Der Uhrmacher -  Michael Hausenblas

Der Uhrmacher (eBook)

und das Flüstern der Zeit
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
176 Seiten
Braumüller Verlag
978-3-99200-361-7 (ISBN)
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Hans Held, ein eigenbrötlerischer Uhrmacher, eingenommen von Zahlen, Ziffern und Zahnrädern, wünscht sich nichts mehr, als seine Ruhe zu haben. Schräubchen, Federn und Lünetten sind ihm die liebste Gesellschaft. Doch als eines Tages, dem 17150. Tag seines Lebens, kurz vor Feierabend, eine betagte Dame seine kleine Werkstatt betritt und ihm eine Sanduhr zur Reparatur übergibt, gerät die marottenhafte Eintönigkeit seines Daseins aus dem Gleichgewicht. Überfordert und verwirrt von dem Auftrag der Kundin, begibt er sich auf die Suche nach dem möglichen Gebrechen, kauft zu Studienzwecken diverse Sanduhren, lauscht dem Rieseln des Sandes und kommt mit so manchem Korn auf dubiose Art in Berührung. Nachdem er von ungeahnten Seiten und nach mysteriösen Begegnungen Hinweise erhält, bricht er zu einer Erkundungsreise in die Wüste auf, wo er dem Wesen der Zeit sehr nahekommt.

Michael Hausenblas wurde 1969 in Bregenz am Bodensee geboren. Er ist seit 25 Jahren Redakteur bei der Tageszeitung DER STANDARD, in der er eine Vielzahl Interviews, Porträts und Reportagen aus aller Welt veröffentlichte. Er lebt gemeinsam mit der Krimiautorin Daniela Larcher alias Alex Beer und einem Kater namens Herr Karl in Wien.

II
VATER DES SANDES

Hans Held packte die Sanduhr in seine speckige Aktentasche aus Leder, schlüpfte in seinen dunkelgrünen Mantel aus grober Wolle, zog sich die Kapuze über und trat den Nachhauseweg an, ohne sein Stammcafé aufzusuchen, was selten vorkam.

Es hatte zu regnen begonnen, und die Pflaster­steine der engen Gasse änderten ihre Farbe von einem matten Grau in ein glänzendes Schwarz. Der Herbstwind blies die letzten Blätter vom einzigen Baum weit und breit, einem Löwen-Ahorn. Bald schon würde dieser sein Gerippe aus Ästen und Zweigen in den Winterhimmel strecken. Held mochte den Herbst. Er passte zu seinem, sagen wir, weniger sonnigen Wesen.

Die Glocke eines nahe gelegenen Kirchturms schlug mit ein wenig Verspätung sechs Uhr. Der Rhabilleur wohnte nur wenige Gehminuten vom Geschäft entfernt.

Er schritt wie jeden Tag die achtundsiebzig Stufen zu seiner Garçonnière empor und fragte sich, wie oft er bereits hier heraufgestiegen war. Pro Jahr brachte er es auf 28 470 Stufen.

Wann er wohl zum letzten Mal zu seiner Wohnung hinaufsteigen würde?

Die Stufen, die sich wie ein Schneckenhaus nach oben wanden, waren aus Stein gehauen. Zur Mitte hin formten sie sich zu einer zarten, kaum sichtbaren, sanften Einbuchtung. Wenn es stark regnete und Wasser durch eine undichte Stelle des Daches ins Treppenhaus tropfte, bildeten sich in den nach unten gewölbten Stellen kleine Seen, die manchmal erst Tage später vom Stein aufgesogen wurden. Je nachdem, wie durstig dieser war. Held war überzeugt, dass Steine Durst hatten.

Das dunkle, geschwungene Holzgeländer im Treppenhaus erinnerte an Bugholzmöbel und war im Laufe von gut zweihundert Jahren von unzähligen Händen glatt poliert worden.

Unter anderem von jenen des Carl Johann ­Joachim Freiherr Auer von Welsbach, der in diesem Haus am 1. September des Jahres 1858 geboren worden war. Der Forscher und Entdecker erfand die Metallfadenlampe und den Zündstein fürs Feuerzeug. Und anderes. Er galt als eine europäische Variante von Thomas Alva Edison. Angeblich traf er diesen am Bahnsteig in St. Veit an der Glan, woraufhin der Zug nach Wien mit zwanzig Minuten Verspätung abfuhr, was die Bahn tolerierte, um das Treffen der Pioniere nicht zu stören.

