Was glänzt, verschwindet mit uns -  Caro Reichl

Was glänzt, verschwindet mit uns (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
240 Seiten
Leykam Buchverlag
978-3-7011-8340-1 (ISBN)
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Ein Roman über Liebe, Trauer, Schuld - und über Opferbereitschaft für einen eitlen Kater Nola Nimmerl hat die Tendenz zu verschwinden. Ihre Umrisse sind verschwommen, innen wie außen. Sie lebt ein Leben, das andere für sie erdacht haben, beschäftigt sich am liebsten mit den Problemen anderer, erfüllt alle an sie gerichteten Erwartungen - und ist Psychotherapeutin. Im Gespräch mit ihren Patient*innen ist oft nicht klar, wer hier eigentlich wen therapiert. Denn sobald Nolas Gefühle überhandnehmen, verliert sie die Kontrolle über ihr Bewusstsein und sieht sich als Phönix in die Lüfte steigen. Als ihre Schwester stirbt, nimmt die Unschärfe dramatisch zu und Nola steht vor der Wahl: ganz verschwinden oder sichtbar werden.   Ein unkonventionelles Debüt, das mit sanftem Humor Einblick gibt in die Gedankenwelt einer Frau, die ständig übersehen wird. Vor allem von sich selbst.

Caro Reichl, 1993 in Linz geboren, lebt in Wien, Stipendiatin des Klagenfurter Literaturkurses 2023, Absolventin der Literatur Akademie Leonding 2023, Werbetexterin. Mit ihren Texten gewann sie u. a. den Wiener Werkstattpreis und stand auf der Shortlist des Willemer Frauenliteraturpreises. »Was glänzt, verschwindet mit uns« ist ihr erster Roman.

Ich werde heute nach dir sehen. Dein Tag hat noch immer 24 Stunden wie meiner. 24 Stunden verbringst du in diesem kleinen Krankenhauszimmer, hauptsächlich allein und liegend. Die Zeit muss sich endlos für dich anfühlen, da sollte ich täglich bei dir sein, wenigstens für eine Stunde. Vor einem Jahr waren wir noch gemeinsam auf Reisen, jetzt schaffst du es nicht mehr aus dem Bett.

Ich kann mir nicht vorstellen, wie es ohne dich werden soll. Seit ich denken kann, bist du da. Du kannst dich an mich erinnern, als ich noch gar kein Erinnerungsvermögen habe. Wie ich dir als Kleinkind dein Spielzeug wegnehme, wie ich weine, weil du mich nicht mitspielen lässt, wie ich in die Windel mache oder daneben und wie unsere Mutter mich deswegen schimpft. Schon immer wollte ich zu allem deine Meinung hören, ich habe zu dir aufgeschaut, du zu Katrin, war ja auch sie die große Schwester, ich nur die kleine.

Darum hängen in meiner Praxis zwei abstrakte Acrylbilder. Du hast sie im Internet gekauft. Ich finde sie nicht sehr ansprechend, aber du hast gesagt, dem Raum würde Farbe guttun, meinen Klientinnen und Klienten ebenfalls. Wahrscheinlich hätte ich diese Bilder genauso gut hinbekommen, doch ich hätte mich nie getraut, sie aufzuhängen. Nie hätte ich jemand anderem außer dir zeigen wollen, was für Farben und Formen aus meinem Inneren kamen. Ich hätte mich entstellt gefühlt. Sogar bei dir war ich nervös. Dir meine Zeichnungen zu zeigen war, wie mein Herz auf einen Präsentierteller zu legen, die Befürchtung groß, der Teller könnte zu Boden fallen und zerspringen.

Du hast mir damals geholfen, meine Räumlichkeiten einzurichten, hast die gelb überzogene Couch ausgesucht und den kleinen Tisch aus Birkenholz, ich hätte vermutlich etwas genommen, was nicht zusammenpasst.

Zum dritten Mal innerhalb von fünfzehn Minuten muss ich aufs Klo, dass ich überhaupt noch pinkeln kann – aber ein paar Tropfen kommen immer. Ich zupfe meine Strickweste zurecht, damit man den Phönix auf meinem rechten Unterarm nicht sieht. Ich achte stets darauf, dass meine Tätowierung verborgen bleibt. Du wirst dich schon daran gewöhnen, hast du damals gesagt, doch auch Jahre später trage ich im Hochsommer langärmlige Oberteile.

