Hochzeit in Wien (eBook)

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2023 | 1. Auflage
270 Seiten
Verlag Urachhaus
978-3-8251-6264-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Hochzeit in Wien -  Marianne Philips
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Ein Tag, der das ganze Leben erzählt Wien, Juni 1933. In der Luftbadgasse 12 feiern Hausbesitzer Hodl und seine Frau goldene Hochzeit. Doch das Haus vereint noch andere Schicksale unter seinem Dach. Der Jude Meyer Jonathan wartet auf seinen Enkel Daniel, der im antifaschistischen Widerstand arbeitet. Das geregelte Leben von Rosita gerät durcheinander, als plötzlich ihre große Jugendliebe vor ihr steht. Die ehemalige Operndiva Maria Ritter versucht, dem begabten Geiger Paul zu einer Karriere zu verhelfen, der jedoch viel lieber mit seinen Katzen in den Tag hineinlebt. Und just an diesem Tag erblickt ein Enkelkind der Hodls das Licht der Welt. Ein herrlicher Tag also - doch hört man nicht schon das unheimliche Grollen unsäglicher Geschehnisse, die sich über Europa zusammenbrauen? Meisterhaft und einfühlsam erzählt die brillante niederländische Schriftstellerin Marianne Philips von schicksalhaften Begebenheiten am Vorabend der großen Katastrophe.

Marianne Philips (1886-1951) wurde für die Sozialdemokratische Arbeiterpartei als eine der ersten Frauen zum Ratsmitglied der Niederlande gewählt und war Mutter von drei Kindern. Wegen ihrer jüdischen Herkunft musste sie während des Zweiten Weltkriegs untertauchen. Ihre Romane kreisen oft um ethische und soziale Fragen und zeugen von ihrer Sympathie für Menschen am Rande der Gesellschaft. 'Hochzeit in Wien' war nach dem Krieg in den Niederlanden ein Bestseller und erlebte zahlreiche Auflagen, zuletzt 2022.  

Marianne Philips (1886-1951) wurde für die Sozialdemokratische Arbeiterpartei als eine der ersten Frauen zum Ratsmitglied der Niederlande gewählt und war Mutter von drei Kindern. Wegen ihrer jüdischen Herkunft musste sie während des Zweiten Weltkriegs untertauchen. Ihre Romane kreisen oft um ethische und soziale Fragen und zeugen von ihrer Sympathie für Menschen am Rande der Gesellschaft. "Hochzeit in Wien" war nach dem Krieg in den Niederlanden ein Bestseller und erlebte zahlreiche Auflagen, zuletzt 2022.  

3


Der alte Meyer Jonathan hat seine Gebetsriemen abgenommen und küsst sie innig und andächtig, ehe er sie in den Beutel aus Seidenbrokat steckt. Der herbe, aromatische Ledergeschmack haftet noch an seinen Lippen, als er mit einem Lächeln seinen Tallit, den schönen weißwollenen Gebetsschal mit den schwarzen Streifen, sorgfältig zusammenlegt. Noch einmal berührt er die weichen Schaufäden und murmelt ein letztes »Gelobt seist Du, Ewiger, unser Gott, der Du uns durch Deine Gebote geheiligt hast«. Dann schiebt er den zum Viereck gefalteten Schal in den Tallitbeutel und zieht mit noch stiller Hand eine Schublade auf, in der er alles verstaut.

Auch in der Wohnung ist es noch still. Das vertraute Ticken der Uhr pocht Pulsschlägen gleich durchs Zimmer, auf dem Dach über ihm trippeln Taubenfüße, und irgendwo unten schlägt dumpf ein Hammer, aber all das gehört zur Stille dazu. Die Nesselgardine bauscht sich vor dem offenen Fenster wie von leisem Atem bewegt, und Meyer Jonathan empfängt das sanfte Kräuseln der Luft als eine Gnade. Er steht noch in der Stille Gottes.

Ja, selbst nach einer Nacht voller Sorge und Sehnsucht hat ihn das Morgengebet in die Stille der Gegenwart Gottes zurückgeführt.

