Nicht hier, nicht dort (eBook)

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2024 | 1. Auflage
224 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00479-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Nicht hier, nicht dort -  Siri Hustvedt
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In «Nicht hier, nicht dort» sind ihre frühen essayistischen Schriften versammelt. Der Titel ist programmatisch: Hustvedt bezieht ihn auf ihre geographische Herkunft als zwischen den Kulturen aufgewachsene Tochter norwegischer Einwanderer und auf ihren künstlerischen Standpunkt als Beobachterin und Bewahrerin: die Fiktion als Zwilling der Erinnerung, angesiedelt zwischen der realen Welt und der gedachten, gefühlten der Phantasie. Die Sprache als Mittlerin zwischen diesen Welten steht im Mittelpunkt dieser Betrachtungen zu Literatur und bildender Kunst: Sie erschließt, ob als Bildsprache des Malers oder als literarische des Schriftstellers, ein komplexes System von changierenden Zeichen und Symbolen, deren Struktur und Bedeutung in unserem Bewusstsein und zugleich außerhalb von uns angelegt sind. ln dieses Zwischenreich blickt man, wenn man in den leeren Spiegel von Vermeers «Annunziata» oder durch «Gatsbys Brille» bei F. Scott Fitzgerald schaut oder wenn man die sprechenden Figurennamen in Charles Dickens' «Unser gemeinsamer Freund» betrachtet. An diesen und anderen Beispielen erläutert Hustvedt, wie der künstlerische Schaffensprozess zu Erkenntnis führt. Ein Essay über den puritanischen Dirigismus, mit dem US-amerikanische Gerichte und Institutionen die Sexualität regulieren wollen, erforscht ebenfalls ein Zwischenreich: jenes wiederum stark durch Phantasie, Projektion und Experiment geprägte Feld der Annäherung, in dem jeder erotische Kontakt zwischen Menschen beginnt. Siri Hustvedt unterscheidet, wie in ihren Romanen, nicht streng zwischen ihrer privaten Biographie und ihrem öffentlichen Werk. Im Werk schwingt stets ein Widerhall des Lebens mit. Deshalb ist dieses Buch ein Glücksfall. Es gibt Einblick in ihre Arbeit und in ihr Leben und unterhält zudem auf hohem Niveau. «Siri Hustvedt schreibt im Wortsinn traumhaft - romantisch, gefühlvoll und zugleich verstörend unheimlich.» Salman Rushdie «Siri Hustvedt ist eine ebenso lebhafte wie sprachmächtige Schriftstellerin.» Don DeLillo

Siri Hustvedt wurde 1955 in Northfield, Minnesota, geboren. Sie studierte Literatur an der Columbia University und promovierte mit einer Arbeit über Charles Dickens. Bislang hat sie sieben Romane publiziert. Mit «Was ich liebte» hatte sie ihren internationalen Durchbruch. Zuletzt erschienen «Die gleißende Welt» und «Damals». Zugleich ist sie eine profilierte Essayistin. Bei Rowohlt liegen von ihr die Essaybände «Nicht hier, nicht dort», «Leben, Denken, Schauen», «Being a Man», «Die Illusion der Gewissheit»  und «Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen» vor.

Uli Aumüller übersetzt u. a. Siri Hustvedt, Jeffrey Eugenides, Jean Paul Sartre, Albert Camus und Milan Kundera. Für ihre Übersetzungen erhielt sie den Paul-Celan-Preis und den Jane-Scatcherd-Preis. Siri Hustvedt wurde 1955 in Northfield, Minnesota, geboren. Sie studierte Literatur an der Columbia University und promovierte mit einer Arbeit über Charles Dickens. Bislang hat sie sieben Romane publiziert. Mit «Was ich liebte» hatte sie ihren internationalen Durchbruch. Zuletzt erschienen «Die gleißende Welt» und «Damals». Zugleich ist sie eine profilierte Essayistin. Bei Rowohlt liegen von ihr die Essaybände «Nicht hier, nicht dort», «Leben, Denken, Schauen», «Being a Man», «Die Illusion der Gewissheit»  und «Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen» vor.

