Nachkriegskind -  Peter Graf

Nachkriegskind (eBook)

Geschichten aus der Nachkriegszeit

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
208 Seiten
Friedrich Reinhardt Verlag
978-3-7245-2717-6 (ISBN)
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Der Erzählband von Peter Graf enthält eine Sammlung von Geschichten aus der Nachkriegszeit, aus jenen Fünfzigerjahren, die man mit Wirtschaftswunder und Mief verbindet. Eine Zeit, in der nach Jahren der Angst endlich aufgeatmet werden konnte und es scheinbar nur aufwärtsging. Der Autor erinnert sich an das Staunen über die Welt, an grosse Pläne und kleine Schritte, an lustige Erlebnisse und kindliche Dramen. Er erzählt von neuen, fetteren Suppen, die euphorisch eingebrockt wurden und - wie immer - später ausgelöffelt werden müssen.

Peter Graf, geboren 1947, hat die Fünfzigerjahre im Aargau, an der Reuss, an der Limmat und am Rhein bei Basel erlebt. Er absolvierte den ersten Bildungsgang des neu eröffneten Baselbieter Gymnasiums in Liestal. Nach dem Studium der Medizin führte ihn sein Weg nochmals nach Liestal, wo er sich zum Spezialarzt für Psychiatrie und Psychotherapie ausbilden liess und massgebend an der damaligen Öffnung der Psychiatrie beteiligt war. Wesentlicher Bestandteil der Ausbildung war die Psychoanalyse, welche die Grundlage seiner Tätigkeit bilden sollte. Ein Hauptanliegen blieb ihm die Weitergabe des psychiatrisch-psychoanalytischen Wissens an Pflegende sowie Sozialpädagoginnen und -pädagogen. 1983 eröffnete er seine Spezialpraxis in Frenkendorf zusammen mit einer Allgemeinpraktikerin. Es war die zweite Gruppenpraxis in der Region. Seit dem Jahr 2001 ist er nebenbei Buchhändler und Antiquar. Gemeinsam mit dem DISTL Dichter:innen- und Stadtmuseum Liestal baute er das Poete-Näscht auf. Vor vierzig Jahren entdeckte er, dass er ein Schreibwerkzeug zur Hand nehmen und diesem eine Idee vermitteln konnte, worauf gewollt und geführt vom Werkzeug eine Geschichte wuchs. In diesen vierzig Jahren sind viele Geschichten entstanden - Erzählungen und Kurzgeschichten, Kabaretttexte, Lieder und vieles mehr. 2017 veröffentlichte er einen ersten Erzählband: «Zufällige Annäherung an die Frage nach dem Glück». Peter Graf lebt mit seiner Familie und seiner Sammlung von über hunderttausend Büchern in Lupsingen im Baselbiet.

DAS NACHTHEMD


Vor dem Anfang von allem stand oder besser gesagt lag, fein gefaltet, ein Nachthemd. Ohne dieses Nachthemd hätte es mich möglicherweise niemals gegeben.

Es war in den frühen Vierzigerjahren, in Kriegszeiten also, damals, als die Nachbarn nördlich des Rheins bereits losmarschiert waren. Eroberungen noch und noch, im Osten, im Westen, im Norden. Man fürchtete um die Schweiz. Werden sie kommen? Wann werden sie kommen? Die Männer hielten Grenzwacht. Das gab ein wenig Zuversicht, durch Angst gedämpft, durch Hoffnung verstärkt. Die ganze Welt sollte ja überschwemmt werden mit den arischen Genen. Die Propaganda röhrte «Mädchen, spreizt die Beine, wir brauchen Kleine».

Die junge Frau mit Namen Meta entstammte einer ordentlichen Familie. Der Vater war früh verstorben, aber die Mutter regierte mit fester Hand und stellte klar, was anständig und was verwerflich war. Und sie wachte darüber, dass ihre sechs Kinder anständig wurden und blieben. «Einen guten Ruf kann man nur einmal verlieren», pflegte sie zu sagen. Es gelang ihr nicht bei allen Kindern gleich gut. Aber die junge Frau, Meta, war eine ordentliche Frau. «Die weiss, was sich gehört», sagte man von ihr. Sie war auch lebenslustig. Sie schätzte es ungemein, umworben zu werden. Und Männer, die sie umwarben, gab es einige. Denn sie war eine attraktive Erscheinung, schlank und mit welligem Haar und obendrein «es schaffigs Wyb». Sie nahm die Werbungen scheinbar gelassen hin, vorsichtig und manchmal gar mit strenger Miene. Bekam sie Komplimente zu hören, wiegelte sie ab oder wies den Charmeur zurecht, wenn der zu dick auftrug. Bescheidenheit gehörte zu jener Kategorie, die da hiess «Was sich gehört».