Meyer Jonathan erlebt im Gang seiner Tage viele dieser stillen Momente. Vor allem beim Morgen-, Mittags- und Abendgebet. Aber auch, wenn er nach dem Trubel der Inneren Stadt die Synagoge in der Seitenstettengasse betritt und wie ein zufrieden und müde heimkehrender Landmann die Tür seines Arbeitszimmers aufklinkt. Dann umschließen die Wände wie Schutzmauern seine Seele. Ganz und gar still wird es aber erst, wenn er am Abend zu Hause sitzt und beim Lampenschein mit dem Federkiel die hebräischen Schriftzeichen auf das steife und doch lebendige Pergament setzt, die geliebten Buchstaben, jeder für sich klein und unscheinbar, zusammen jedoch das Wort bildend. Bogen für Bogen und Rolle für Rolle hat er mitgemurmelt, was da unter seiner Hand entstand. Viele, viele Texte und Sprüche, Thorarollen und Mesusot, ein Menschenleben lang, und stets aufs Neue kehrte darin, wie ein Refrain, die beglückende Verkündigung wieder: »Höre, Israel, der Ewige, Dein Gott, ist ein einiges, ewiges Wesen.«

Es ist die tiefste Gewissheit der Lehre, und wenn er diese ausspricht, steigt das innere Lächeln Meyer Jonathans in die lichte Stille Gottes auf.

Achtzig Jahre alt ist er, Haar und Bart sind silberweiß, aber seine Augen hinter der Brille werden von Jahr zu Jahr jünger. Wer mit ihm spricht und ihn ansieht, empfindet plötzlich eine Andacht, die sich bis in die Augen fortsetzt und dort ruhen will, so wie man sich auch mit dem Lächeln eines unschuldigen Kindes eins fühlt. Doch in Meyer Jonathans klaren Augen liegt nicht nur kindliche Arglosigkeit, da ist noch etwas anderes, für das die Menschen keinen Namen haben, weil es sich nicht in dem umgrenzten Raum findet, innerhalb dessen der menschliche Verstand Namen vergibt. Es fesselt den Blick des Gegenübers und weckt den Wunsch, diesem unbekannten Bekannten, dieser namenlosen Klarheit näher zu kommen. Und dann lächelt Meyer Jonathan, setzt seine Stahlbrille ab und ist mit einem Mal wieder ein kleiner weißhaariger Jude mit Hunderten feiner Fältchen um die große Nase und einem kurzatmigen Räuspern. Auf diese Weise kann er sich unter den Menschen bewegen, ohne dass jemand merkt, dass er mit Gott wandelt.

Inzwischen hat Meyer sein Bett gemacht und die Brotreste vom Frühstück für die Tauben auf die Fensterbank gelegt. Das tun viele in der Luftbadgasse, denn hier nisten die Tauben unter jedem verwahrlosten Dach, in jeder ungenutzten Nische. Überall im alten Wien nisten Tauben, nur nicht in den großen neuen Wohnblocks, die man eifrig zwischen die alte Bebauung gequetscht hat. In der Luftbadgasse jedoch trippeln sie hundertweise an den Hausfronten entlang und übers Straßenpflaster, sie gurren und schnäbeln und flattern aus Bodenluken empor, um am hohen Himmel spielerische Flüge zu vollführen und danach auf den Fensterbänken eine Mahlzeit vorzufinden. Aber niemand füttert sie so regelmäßig und hingebungsvoll wie Meyer Jonathan. Die hübsche Rotblonde, die ihm aus einem der hinteren Häuser der Gumpendorfer Straße immer so freundlich zunickt, sorgt auch gut für die Tauben und ist gewiss freigebiger als er, aber sie lässt schon mal ein paar Tage aus. Meyer Jonathan nie.

Heute haben die Tauben den Großteil seines Frühstücks bekommen, er selbst hat nur einen kleinen Streifen Brot gegessen. Kann ein alter Mann, der Stunde um Stunde in Sorge gelegen und auf Schritte gewartet hat, noch großen Hunger haben? Aber das Morgengebet sprechen, das Bett machen und frühstücken, das alles muss eben sein, auch wenn man die Nacht in Angst um den Sohn des Sohnes verbracht hat. Der Gott Israels fordert nichts Übermenschliches von seinem Volk, aber er verlangt, dass man das von ihm empfangene Leben achtet und jegliche Handlung mit Bedacht verrichtet. Darum sucht Meyer Jonathan nach dem Frühstück erst einmal die Schmutzwäsche zusammen, von sich und seinem Enkel Daniel; die Zugehfrau wird sie nachher in einer Küchenecke vorfinden.