Ich bin so nervös, dass ich trotz mehrmaligem Deo-Sprühen den Schweiß unter meinen Achseln riechen kann. Es war wohl nicht die beste Idee, Herrn Pechmann einen Therapieplatz anzubieten.

Erinnerst du dich denn noch an Michi, Michael Pechmann? Michi ging acht Jahre in meine Parallelklasse. In der Sechsten gab ich ihm für ein paar Stunden Nachhilfe in Latein. Bei der nächsten Schularbeit war er so gut, dass er meine Unterstützung nicht mehr benötigte. Er war lustig, aber kein Angeber. Jeder mochte ihn. Er lachte nie mit, wenn sich jemand einen Scherz über mich erlaubte. Es schien unmöglich zu sein, dass einer wie er jemals Interesse an mir haben könnte.

Was machst du da, lass den Scheiß, hast du gesagt, als du mich dabei ertappt hast, wie ich mit unserer Küchenschere die Buchstaben M, I, C, H, I in meinen Unterarm ritzte. Ich zog die Buchstaben so oft nach, bis ich blutete.

Das ist er doch nicht wert, hast du gesagt, aber du wusstest nicht, wie das war, sechzehn und noch nie mit jemandem zusammen gewesen zu sein. Ich bin Michi vor ein paar Tagen im Krankenhaus begegnet. Ich war gerade auf dem Weg zu dir, im Lift, als sich im zweiten Stock die Tür öffnete und er einstieg, trotz dunkler Augenringe, Bart und Arztkittel erkannte ich ihn sofort wieder.

„Hey, ewig nicht gesehen“, sagte ich und ließ mir nicht anmerken, wie schockiert ich über sein Äußeres war. Ungesund dünn sah er aus, seine Haut wirkte aufgedunsen, aber am meisten tat es mir leid um sein Haar. Sein armes Haar. Einmal gingen wir von der Schule aus gemeinsam ins Theater, ich saß direkt hinter ihm. Ich weiß noch, wie ich mir wünschte, dass die Vorstellung gar nicht anfangen sollte, damit das Licht anblieb. Ich hätte sein wuscheliges braunes Haar mit seinem Volumen und den gekräuselten Spitzen ewig bewundern können. Jetzt war es fettig und strähnig.

Im Lift sah er mich an und antwortete: „Ah, hallo.“

Ich freute mich, dass er sich an mich erinnern konnte. Meist falle ich nicht auf, aber Michi war eben schon immer sehr aufmerksam. Doch dann sah er mich genauer an und kniff die Augen zusammen.

„Kennen wir uns?“, fragte er.

Mir wurde heiß. Im Spiegel erkannte ich, dass sich auf meinem Hals rote Flecken gebildet hatten.

„Nola“, sagte ich mit leiser Stimme.

Er schüttelte verunsichert den Kopf. Am liebsten wäre ich in diesem Moment ausgestiegen, hätte die Hand gehoben, gewinkt und wäre gegangen, doch wir befanden uns erst im dritten Stock. Wie langsam konnte ein Lift bitte sein? Und dann auch noch im Krankenhaus, wie fahrlässig, dass sich darüber noch niemand beschwert hatte!

„Entschuldigen Sie, ich habe Sie wohl verwechselt“, sagte ich, damit die Situation nicht noch unangenehmer wurde. Ich schaute zu Boden. Ich sollte es gewohnt sein, dass die Leute nicht wussten, wer ich war, ich war nicht hässlich, aber unscheinbar, und manchmal wünschte ich mir tatsächlich, ich könnte mich in Luft auflösen.

Als der Lift aufging, stieg Michi aus, ohne sich nach mir umzudrehen.