Als Kind hatte Held manchmal, bevor er die Wohnung betrat, einen Kaugummi aus dem Mund genommen und an die Unterseite des Geländers gepickt. Wahrscheinlich klebte dort noch immer der eine oder andere. Längst hart geworden.

Held kam wie jeden Abend am Probesaal der Hochschule für Musik vorbei, die in dem Haus ein Stockwerk gemietet hatte. Ein Orchester übte Händels Dixit Dominus.

Der Uhrmacher hielt für einen Moment inne und lauschte. Hätte er es sich aussuchen können, wäre ihm Haydns Schöpfung lieber gewesen.

Verwirrung weicht, und Ordnung keimt empor“, flüsterte Held den Text vor sich hin.Erstarrt entflieht der Höllengeister Schar in des Abgrunds Tiefen hinab zur ewigen Nacht.“2

Während seiner Kindheit sang der Uhrmacher als Erster Sopran im Kirchenchor der Jesuitenkirche. Seine Stimme kletterte die Tonleiter höher ­hinauf als die eines jeden Kastraten aus den Zeiten ­Vivaldis. Das behauptete zumindest sein Chorleiter, der den knabenhaften Held liebevoll mein Wintergoldhähnchen nannte. Vögel dieser Art sind für ihren feinen Gesang bekannt.

Der Stimmbruch bereitete Helds Gesangs­karriere ein jähes Ende, was den Buben nicht sonderlich bekümmerte. Längst war er den stundenlangen Proben in feuchtkalten Kirchen überdrüssig geworden. Außerdem neigte der junge Held in seiner Aufregung beim Singen zu Nasenbluten, wofür er sich schämte. Nicht nur einmal verließ er mitten während des Konzerts seinen angestammten Platz in der ersten Reihe des Chors, nachdem sein weißes Hemd von tiefroten Blutstropfen besprenkelt worden war.

Im dritten Stock angekommen, sperrte er die zwei Schlösser der Wohnungstür auf. Seine Eltern hatten ihm die nicht gerade geräumige Wohnung nach deren Tod hinterlassen. Er nannte sein Zuhause liebevoll Tipi, manchmal auch Nest.

Bereits seine Urgroßeltern hatten hier gelebt. Sie waren als Hausmeister angestellt gewesen, und sein Urgroßvater hörte ebenfalls auf den Namen Hans Held.

Während der kühleren Monate tat sich das flach einfallende Licht schwer, seinen Weg in das Tipi zu finden. Die alten, verwinkelten und massiven Mauern des Gebäudes versperrten ihm den Weg. Held musste während dieser Zeit tagsüber die Lichter einschalten. Lediglich im Juli und August, wenn die Sonne höher am Himmel stand, badete die Wohnung täglich für zwei Stunden in hellen, beinahe blendenden Lichtstrahlen.

Wie jeden Abend fütterte der Uhrmacher seine beiden Nymphensittiche namens Unruh und Tourbillon, zwei gefiederte Gesellen und die einzige Gesellschaft Helds. Die Vögel gehörten, wie die Standuhr, das kleine Vermögen und das Geschäft zur Hinterlassenschaft der Cousine. Held hatte es nicht übers Herz gebracht, die beiden ins Tierheim zu bringen oder aus dem Fenster flattern zu lassen, wonach ihm für ein Weilchen der Sinn gestanden hatte.

Der Uhrmacher nahm ein heißes Bad in der für seine Körpergröße viel zu kleinen Sitzbadewanne. Die stammte noch aus der Zeit seiner Eltern. Wie vieles in der Wohnung.

Bei einem Tischler in der Nachbarschaft hatte er ein Holzbrettchen anfertigen lassen, das auf den Rändern der Wanne auflag. Darauf stand ein Aschenbecher aus Kristallglas. Held pflegte in der Badewanne eine Zigarre zu rauchen. Ferner fanden sich dort Guy de Maupassants Büchlein Auf See und ein fast randvoll gefülltes Glas Bordeaux.

Der Wein schmeckte für ihn nach Erde, einem Licht und einem Land, mit dem er sich glasweise angefreundet, es aber noch nie besucht hatte.

