis sie bluteten. (Die Kinder, allen voran Maria, brachten Schneebälle mit in den Klassenraum und versteckten sie unter der Schulbank; der Schnee begann zu tropfen und der Lehrer bemerkte es.)

Oder wie er die Kinder zur Strafe in die Kellerluke sperrte. Die kleine Maria hatte vor Angst einen Kloß im Hals, zögerte mit der Antwort, mit dem Hersagen der Hausaufgabe; und dann hob der Lehrer knarrend den Deckel der Kellerluke im Schulboden hoch: Darunter gingen die Stufen in die Tiefe. Unter dem Deckel der verschlossenen Luke zusammengekauert, versteinert vor Ekel, lauschte Maria im Dunkeln dem Treiben der Ratten im Keller.

Es war offensichtlich, dass die Angst für Maria ihr Geheimnis nicht verloren hatte.

Ich verstand nicht ganz, was Pietro meinte, als er sagte, das wolle Jungfräulichkeit bedeuten; aber ich spürte, dass der Lehrer wie auch die Wespen, die Mäuse und vielleicht sogar das unkontrollierte Lachen der jungen Giuseppina für Maria alles Bilder derselben Welt waren, dunkel und verstörend.

Maria war acht Jahre alt, als ihr Vater in sein Heimattal zurückkehrte, aber nicht ins alte Lemma.

Er kaufte ein Haus auf halber Höhe am Berg: dort, wo die Kastanien enden und die Buchen beginnen. Der Boden ist nur für Kartoffeln wirklich gut – die Trockenheit brauchen –, aber er gibt auch Weizen, gemischt mit Roggen, und mageres Heu. Wenn es nicht regnet, wird die Wiese rot und staubt wie eine Straße. Dort, am Waldrand, wächst auch Wein – daraus wird ein Schaumwein gemacht, der nach Erdbeeren schmeckt – und es gibt Obstbäume, die, von den Bauern vernachlässigt, meist verwildern. Etwas weiter oben erstreckt sich das Heideland mit den Hasensassen.

Da das Dorf Oronayes, aus dem sie gekommen waren, sich in unmittelbarer Nähe von Barcellonette befand, nannten die Einwohner des Villar Marias Familie »die aus Barcellona« und dieser Name blieb dem Haus erhalten.

Maria erinnerte sich an die Hetze der Dörfler, der sie und ihre Geschwister ausgesetzt waren: Sie wurden verspottet, weil sie den Schulkittel nach französischem Brauch trugen.

Als die beiden ältesten Söhne, Giacomo und Giovanni, aus dem Krieg zurückkehrten und Giacomo heiratete, teilte der Vater das Erbe auf. Das Haus und das beste Land fielen an Giacomo, weil er der Erstgeborene war. Giovanni, der ebenfalls geheiratet hatte, arbeitete als Teilpächter in der Ebene; dann nahm er einen Kredit auf und baute ein Haus in der Nähe des ersten, ein wenig weiter unten. Die Schulden lasteten lange Zeit auf Giovannis Familie.

Zwei Schwestern heirateten, eine weitere wanderte nach Frankreich aus und der jüngste Bruder – der dann ebenfalls auswandern sollte – blieb zunächst mit Giacomo in der Casa Barcellona.

Der Vater zog sich zurück, um mit Maria zu leben. Sie hatte ein Zimmer in der Casa Barcellona behalten, in dem sie schlief, und die Kammer, in der die Kastanien getrocknet...

Erscheint lt. Verlag 2.4.2024
Übersetzer Claudia Imig
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-8438-0765-5 / 3843807655
ISBN-13 978-3-8438-0765-4 / 9783843807654
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