Zu jener Zeit lebte eine anständige junge Frau nicht allein in einer Wohnung. Sie hatte ihr eigenes Zimmer in der Wohnung der Mutter. Die älteren Geschwister waren schon verheiratet und dahin und dorthin gezogen. Wenn die Mutter zum einen oder anderen ihrer Kinder zu Besuch fuhr, hütete Meta die Wohnung und den Kanarienvogel. Und hatte sturmfrei. Ein Wort, das man allerdings nur hinter vorgehaltener Hand und kichernd verwendete. Die jungen Männer waren angehalten, sich als Gentlemen aufzuführen. Und das hiess: gesittet.

Wenn man keine Stürme befürchten muss, kann man das Fenster offen halten, sich hinauslehnen und empfangen, was die freundliche Frühlingsluft herbeiweht.

Der junge Mann, der Meta neuerdings umwarb, war ihr durchaus sympathisch. Er war ein Studierter, ein junger Lehrer an der Bezirksschule, stattlich, mit breitem Schädel, hoher Stirn und etwas vorgezogener Unterlippe, die männliche Entschlossenheit zum Ausdruck bringen sollte. Er wurde an diesem Abend nicht zufälligerweise herbeigeweht. Sie hatten sich schon einige Male getroffen. Aber da waren immer andere zugegen gewesen und sie wollten sich einmal ungestört aussprechen. Er schlüpfte geschwind durch die Haustür und stieg leise in den ersten Stock des Hauses, vorbei an der Wohnungstür zur Parterrewohnung. Es war ein anständiges Haus und Herrenbesuche waren nicht vorgesehen. Sepp – so hiess der junge Mann – klopfte sachte an die Tür und Meta liess ihn rasch ein. Er trug in der linken Hand eine beträchtliche Ledermappe, gewiss mit Büchern und Blättern angefüllt, und in der rechten einen Blumenstrauss, den er auf seinem Gang entlang der Gartenzäune gepflückt hatte.

Meta hatte ein frisches Brot gebacken und eine Platte mit Aufschnitt, Schinken und Ei vorbereitet. Das war viel. Es war Krieg. Man hatte nicht viel. So viel wäre nicht möglich gewesen, wenn nicht auch der Metzger Metas munteren Augen gefolgt wäre und diese und jene Scheibe Fleischkäse oder Lyoner Wurst dazugegeben hätte. Ausserdem saure Gurken und Sülze. Sülze mochte sie zwar nicht, aber das Wort hörte sich so süss an. Eine Tomate lag bereit zum Aufschneiden, nicht zu früh, damit sie nicht austrocknete. Vom Keller hatte sie eine Flasche Vivi Kola raufgeholt, weil sie wusste, dass Sepp es mochte. Und sie stellte sich vor, wie sie ihm einschenken und er den Schaum oben wegschlürfen und der ihm im Schnauz hängen bleiben würde. Und zum Nachtisch, als Überraschung, würde sie ihm einen Eiercognac servieren, den ihre Mutter an einem Ort, den sie für geheim hielt, aufbewahrte. Derartige kleine Übertretungen durften durchaus sein innerhalb dieser sonst verbindlichen Kategorie «Was sich gehört».

Alles war vorbereitet für diesen vielleicht entscheidenden Abend.

Beide waren in den mittleren Zwanzigern. In diesem Alter war die Hoffnung, Blumensträusse zu empfangen, gross. Denn in einem Blumenstrauss, selbst wenn er zusammengeklaut war, zeigte sich Anerkennung und Werbung. Gleichzeitig war er ein zurückhaltend und zart geäusserter Annäherungswunsch, der solcherart dem strengen Kanon genügen konnte. Ebenso gross war auf der anderen Seite das Vergnügen, Blumensträusse zu übergeben. Wurde er angenommen, so war die Annäherung geglückt. Dann duftete aus den Blüten Hoffnung empor.