Er begann laut zu lesen: „Ich spüre, wie der Rausch des Alleinseins in mich eindringt, der süße Rausch der Ruhe, die nichts stören wird, kein weißer Brief, kein blaues Telegramm, nicht die Klingel meiner Tür noch das Bellen meines Hundes. Ich bin allein, wirklich allein, wirklich frei.“3

Held überlegte, ob man sich wirklich in jedem Buch selbst lesen wollte, wie es seine Cousine einmal behauptet hatte. Sie meinte, dies bei einem Philosophen gelesen zu haben, dessen Name ihr partout nicht einfallen wollte, worüber sie sich des Öfteren geärgert hatte.

Held beobachtete die tanzenden Rauchkringel, die zum Plafond emporstiegen, der längst frisch gestrichen gehörte.

Nach vier oder fünf Seiten der Lektüre begann Held die Tropfen zu zählen, die aus dem undichten Hahn auf die Wasseroberfläche fielen, ein beinahe zärtlich anmutendes, ihm gut vertrautes Geräusch.

Bei Tropfen 1908 stieg er aus der Wanne. Im Jahre 1908 wurden seine Eltern geboren.

Helds Aus-der-Wanne-Steig-Zahlen variierten. Es konnte auch 1750 sein, eine Zahl, die für das Geburtsjahr des Komponisten Antonio Salieri stand. Er fühlte sich zu historischen Daten hingezogen. Vor seinen Augen erschienen diese Bilder: 1841, die Erfindung des Würfelzuckers; 1937, das Jahr, in dem die Flugpionierin und Frauenrechtlerin Amelia Earhart mit ihrem Flieger im Pazifischen Ozean verloren ging; oder 1815, als der Vulkan Tambora ausbrach, was angeblich von den mehr als 2500 Kilometer entfernt stationierten, britischen Soldaten zu hören war und für Schüsse gehalten wurde. Helds gedankliches Album war ein buntes und gut sortiertes. Es schenkte ihm Bilder und Geschichten.

Mit trübem Blick betrachte er sein Antlitz im Spiegel seines Aliberts, und er glaubte durch sich hindurchsehen zu können. Als wäre er eine Hülle.

Von Zeit zu Zeit empfand sich Held als verlorener Sohn, auch wenn er nicht sagen konnte, wen er oder wer ihn verloren hatte.

Bevor er zu Bett ging – es handelte sich um ein schweres Möbel aus Nussholz, das in einer Schlafnische untergebracht war –, zog er seinen grün-weiß karierten Pyjama aus Baumwolle an. Auch die Anzahl dessen Quadrate war ihm bekannt. Achtzig.

Während der kälteren Monate trug er Schlafanzüge aus Flanell, im Sommer wechselte er zu Nachthemden aus Leinen. Dass manche Menschen es bevorzugten, nackt zu schlafen, ging ihm wie vieles nicht in den Kopf. Musste es auch nicht. Jeder, wie er will. Derart einfach erschien Held das Leben. Einen Trugschluss konnte und wollte er in dieser Einstellung nicht erkennen.

Er nahm die Sanduhr aus seiner Tasche und stellte sie auf sein Nachtkästchen, ein verschnörkeltes Holztischchen mit gläserner Oberfläche, auf der sich eine kupferne Schale mit einigen Andenken befand. Seine Cousine hatte sie vor vielen Jahren auf dem Bazar von Damaskus gekauft.

Held legte sich nieder und betrachtete die Uhr der alten Dame. „Was soll mit dem Ding nicht in Ordnung sein?“, fragte er einmal mehr und knirschte mit den Zähnen, ohne es zu bemerken.

Wie viel Körner sich wohl darin befanden? Held drehte die Uhr um. Anfangs konnte Held den Sand noch rieseln hören, doch als der Boden des unteren Glases bedeckt war, verstummte das feine Geräusch und der Inhalt formte sich zu einem feinen Hügel, bis das letzte Korn dem Zauber ein Ende bereitete.

Leise rieselt die Zeit, ging es Held durch den Kopf. Er drehte die Sanduhr ein weiteres Mal um und blickte auf seine Armbanduhr, ein Exemplar von Certina mit braunem Ziffernblatt und cremefarbenen...

Erscheint lt. Verlag 1.3.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-99200-361-2 / 3992003612
ISBN-13 978-3-99200-361-7 / 9783992003617
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