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Schon aufgrund ihrer Natur ist die Bezeichnung Urraum, mütterlicher Raum Unsinn; die menschliche Erfahrung darin ist undifferenziert und kann daher nicht in Worten ausgedrückt werden. Sie lebt jedoch in unserem Körper fort, wenn wir uns zum Schlafen zusammenrollen, wenn wir essen oder, bei manchen, wenn sie baden oder schwimmen. Und mit Sicherheit hinterlässt sie ihre Spuren in unserem körperlichen Verlangen nach einander. Väterlicher Raum im ideellen Sinn ist anders. Obwohl wir ebenso «von» unseren Vätern abstammen wie von unseren Müttern, sind wir nie «in» unseren Vätern. Ihr Getrenntsein ist offensichtlich. Im wirklichen Leben wirklicher Menschen kann diese Distanz verstärkt oder verringert werden. Viele Kinder meiner Generation wuchsen mit mehr oder weniger abwesenden Vätern auf. Ich nicht. Mein Vater war in meinem und im Leben meiner Schwestern sehr viel da, und wie meine Mutter war er zutiefst von dem Ort geprägt, an dem er aufwuchs.

Er wurde 1922 in einem Blockhaus nicht weit von Cannon Falls in Minnesota geboren. Das Haus brannte ab, und die Familie zog unweit davon in das Haus, in dem meine Großeltern noch während meiner ganzen Kindheit wohnten. Es gab kein fließend Wasser, aber im Vorgarten stand eine Pumpe. Meine Schwestern und ich liebten diese rostige Pumpe. Ich erinnere mich an die Zeit, als ich so klein war, dass ich mich nach dem Schwengel strecken musste, ihn dann mit beiden Händen und meinem ganzen Gewicht mehrmals herunterzog und auf den Schwall Wasser wartete. Mein Vater erinnert sich an eine Welt des Scheunenbauens, der Quiltnähkränzchen, der fahrenden Hausierer, der Square Dances und Pferdeschlitten. Er besuchte eine Zwergschule, in der alle Klassen in einem Raum waren, und wurde auf Norwegisch in der Urland-Kirche konfirmiert, einer weißen Holzkirche mit Turm, die auf einer Erhebung stand. Für mich ist diese Kirche ein Zeichen für Nähe. Wenn wir in unserem Auto daran vorbeikamen, bedeutete das, dass wir das Haus meiner Großeltern sehen konnten. Die Kirche war das letzte einer Reihe von Wegzeichen, denen meine Schwestern und ich so originelle Namen wie «der große Hügel» gegeben hatten. Jedes Wegzeichen wurde von einem ebenso originellen Lied begrüßt: «Wir fahren den großen Hügel runter. Wir fahren den großen Hügel runter.» Das mussten meine Eltern jahrelang über sich ergehen lassen. Der Weg betrug ungefähr fünfundzwanzig Kilometer, und die Fahrt dauerte auf den schmalen Straßen etwa eine halbe Stunde. Wie die meisten Kinder hatten meine Schwestern und ich eine Vorliebe für Wiederholungen und Rituale. Öfter besuchte Orte bekamen etwas Heiliges und Verzaubertes. Ich gebrauche diese Wörter bewusst, weil etwas Liturgisches daran war, so viele Male über denselben Boden zu gehen. Von der lutherischen Sonntagsschule und von Märchen geprägt, erfüllten wir die Orte, an denen wir aufwuchsen, mit dem, was wir am besten kannten.

