Hinter den Gärten die Welt (eBook)

Die Reisen der Marie Luise Gothein

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
272 Seiten
Schöffling & Co. (Verlag)
978-3-7317-6259-1 (ISBN)

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Hinter den Gärten die Welt -  Karin Seeber
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Marie Luise Gothein (1863-1931) war eine außergewöhnliche Persönlichkeit und ihrer Zeit in vielerlei Hinsicht voraus. Als Autodidaktin - Frauen waren noch nicht zum Universitätsstudium zugelassen - wurde sie Expertin für Literatur und Kulturgeschichte sowie für Gartenkunst. Als Reisende in ganz Europa, Japan, China und Java sah sie mehr von der Welt, als es für die meisten ihrer (selbst männlichen) Zeitgenossen üblich war. Als Autorin verfasste sie mit ihrer Geschichte der Gartenkunst (1914) ein umfassendes, nie dagewesenes Standardwerk über legendäre Gärten in Deutschland, Italien, Frankreich und Asien, das bis heute gelesen wird. Ihre Leistungen, mit denen sie sich zunehmend von dem kulturwissenschaftlichen Schaffen ihres Mannes emanzipieren konnte, wurden kurz vor ihrem Tod von der Universität Heidelberg mit der Ehrendoktorwürde anerkannt. Noch im Alter erlernte sie Sanskrit und Yoga. In ihrer romanhaften Biografie zeichnet Karin Seeber ein beeindruckendes Porträt dieser Gartenforscherin, Abenteurerin und Pionierin.

Karin Seeber, Jahrgang 1978, ist Kunsthistorikerin mit einem Master in Garden History von der Bristol University, England. Fu?r ihre Promotion u?ber Marie Luise Gotheins Geschichte der Gartenkunst forschte sie in Florenz und Rom. Heute ist sie Gartenkonservatorin bei den Staatlichen Schlo?ssern und Ga?rten Baden-­Wu?rttemberg.

Karin Seeber, Jahrgang 1978, ist Kunsthistorikerin mit einem Master in Garden History von der Bristol University, England. Für ihre Promotion über Die Geschichte der Gartenkunst forschte sie in Florenz und Rom. Heute ist sie Gartenkonservatorin bei den Staatlichen Schlössern und Gärten Baden­Württemberg.

Hongkong, 1926

Die Takelage des Schiffs rahmt eine chinesische Dschunke. Die baumdicken Masten verwurzeln sich vertikal zum Bildrand, dagegen ist die Uferlinie leicht nach links gekippt. Der Horizont kommt ins Wanken. Zwei Bergketten teilen das Meer vom Himmel. »Einfahrt in Hongkong vom Schiff aus 19.9.26«, wird sie später unter das Foto ins Album schreiben.

Land in Sicht! Endlich! Erleichtert und glücklich über die Aussicht, bald chinesischen Boden zu betreten, steigt Marie Luise Gothein auf das Deck des Schiffes. Sie hält den Moment mit ihrer Handkamera fest – auf schwankendem Boden. Es fällt ihr nicht schwer, das Gleichgewicht zu halten. Ihre leichte Gestalt benötigt nicht viel Kraft für die Balance. In der Begeisterung über die Ankunft leuchten ihre Züge auf, sie wirkt viel jünger als die 63 Jahre, die sie zählt, frisch und neugierig.

Für den Bruchteil einer Sekunde schießt ihr der Gedanke durch den Kopf, dass sie ihm die dunkle Bergkette hinter dem Hafen Hongkongs in einem Brief beschreiben muss. Im fast gleichen Augenblick breitet sich der Schauer der Erkenntnis auf ihrer Haut aus, dass er nicht mehr da ist.

Marie Luise Gothein, geborene Schröter, war so oft alleine gereist und angekommen. Sie hatte die Sprachen der Länder gelernt, die sie bereiste, sie hatte Zug- und Schiffsverbindungen über Ländergrenzen und Kontinente hinweg geplant, war von italienischen Männern in Zügen angestarrt worden, weil sie ohne Begleitung war. Kinder waren ihr in kleinen griechischen Dörfern neugierig hinterhergelaufen, auf ihre hellen Haare zeigend. Sie war mit Maultieren auf die Peloponnes geritten, mit Vorortzügen in die Tristesse des Pariser Umlands gereist, hatte in Hotels logiert, sich zum Dinner umgezogen, in Rom, in London, wenn sie bei Adeligen oder Industriellen zu Gast war, hatte in Schweizer Berghütten genächtigt und lange vor dem Morgengrauen Berggipfel bestiegen. Sie hatte sich die Säume ihrer Kleider bei der Suche nach alten Mauern und Pforten an den Dornen überwucherter und verfallener Gärten zerrissen … Dies ist ihre letzte Reise.