Doch als er Daniels blau gestreiftes Hemd auf den Haufen legt und vorsichtig glatt streicht, muss er mit zugeschnürter Kehle den letzten Brotbissen wieder zurückdrängen. Mit einem Mal sieht er vor sich, wie Daniel morgens das Hemd mit ein paar Rucken über seinen braunen Lockenkopf, den kräftigen Hals und die muskulösen, vom kalten Wasser noch feuchten Arme zieht. Und sein Herz fragt: »Daniel, wo bist du, was machst du, wer stellt dir heute deinen Morgenkaffee hin?«

Meyer Jonathan hat naive Vorstellungen vom Studentenleben. Er glaubt, der Jurastudent Daniel Jonathan fände sein Glück im Studium um des Studiums willen und wäre nirgends glücklicher als an seinem Schreibtisch. Er glaubt, man könnte sich 1933 an der Wiener Universität ebenso beharrlich von der Welt abschotten, wie er und seine Freunde sich vor sechzig Jahren am Jüdischen Seminar in Krakau ganz in ihrem Talmudstudium vergruben. Deshalb macht er sich nun Sorgen um Daniel, den es offenbar zwei Tage und Nächte nicht an seinen Schreibtisch gezogen hat. Wäre Meyer nicht so kindlich unwissend, was das ruhelose, gewaltsame Leben in seiner Stadt und darüber hinaus anbelangt, dann würde er ahnen, dass die unpersönliche Leidenschaft, von der edle Gemüter manchmal wie besessen sind, derzeit junge Leute in aller Welt heißblütig zur Tat schreiten lässt und in den Kampf gegeneinander treibt, dann wäre er nicht so enttäuscht und besorgt wegen Daniels unstetem Kommen und Gehen.

Aber wie sollte ein junger und glühend revolutionärer Sozialist einem alten frommen Juden die Probleme und Katastrophen der Gegenwart verdeutlichen?Wie sollte er einem Weisen, der im Frieden Gottes lebt, begreiflich machen, was Großdeutsche und Austromarxisten, Schutzbündler und Heimwehren, Sozis und Nazis und Bolschewiken wollen? Das ist nicht möglich. Einzig möglich ist es, ihn zu lieben, als wäre er noch ein kleines Kind, und seine warme, vertrauensvolle Liebe anzunehmen, wie sie geschenkt wird. So macht Daniel es, und darum ist es wirklich sonderbar, dass er den Großvater zwei Tage ohne Bescheid gelassen hat.

Meyer Jonathan schließt das Fenster, es ist sieben, und er muss zur Arbeit. Zwar braucht er nicht vor acht im Sekretariat zu sein, aber ein Achtzigjähriger geht nicht in weniger als einer Stunde von der Luftbad- in die Seitenstettengasse. Auf diese Weise ist Meyer Jonathan lange außer Haus, täglich von sieben Uhr morgens bis vier Uhr nachmittags. Viele Stunden, in denen er Geburten und Todesfälle registriert und die Akten für das Archiv der jüdischen Gemeinde führt, viele Stunden, die aber nicht den gesamten Tag ausmachen. Der echte, der lebendige Tag beginnt für ihn nachmittags um vier auf der Schwelle seines Wohnzimmers, wenn er seine schwarze Kippa aufgesetzt und den ganzen Abend vor sich hat, um den Namen auf das blanke Pergament zu zeichnen.

Jetzt steht er vor seiner abgeschlossenen Wohnungstür und legt den Schlüssel unter die Fußmatte, wo die Zugehfrau ihn finden wird. Auch Daniel kennt das Versteck; wenn Gott will, dass Daniel heimkommt … ja, wenn es Gottes Wille ist, dass Daniel wieder heimkommt …

Meyer Jonathans Blick ist stumpf, als er gebückt den Schlüssel weiter unter die Matte schiebt. Gewiss ist es keine Sünde, wenn einem alten Mann um des Sohnes seines Sohnes willen das Herz schmerzt, obwohl Gott dieses Herz täglich mit seinem Glanz und seiner Gnade erfüllt. Gott selbst hat ihm dieses Menschenherz gegeben, das Schmerz ebenso tief empfindet wie Freude. Er widersetzt sich dem Schmerz nicht, nein, schließlich ist es Gottes Wille, dass Daniel mit Gojim und Ungläubigen verkehrt, es ist auch Gottes Wille, dass Daniel zwei Nächte fortgeblieben ist.

Darum richtet Meyer Jonathan sich wieder auf, so gerade es noch geht, und tastet im schwach beleuchteten Treppenhaus...

Erscheint lt. Verlag 11.10.2023
Übersetzer Eva Schweikart
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Momentaufnahme • Schicksal • Sehnsucht • Sehnsucht Wien • Wien
ISBN-10 3-8251-6264-8 / 3825162648
ISBN-13 978-3-8251-6264-1 / 9783825162641
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