Austrocknen -  Janko Poli? Kamov

Austrocknen (eBook)

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2024 | 1. Auflage
480 Seiten
Guggolz Verlag
978-3-945370-63-6 (ISBN)
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Ein junger Mann hustet kanariengelben Schleim ab, spuckt Blut und führt sein Leben trotzdem weiter, als wäre nichts. Er trinkt, raucht, erforscht seine Sexualität, rebelliert gegen seine Eltern und die ganze Gesellschaft. Derweil verschlechtert sich sein Gesundheitszustand zusehends und setzt ihm hart zu - aus dieser fatalen Erfahrung heraus beginnt er, einen Roman darüber zu schreiben. Die finanzielle Abhängigkeit von seiner Familie quält ihn, also löst er sich, geht zum Studium nach Rom und versucht, dort als Korrespondent seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Doch die Krankheit lässt sich nicht abschütteln: In seinem Hals entwickelt sich ein tödliches Geschwür. »Austrocknen« ist Janko Poli? Kamovs einziger Roman. Posthum veröffentlicht, beschreibt er - poetisch in alle Richtungen überschießend - die Freuden und die Dämonen eines jungen Mannes, der aufbricht, seinen Platz im Leben zu suchen, aber feststellen muss, dass die Welt nicht auf ihn gewartet hat. Kaum verhüllt autobiografisch erzählt Kamov von Rauscherfahrungen, sexuellem Erwachen, politischer und künstlerischer Bewusstwerdung und dem Aufbegehren gegen die erdrückende kleinbürgerliche Herkunft. Seine furiose Mitschrift aller Gefühlsregungen und Einfälle des getriebenen Protagonisten gewährt tiefe Einblicke in dessen aufgewühlte und sprunghafte Innenwelt. Brigitte Döberts Übersetzung kostet die Erzählfülle aus und verleiht dem Roman eine prachtvolle Sprache, mit der die Jugend, aber auch der Verfall und die Weltverachtung in glänzenden Bildern beschworen und gefeiert werden und die ihn zu einem Ereignis werden lässt.

Janko Poli? Kamov (1886-1910) wurde in Su?ak, Rijeka, in Kroatien geboren. In seinen Gedichten, Erzählungen, Romanen, Theaterstücken und Feuilletons schrieb er gegen die Heuchelei und die Konventionen seiner Zeitgenossen an. Sein Hauptwerk, der rebellische, subjektive Roman »Austrocknen«, gilt als wichtigstes Prosawerk der kroatischen Avantgarde und wurde lange nach seinem Tod erst 1956 publiziert. Kamov flog wegen Undiszipliniertheit von der Schule und bereiste ab 1904 mit einer Schauspieltruppe Dalmatien und Montenegro. Später lebte er in Agram (Zagreb) als Schriftsteller und Journalist, beeinflusst von Baudelaire und den italienischen Futuristen. Kamov, der eigentlich nur Janko Poli? hieß, wählte den Beinamen Kamov nach der Figur Ham (oder Kam) aus dem Alten Testament, der seinen Vater Noah nackt sah, aber dessen Nacktheit nicht bedeckte, weshalb dieser seine Nachkommen mit einem Fluch belegte. Der rastlose Kamov ebnete mit seinem Grenzen sprengenden Werk den Weg für spätere wichtige kroatische Autoren wie Miroslav Krle?a und Antun Branko ?imi?; bereits mit 23 Jahren starb er in Barcelona im Hospital de la Santa Creu.

IX


Erst im Morgengrauen glitt er in einen schweren Schlaf. Einen Tag später stand er frisch und beschwingt auf und ging direkt in sein Zimmer. Die Vögel wetteiferten in sinnlosem Geplapper, obwohl dichter Regen aus ebenso dichten Wolken rauschte. Stupide Klavierübungen, krähende Hähne und die knallende Peitsche eines Kutschers mischten sich ins feuchte Grau, während die roten und schwarzen Dächer mit den grünen Baumkronen aussahen wie eine Kinderzeichnung auf braungrauem Packpapier. Versunken in den Anblick ließ Arsen die Vergangenheit kommen, so wie er sie haben wollte, untergliedert, seziert, stückweise. Er suchte und fand einzelne Teile und reihte sie wie beim Schreiben im Kopf aneinander.

Erste geschlechtliche Liebe: Adela, Nr. 4.