Wer war diese Frau, die sich im für damalige Verhältnisse hohen Alter so weit von der Heimat auf Entdeckungsfahrt begab? Sie war Forschungsreisende, aber keine Akademikerin. Dennoch veröffentlichte sie in ihrem Leben über dreißig Aufsätze und Bücher. Heute würde man sie als Pionierin der Kulturgeschichte bezeichnen. Zu ihrer Zeit war ihr noch kein beruflicher Weg gebahnt. Als sie junge Kinder hatte, setzte sie sich für Frauenbildung ein, ihr selbst blieb der Zugang zum Abitur verwehrt. Erst einige Monate vor ihrem Tod, im Jahr 1931, verlieh ihr die Universität Heidelberg die Ehrendoktorwürde. Bekannt ist sie für ein grundlegendes Buch, das die Geschichte der Gartenkunst erzählt – angefangen von den Gärten der alten Ägypter über die Gartenkunst der Griechen und Römer mit den Höhepunkten der Kunst in Italien und Frankreich bis hin zu den Reformgärten um 1900. Auch Japan und China sind in ihrer großen Erzählung eingeschlossen.

»Heute habe ich in Hongkong zuerst chinesischen Boden betreten«, schrieb sie am Abend in ihr Tagebuch. Noch wenige Jahre zuvor hätte sie diesen Satz, diesen Triumph in einen Brief an ihren Mann Eberhard Gothein, Heidelberger Professor für Nationalökonomie und Kulturgeschichte, geschrieben. Er wäre irgendwann von ihm gelesen worden und hätte ihm ein zufriedenes Lächeln entlockt. Nach langen Tagen des Reisens zu Wasser und Land wäre der Satz in seine Hände gelangt. So oft hatten sie zusammen geplant, dass ihr Fuß auf dieses weite alte Land trifft. Jetzt hatte sie es geschafft, sie war angekommen!

Jeden ihrer weiteren Briefe hätte er erwartet, mit Sorgfalt durchgelesen, hätte jeden ihrer Gedanken und ihre Beobachtungen beantwortet und seine eigene Sicht auf das, was sie sah, mitgeteilt, in sein Weltbild integriert, mit seinem Wissen abgeglichen und angereichert. Dann hätte er, wie immer, die Briefe verwahrt, sortiert nach Datum und Jahren. Und nach ihrer Rückkehr hätte sie sie lesen, ihre eigene Reise nachvollziehen können, den Moment noch einmal durchleben, in dem sie zum ersten Mal in Hongkong das große alte Land betreten hatte.

Es war die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Deutschland als Kriegsverlierer hatte, geregelt durch den Versailler Vertrag, alle Kolonien abtreten müssen. Es war eine Schmach, die den Bürgerinnen und Bürgern des Landes in den Knochen steckte, und Marie Luise war keine Ausnahme, als sie in den schwierigen Jahren nach dem Weltkrieg als Deutsche durch die Welt reiste. »Voll Neid und Bewunderung« ließ sie sich in ihrem Tagebuch über die strategische Klugheit der englischen Besatzer aus, die ihre Kronkolonie in Hongkong errichtet hatten, und prophezeite: »noch lange kann sich China daran seine Zähne ausbeißen«.

Bestimmt hätte ihr Briefpartner einige kluge Reflexionen zu erwidern gewusst, hätte von geschichtlicher Höhe aus die Frage von Herrschaft und Besatzung abwägen können. Das Tagebuch war nur ein Teil des postalischen Dialogs, den sie zeit seines Lebens mit ihm geführt hatte, wenn sie getrennt waren. Über vierzig Jahre hinweg, in Tausenden von Briefbögen hatte dieser Dialog ihr gemeinsames Schicksal, ihre Entwicklungen, Ideen, Vorstellungen, ihren Alltag und die Höhe- und Tiefpunkte ihres gemeinsamen Lebens aufbewahrt. Es waren die Briefe, die ihr halfen, Gedanken zu sortieren, Themen zu verknüpfen und eine Verankerung im Leben und in einer gemeinsamen geistigen Gedankenwelt zu fühlen. Er fehlte ihr.

In ihrem Tagebuch nahm sie Zuflucht zur Landschaft, in der sie Vertrautes suchte: »Es ist die letzte, dem Lande am nächsten gelegene und wohl auch am höchsten sich erhebende Insel jener Gruppe die sich meilenweit von hier ins Meer hinaus erstreckt. Die landschaftliche Schönheit, wenn man auf dem Peak steht, ist ganz unbeschreiblich; man blickt wahrlich wie von einem erhabenen Königsthron auf das blaue Meer ringsum mit seinen zahllosen kleinen malerischen Inseln über den Hafen hin auf das Festland.«

Fast ein Jahr zuvor, im Dezember 1925 hatte sie ihre Reise von Italien aus begonnen. Nach dem plötzlichen Tod von Eberhard im November 1923 hatte sie Heidelberg verlassen, war nach Italien geflüchtet. Von dort begann sie ihre Reise nach Asien. Sie hatte sie zunächst nach Südostasien geführt, nach Java, wo ihr Sohn Wolfgang als Tropenarzt arbeitete und mit seiner Familie und den jungen Enkelkindern lebte. Sie hatte sich aufgemacht mit der Neugier auf fremde Kulturen, die sie immer begleitete, doch es war auch der Wunsch einer Großmutter, ihre Enkel kennenzulernen.