Trotz der Tatsache, dass meine Eltern eine gemeinsame Sprache sprachen, waren die Welten, in denen sie aufwuchsen, grundverschieden. Die norwegischen Einwanderergemeinden in den Vereinigten Staaten, die im 19. Jahrhundert im Mittelwesten entstanden, und die zurückgelassene Heimat waren nicht nur durch Meilen, sondern auch durch die Kultur getrennt. Jene «Little Norways» entwickelten sich sehr unterschiedlich vom Mutterland, auch sprachlich. Die Dialekte, die die Menschen mitbrachten, nahmen in der Prärie eine andere Richtung. Englische Wörter, für die es im Norwegischen kein Äquivalent gab, wurden in das gesprochene Norwegisch eingeführt und bekamen ein Geschlecht. Andererseits waren Norweger, die seit mehreren Generationen in Amerika lebende Verwandte besuchten, von deren veralteter Redeweise und Grammatik überrascht. Das Erbe der Siedler, des primitiven Lebens in der Prärie sowie die reale Entfernung zum Ursprungsland erhielten das 19. Jahrhundert in Amerika länger lebendig als in vielen Teilen Norwegens.

Die zu meiner Zeit auf zwanzig Morgen zusammengeschrumpfte kleine Farm meiner Großeltern war unser Spielplatz, doch sogar als Kind spürte ich das Gewicht der Vergangenheit nicht nur auf dem Hof, der nicht mehr bestellt wurde, sondern auf der Gemeinde insgesamt. Ich erlebte ihr Verschwinden mit. Heute sind die alten Leute tot. Viele der kleinen Farmen wurden von großen Landwirtschaftsbetrieben aufgekauft, und wenn man in einen Laden geht oder einen Nachbarn besucht, sprechen die Menschen nicht mehr norwegisch. Als meine Großmutter Tilly mit achtundneunzig Jahren starb, hielt mein Vater die Grabrede. Er nannte sie «die letzte Pionierin». Mein Vater scheut jedes Klischee und jede Sentimentalität. Er meinte, was er sagte. Sie war eine der Allerletzten, die sich an das Leben in der Prärie erinnerte. Meine Großmutter väterlicherseits, eine lebhafte, offene, aber besonders, wenn es um Politik, Banken und soziale Themen ging, nicht ganz rationale Frau, war eine gute Geschichtenerzählerin. Sie kam schnell und ohne Umstände ins Erzählen, das dennoch die treffenden, besonderen Einzelheiten enthielt. Heute wünsche ich mir oft, ich hätte diese Geschichten auf Band aufgenommen. Als Matilda Underdahl sechs Jahre alt war, verlor sie ihre Mutter. Die Geschichte, die in unserer Familie ein Mythos wurde, ging so: Als der Pastor zu Tilly sagte, der Tod ihrer Mutter sei «Gottes Wille», stampfte sie mit dem Fuß auf und schrie: «Nein, ist es nicht!» Ihr Leben lang blieb meine Großmutter solcher Pietät abhold. Sie erinnerte sich an die Polio-Epidemie, der viele Leute, die sie kannte, zum Opfer fielen, und veranschaulichte mir die Situation mit einer kurzen, aber lebendigen Geschichte. Sie saß mit ihrem Vater am Fenster und beobachtete, wie aus einem Nachbarhaus zwei Särge, ein kleiner und ein großer, herausgetragen wurden. Während sie zusahen, sprach ihr Vater leise zu ihr: «Wir müssen beten», sagte er, «und Zwiebeln essen.» Sie erinnerte sich an eine vollständige Sonnenfinsternis, vor deren Eintreten ihr gesagt wurde, die Welt ginge unter. Sie zogen ihre Sonntagskleider an, setzten sich ins Haus, falteten die Hände und warteten. Sie erinnerte sich daran, wie man ihr von dem nokken erzählte, einem Wasserungeheuer, das kleine Kinder in die Tiefe des Brunnens zog, wo es lebte und sie wahrscheinlich auffraß. Natürlich sollten mit der Geschichte Kinder davon abgehalten werden, zu nah an den Brunnen zu gehen und zu ertrinken; Matilda aber zog sie gerade zu ihm hin. Und dort forderte sie das Schicksal heraus. Sie legte den Kopf auf den Brunnenrand und ließ ihre langen roten Locken tief hineinhängen, während sie in eigensinnigem, stillem Entsetzen darauf wartete, dass der nokken kam.