So näherte er sich also, als hätte er hier in der Gegend nichts weiter zu tun, Metas Haus. Sie blickte aus dem Fenster, sah ihn kommen, zog sich rasch ins Zimmer zurück, blickte in den Spiegel, zupfte eine Locke zurecht, prüfte, ob sie nicht allzu sehr als Erwartende in die Welt blicke …

Und dann klopfte es.

«Grüezi Sepp.»

«Grüezi Meta.»

«Chumm ine.»

«Lueg, i ha dr öppis mitbrocht.»

«Oh, danke, isch dä schön!»

Zu jener Zeit, in der diese Geschichte spielt, sagte der Mann nicht «Ich habe ihn für dich zusammengeklaut».

«Sitz nume aane. I han is öppis Znacht gmacht.»

Der Sepp setzte sich, stellte seine Ledermappe neben den Stuhl und umfasste Meta mit einem Blick, den er wohl selbst als verliebt bezeichnet hätte, der Meta allerdings für einen kurzen Moment irritierte. Hätte sie die Irritation wahrgenommen und hätte sie ihr Wort geben können, hätte sie wohl gesagt: Da war ein Glimmen in seinen Augen wie in denen eines Tigers, wenn er seiner Beute sicher ist. Aber der flüchtige Eindruck drang nicht bis in ihr Bewusstsein.

«Nimm nur», sagte sie und schnitt für ihn und für sich ein Stück vom selbst gebackenen Brot ab. «Männer müend ässe!»

Ich weiss nicht, was sie sich an jenem Abend erzählt haben, während sie Aufschnitt mit Brot assen, die Gurken und Tomaten. Wahrscheinlich war ein bisschen Gesülze dabei. Zuerst erzählte der Sepp vielleicht von seinen Schülern, die er in Schach halten musste und konnte. Und Meta erzählte von ihrer Arbeit als Sekretärin, von ihrem Chef, der viel befahl und nichts verstand.

Vorgeplänkel eben. Werbung in eigener Sache.

Eigentlich wollten sie doch über sich sprechen – und von sich.

Bisher war es nicht einmal zu irgendeiner Anzüglichkeit gekommen im Zusammenhang mit Wurst und Gurke, Schinken und Ei.

Als das letzte Stück Wurst verzehrt war und das Vivi Kola zur Neige ging, öffnete Sepp seine Ledermappe. Über die Tischkante hinweg blickte Meta hinein. Aber da konnte sie keine Bücher sehen und keine Hefte mit Schüleraufsätzen. Da war nichts anderes als ein Nachthemd, noch dazu ein buntes, ein derart buntes, wie sie es sich kaum hätte vorstellen können als anständige Frau.

Wie ein Blitz fuhr es in sie ein.

Ein Nachthemd! Wieso ein Nachthemd?

Denkt er denn …?

Jaaaaa …!

Was denkt er denn von mir!

Der will wohl nur das eine!

Nicht mit mir!

So ein Schlufi! So ein Schlawiner!

Es fielen ihr noch manche anderen Wörter mit «Schl-» am Anfang ein.

Nichts von Eiercognac! Das fehlte noch!

Die Stimmung kühlte ab. War nicht mehr zu retten. Plötzlich war von der Zeit die Rede, vom späten Abend. Und dass sie nun wohl den Schlaf suchen müsse, denn morgen … und so weiter.

Irgendwann schloss Sepp seine Ledermappe, blickte Meta nochmals unsicher an, verzog ein wenig unwillig den Mund, die Unterlippe von rechts nach links und zurück, erhob sich, verabschiedete sich höflich und trollte sich enttäuscht.

Dass er das Haus zu dieser Stunde verliess, mag Metas Ruf gerettet haben. Sie blieb zurück in einem Gefühl von Stolz und Bedauern.

So ein Schuft, dachte sie.

Aber ganz sicher war sie sich nicht.

Hätte sie das Nachthemd aus der Mappe gezogen und neckisch gesagt: «Das brauchst du nicht» … hätte es mich dann auch gegeben? Vielleicht nicht.

Jedenfalls bin ich meiner Mutter unendlich dankbar, dass sie in jenem Augenblick das war, was sie für tugendhaft hielt. Ohne dies – so viel ist gewiss – könnte ich diese Geschichte heute nicht erzählen.

Wochen darauf traf sie sich mit Sepps Bruder, dem Max. Der glich dem...

Erscheint lt. Verlag 23.3.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-7245-2717-9 / 3724527179
ISBN-13 978-3-7245-2717-6 / 9783724527176
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