Auf dem Berg in Hongkong erinnerte sie sich plötzlich zurück: »Und doch, mitten in all der Herrlichkeit, die mich umgab, wurde mir plötzlich klar, dass ich nicht mehr in den Tropen bin – und mit einem Male wusste ich, dass ich immer Heimweh nach den Tropen, nach Java haben werde, nach den Palmen und dem unendlichen Meer von Grün, den Stränden und den Vulkanen. Ich musste mir ordentlich einen Ruck geben – mir kam alle Vegetation plötzlich so nordisch, fast fremd vor. Ich kam ganz gerne auf das stille Schiff zurück, das war mir noch wie ein Stück Java, das nun schon so lange hinter mir liegt.«

Sie hatte in der feuchten Hitze der Tropen den Dschungel durchstreift, verfallene, überwucherte Tempel skizziert, sie hatte die Geheimnisse des javanischen Schattenspiels ergründet mit ihren feingliedrigen, an Stäben geführten Puppen und sie hatte sich vom wuchernden Grün der Tropennatur überwältigen lassen. Diese war grenzenlos, ungebändigt, übermächtig, ganz anders als alte europäische Gärten mit ihren schnurgeraden Alleen und verschnörkelten Schmuckbeeten.

Schon von Kindesbeinen an waren es die Landschaften, die sie berührt und geprägt hatten. Und doch sind es die Gärten, denen Marie Luise Gothein ihren Nachruhm verdankt.

Sie war eine außergewöhnliche Frau, die ihre Chancen, die das lange 19. Jahrhundert ihr bot, ergriff und nutzte. Sie war ganz Kind ihrer Zeit und fiel doch völlig aus dem Rahmen, eine Frau voller Ecken und Kanten. Ohne jeglichen formalen Universitätsabschluss leistete sie auf dem Gebiet der Gartengeschichte bahnbrechende Pionierarbeit. Für ihr grundlegendes Werk forschte sie zehn Jahre lang und bereiste halb Europa, immer auf der Suche nach den kunstvollsten, den bedeutendsten Gärten, von denen viele zu ihrer Zeit dem Verfall preisgegeben waren. Sie rettete sie vor dem Verschwinden und Vergessen, indem sie sie beschrieb und dokumentierte. Zugleich begründete sie damit einen neuen Zweig der Kunstgeschichte.

1914 wurde ihre zweibändige Geschichte der Gartenkunst veröffentlicht, im Winter des Jahres, dessen Sommer den Ersten Weltkrieg brachte. Es ist ein Kompendium, ein Nachschlagewerk, in dem die Gärten der Welt von ihren Ursprüngen bis in die Zeit seiner Veröffentlichung versammelt und beschrieben sind. Eng verknüpft mit deren Geschichte sind die Geschichten ihrer Besitzer. In ihrem Vorwort schrieb die Verfasserin: »Alle großen geistigen Strömungen haben auch irgendwie an das Schicksal des Gartens gerührt, und die bedeutendsten Gestalten der Weltgeschichte erscheinen als seine Pfleger und Förderer oft in ganz neuer Beleuchtung.«

Übersetzungen und zahlreiche Nachdrucke bis heute belegen den Wert dieses Werks. Der spätere Bundespräsident Theodor Heuss, der als junger Mann Journalist war, schrieb in seiner Rezension: »Der Weg durch die Geschichte des Gartens wird zu einer Wanderung durch den Garten der Geschichte.« Noch 2006 wurde ihre Weltgeschichte der Gärten unverändert ins Italienische übersetzt, als »un omaggio a questa, ancora oggi, fondamentale opera« –...

Erscheint lt. Verlag 22.2.2024
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Asien • Biografie • Forschungsreisende • Frankreich • Frauenbiografie • Frauen in der Wissenschaft • Garten • Gartenbuch • Gartengeschichte • Gartenkunst • Gartenroman • Heidelberg • Italien • Kulturwissenschaft • Pionierin • Romanbiografie • Schreibende Frauen • Wissenschaftlerin
ISBN-10 3-7317-6259-5 / 3731762595
ISBN-13 978-3-7317-6259-1 / 9783731762591
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