Er war damals sechzehn, das erste Barthaar gerade durchgebrochen; sie im fortgeschrittenen Alter. Auch wenn er sie unter sich hatte, wusste er, dass sie über ihm war. Erfahrung lag in ihren schläfrigen Augen, perversen Küssen und dem Spiel ihrer Finger, den Fingern einer Schneiderin. Sie hatte ihn am Gürtel festgehalten, hinter sich hergezogen und auf ihr Bett gesetzt. Sie war die Erste, die seine Schenkel packte und seinen Körper bespielte, bis er unter ihrem gewalttätigen Spiel ächzte. Und so kam es, das Geheimnisvolle, das Wunderliche, das Große, das die Vergangenheit begräbt und die Zukunft auf neue Fundamente stellt. Sie wusste es. Er, ihr Zimmer verlassend, auf ihrem Schoß sitzend, mit ihr Kaffee trinkend und Zigaretten rauchend, spürte das Neue nur. Es war Kraft. Er spürte sie auf der Straße, mehr noch zu Hause, am meisten in der Schule. Selbstbewusstsein, das mit jedem Schritt wuchs. Nach dem dritten Koitus war er auf Augenhöhe mit – ihr.

Aurora J., Schauspielerin, ein Kaff an der Adria.

Strohwitwe, weil der Intendant mit ihrem Gatten loszog, um einen guten Ort für ihr Orpheum zu suchen. Er hatte sie mehrmals auf der Bühne gesehen. Trotz einiger Jahre Schauspielerfahrung linkisch wie eine Anfängerin, deklamierte mit ausgebreiteten Armen wie Christus, der die Kindlein zu sich ruft, und sagte ihren Texte so dilettantisch auf, als gäbe es weder Punkt noch Komma. Kleidete sich entweder ganz in Weiß oder ganz in Schwarz, malte sich dazu knallrote Lippen und tiefe Ringe unter die Augen. In einer Rolle erschien sie mit offenen Haaren, schwarzen Augenbrauen und größer geschminkten Lippen, halbnackten Armen und kurzem Rock, so dass die schwarzen Strümpfe das rosige Weiß der Haut ahnen ließen. Ihre Stimme war asthmatisch, halb erstickt, als wäre sie erkältet.

Arsen suchte sie in der Garderobe auf, gratulierte ihr und äußerte ziemlich unklar seine innere Unruhe. Es war sogar ihr Mann, der ihn zum Kaffee einlud: Den koche sie mindestens so gut wie jeder bosnische Kafedžija. Arsen nahm die Einladung an. Trank eine Tasse und rauchte. Auch Aurora steckte sich eine an, inhalierte und hustete, als wollte sie Schleimbrocken an die Decke spucken. Sie war, merkte er, eine Prahlerin, die ihr Organ völlig überschätzte, ihre Stimme leider verlor und ein niedliches Oberlippenbärtchen wie ein junger Bengel hatte. Ihr Mann verreiste in der genannten Angelegenheit. Aurora blieb zurück. Arsen besuchte sie am Vormittag und traf sie in Hemd und Unterrock an. Beide entschuldigten sich und gingen abends gemeinsam spazieren. Sie wartete auf ihren Mann, der nicht kam. Sie verzweifelt, Arsen tröstete sie. Begleitete sie nach Hause, hielt ihre Hand und sagte: »Stützen Sie sich auf mich!«

Er kam am folgenden Tag wieder. Selbe Szene, etwas intimer. Sie bewirtete ihn mit Kaffee, er sie mit Zigaretten. Und dann bettelte er förmlich darum, sie möge eines der Lieder singen, die sie vor einem halben Jahr so lebendig, mit kurzem Rock und halbnackten Armen interpretiert habe. Sie lehnte ab und gab schließlich nach und – Arsen hinterließ beim Abschied ein völlig zerwühltes Bett.

Sie war unter ihm. Die Erste, die er gesucht, gefunden und bekommen hatte. Von all den Frauen dort – ausgerechnet sie, die am wenigsten Talent hatte und nicht besonders hübsch war. Er bekam nicht jede – gleichviel. Seine Lage ließ sich so beschreiben: Er war kein Knabe mehr, der zum ersten Mal im Restaurant ist und isst, was man ihm vorsetzt, sondern ein Jüngling, der schon einige Gaststätten kennt und das Gericht bestellt, das ihm schmeckt.

Natalija, ohne Zahl.

Angeblich Amerikanerin. Dünn, mager, hässlich. Er schlief bei ihr. Sie zog sich bis aufs Hemd aus und er auch. Sie schlüpften unter die Decke. Er küsste sie aufs Haar und drehte ihr müde den Rücken zu. Sie drehte sich auch um. Eine Viertelstunde später klopfte er ihr auf die Schulter, spürte ihre Gänsehaut und zwickte sie.