Noch eine andere kleine Geschichte, die ich nur einmal hörte, ist mir in Erinnerung geblieben. Als sie klein war, lebte sie an einem See im Ottertail County in Minnesota. Im Winter, wenn dieser See zufror, gingen sie und andere Kinder mit ihren Schlitten auf das Eis und statteten sie mit Segeln aus. Ich weiß nicht mehr, was sie als Segel benutzten, aber wenn es windig war, füllten sich die Segel mit Luft und trieben die Schlitten, manchmal rasend schnell, über das Eis. Als sie mir davon erzählte, schwang in ihrer Stimme die Freude an dieser Erinnerung mit, und ich sah die Schlitten aus der Ferne vor mir, drei oder vier, wie sie lautlos über die weite Fläche des zugefrorenen Sees sausten. So stelle ich es mir immer noch vor. Die Kinder sehe und höre ich nicht. Das, woran sie sich erinnerte, ist zweifellos so radikal verschieden von dem Bild, das ich mir von ihrer Erinnerung machte, dass beide vielleicht unvereinbar sind. Mein Urgroßvater mütterlicherseits war Kapitän. Es gibt ein Gemälde von seinem Schiff, das jetzt bei meinem Onkel hängt. Das Schiff hieß Mars. Mag sein, dass ich dieses Bild von einem großen Segelschiff auf dem Ozean mit den winzigen Schiffen auf dem Eis im landumschlossenen Minnesota verbunden habe, aber ich bin mir nicht sicher. Tillys Familie kam aus Underdahl am Sogne-Fjord. Sie selbst ist nie dort gewesen, aber ich sah Underdahl, als ich mit meinen Eltern und Schwestern im Schiff den Fjord entlangfuhr, wo die Berge so steil sind, dass die Bauern früher über Leitern in die unten gelegenen Städte hinunterstiegen. Underdahl hat eine winzig kleine Kirche. Vom Schiff aus wirkte das weiße Gebäude beinahe puppenhaft, und seither verkörpert der Name für mich nicht nur meine Großmutter, sondern auch diese Miniaturkirche.

Die Weltwirtschaftskrise traf meine Großeltern väterlicherseits schwer. Sie waren natürlich nicht die Einzigen, aber das Leben meines Vaters war und ist von dieser Not geprägt, dessen bin ich mir sicher. Er erzählt viele Geschichten über die Leute, mit denen er aufwuchs, aber sein Innenleben, die Bilder, die er mit sich herumträgt, vor allem die schmerzlichsten, behält er für sich. Ich weiß, dass er mit zehn Jahren anfing, auf anderen Farmen zu arbeiten. Ich weiß, dass meine Großmutter lefse, flache Kartoffelkuchen, backte und verkaufte, um Geld zu verdienen. Ich weiß, dass Schulden von 1200 Dollar auf der Farm lagen, die nach dem Ausbruch der Wirtschaftskrise nicht mehr abbezahlt werden konnten. Vierzig oder sechzig Morgen Land gingen verloren. Ich weiß, dass mein Großvater nach dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten Arbeit in einer ortsansässigen Rüstungsfabrik fand. Dann wurde er in eine Stadt im Staat Washington versetzt und musste die Familie verlassen. Er arbeitete am Aufbau der Rüstungsfabrik mit, in der später die Atombombe hergestellt werden sollte. Aber das erfuhr er erst Jahre danach. Viele Leute in dieser Gemeinde schufteten sich um...

Erscheint lt. Verlag 30.1.2024
Übersetzer Uli Aumüller
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Einwanderer • Essays • Herkunft • Identität • Kunst • Literatur • Puritanismus • Schaffensprozess • Sprache
ISBN-10 3-644-00479-X / 364400479X
ISBN-13 978-3-644-00479-5 / 9783644004795
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