Umso größer war meine Verwunderung, als er mir am selben Tag eine Mail schickte mit dem Betreff Terminanfrage. Ich habe seine Nachricht so oft gelesen, dass ich sie auswendig kenne. Er schrieb:

Sehr geehrte Frau Nimmerl,

auf der Suche nach einer Gesprächstherapeutin bin ich auf Ihre Website gestoßen. Ich benötige dringend einen Therapieplatz und habe bereits von drei Therapeutinnen die Auskunft erhalten, sie hätten erst in zwei bis drei Monaten Zeit. Sollten Sie früher einen Termin für mich zur Verfügung haben, melden Sie sich bitte. Vielen Dank!

Mit freundlichen Grüßen

Michael Pechmann

Michi wollte also einen Termin bei mir. Was für ein Zufall. Oder Schicksal? Aus therapeutischer Sicht sollte ich niemanden behandeln, zu dem ich einen persönlichen Bezug habe. Aber warum wollte er zu mir? Was bedrückte ihn? Was war so dringend, dass er es schnellstmöglich mit jemandem besprechen wollte? Eigentlich war auch mein Terminplan voll, doch schließlich überwog die Neugier und ich bot ihm ein Gespräch in einer Woche, also für heute an. Mir gefiel dieses „dringend“ in seiner Nachricht und mich beruhigte der Gedanke, dass es außer mir noch andere Menschen gab, die Sorgen hatten.

Ich wasche mir die Hände, das Wasser ist kalt, mein Spiegelbild versucht zu lächeln, ich komme mir albern vor. Ich trage ein weißes, eng anliegendes Kleid mit V-Ausschnitt – ist der zu tief? Ich habe mir die Augenbrauen gezupft, habe Wimperntusche und Kajal aufgetragen – zu viel, zu schwarz, schon verwischt? Ich habe mir vorgenommen: Michi ist für mich ab jetzt nur noch Herr Pechmann. Unser Verhältnis ist professionell. Sollte er mich fragen, ob wir uns kennen, egal ob aus dem Krankenhaus oder von früher, werde ich es abstreiten. Denn je mehr ich über unsere Schulzeit nachdenke, desto weniger will ich, dass er sich an mich erinnert. Ich hatte in der Schule nicht wirklich Freunde. Ich war die, neben der immer ein Platz frei war, die, die bei den Gruppenaufgaben übrig blieb, die, die beim Sport zuletzt gewählt wurde, die, die im Tanzkurs nie einen Partner fand, ich war ein Nichts, ein Niemand, wenn, dann kannte man mich als deine kleine Schwester oder als Nimmerl-Wimmerl.

„Brüste hat die ja, aber das Gesicht“, hörte ich die Jungs in der Schule über mich sagen. Weißt du eigentlich, wie sehr ich Katrin und dich um eure makellose Haut beneidete? Obwohl wir drei dieselben Gene hatten, war ich die Einzige, deren Hautbild einer Kraterlandschaft ähnelte, auch jetzt ist sie nicht ganz rein. Am heftigsten war es in der Pubertät, aus allen Poren quoll der Eiter, von der Stirn bis zum Kinn. Stundenlang stand ich vor dem Spiegel und drückte meine Pickel aus. Währenddessen wünschte ich mir, Katrin und du würdet auch irgendwann so einen Kraterpickel zwischen den Augenbrauen bekommen, aber vergeblich. Doch selbst wenn mit meiner Haut alles in Ordnung gewesen wäre, hätten die anderen in der Schule wenig Lust gehabt, mit mir befreundet zu sein. Denn wie keine andere Dreizehnjährige konnte ich mich für Latein begeistern. Es beeindruckte mich, wie lange eine tote Sprache überleben konnte. Ich war gut im Übersetzen, es fiel mir leicht, es machte mir Spaß, unsere Lateinprofessorin bestand sogar darauf, mich zu den LAThleten zu schicken, und dann gewann ich auch noch die österreichweite Lateinolympiade im Namen unserer Schule. Freak, Streber, Psycho und Schlimmeres sagten sie über mich, denn neben Latein hatte ich noch eine besonders seltsame Faszination für den Verfall von Dingen. Ich freute mich, wenn ich im...

Erscheint lt. Verlag 11.3.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-7011-8340-6 / 3701183406
ISBN-13 978-3-7011-8340-1 / 9783701183401
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