»Lass den Unfug.«

Er presste seine Nase zwischen ihre Schultern, rieb mit einer Hand über die trockene Haut, das Fleisch, das sich unter seinen Fingern samten-stachelig anfühlte, und spürte dem prickelnden Widerhall im Hirn nach.

»Was …«

Sie drehte sich nicht um, wehrte ihn mit einer Hand ab. Ihre Hand war mager und dabei ganz weich. Seine Hand machte weiter, am Ellbogen ein Stechen, wie wenn ein eingeschlafener Arm bewegt wird.

»Ah!«

Sie dreht sich um. Vielleicht war sie böse, aber Arsen sah ihr Gesicht nicht. Er zog die Decke über ihre Brust und Schenkel … – wie das Meer … Dann stand er auf, ging zur Waschschüssel und legte sich ruhig wieder neben sie.

»Woher kommst du?«

»Mexiko.«

»Und ihr seid hier bloß zwei?«

»Zwei.«

»Das Kaff verträgt doch mehr.«

»Schon.«

»Warum verschanzt ihr euch dann so und lasst keinen rein.«

»Die haben hier kein Benehmen. Manche prügeln sich, zücken sogar ihr Messer.«

»Bei der Größe? Wie das?«

»Ist halt so.«

»Soll ich die Kerze ausblasen?«

»Lass … später«, sie stand hastig auf, nahm die Kerze und floh. Kam lange nicht zurück. Arsen dachte daran, mit welcher Gewalt er sich auf sie gestürzt hatte … Seine Finger standen noch gleichsam in Flammen … Hatten sich in ihr Fleisch gekrallt … Er schämte sich … Als sie zurückkam, stank sie. Arsen drehte sich weg und dachte bei sich: ›Warum fragt sie nicht nach Papier … Hab’s in der Tasche. Blöde Kuh.‹

Namenlos. Bosnische Grenze. Park.

Die Physiognomie hatte er vergessen, erinnerte sich aber lebhaft an Redeweise und Bewegungen. Sie hatte sich neben ihn auf die Bank gesetzt.

»Gebt mir einen Kreuzer.«

»Hab keinen.«

Da sah sie ihn verblüfft an und schlug die Augen sofort wieder nieder. Vor Arsen leuchteten nackte Knie, die sie zusammenpresste, als müsse sie mit dem Schoß einen Ball fangen.

»Uch, Wachleute … Haben mich wieder abends geschnappt … Ja … ja …«

»Wofür?«

»Uch, Wachleute … Schnappten mich und ab … Haben mein Kleid zerrissen … der Ärmel hängt … Ja …«

Sie wiegte sich vor und zurück und senkte den Kopf rasch wieder.

»Aber wofür?«

»Uch, Wachleute. Zerrten mich … Zweie, kräftig … Herumgezerrt und zerrissen und ab.«

›Die ist verrückt‹, dachte Arsen und wunderte sich, dass es ihm nicht gleich aufgefallen war. Vormittag. Früher Morgen. Kein Mensch unterwegs, nur ein Bauer auf dem Weg zum Markt; der sah sie nicht.

»Uch … haben mich verhauen … ja …«, dabei nickte sie wie Kinder es tun, »verkloppt, wo angebunden und verkloppt … Uch … die … Zweie.« Dann versank sie in tiefes Nachdenken.

Sie war zerlumpt und verdreckt, dabei so jung. Ein Mädchen. Auf den Wangen eine leichte Röte, aber nur, weil ihre Augen – vermutlich – blau waren.

Arsen rückte näher an sie heran. Berührte ihre Kniescheibe, über die sich eine dünne, niedliche Narbe zog. So dreckig die Kleine war, das Knie war weiß. Die Schuhe waren ihr zu groß und hatten noch nie Schuhwichse gesehen, die Schnürsenkel fehlten, und die einst weißen Strümpfe sahen aus, als hätte man damit den Boden gewischt. Der Rock ließ die ursprüngliche Farbe nicht mehr erkennen, das Leibchen war am Saum ausgefranst, Wollfäden standen ab, als hätten Mäuse daran genagt, und darüber trug sie einen vielfach geflickten Umhang und ein wollenes Kopftuch, in dem viele trockene Grashalme und Feldblumen hingen. Wahrscheinlich schlief sie im Heu. Ach, selbst im Haar steckten Halme; sie kratzte sich am Kopf, auch wenn er die Hand unter dem zu weiten Hemdsärmel nicht sehen konnte.

»Haben mich verhauen … Uch, sind die böse … Ja, ja.« Wieder verstummte sie, und...

Erscheint lt. Verlag 13.3.2024
Übersetzer Brigitte Döbert
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-945370-63-9 / 3945370639
ISBN-13 978-3-945370-63-6 / 9783945370636
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