Niemand schwebt allein (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
192 Seiten
Schöffling & Co. (Verlag)
978-3-7317-6247-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Niemand schwebt allein -  Markus Orths
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Ein argloser Zugreisender bekommt es mit der Angst zu tun, als sich ein zwielichtiger Mann in sein Abteil setzt und ihm auffa?llig viele Fragen stellt. Ein Billard­-liebender Auftrags­mo?rder spielt ein haarstra?ubendes Spiel mit seinem wider­spenstigen Opfer. Und ein unheilbar Kranker ist fest ent­schlossen, dem Tod durch Einfrieren seines Ko?rpers ein Schnippchen zu schlagen. In Markus Orths Erza?hlungen liegen Komik und existen­zielles Grauen nah beieinander. Mit skurrilem, oft schwar­zem Humor entfu?hrt uns der preisgekro?nte Autor in eine ganz eigene Welt und zeigt gewitzt die menschlichen Ab­gru?nde auf, die hinter dem scheinbar Gewo?hnlichen und Allta?glichen lauern. Mal beklemmend, mal zum Schreien komisch lesen sich die hier ausgewa?hlten Erza?hlungen von 2001 bis heute (aus Wer geht wo hinterm Sarg, Fluchtver­suche und Irgendwann ist Schluss) und laden zum (Neu­-)Entdecken dieses begnadeten Erza?hlers ein. Mit einer neuen, bisher unvero?ffentlichten Erza?hlung.

Markus Orths wurde 1969 in Viersen geboren und lebt als freier Autor in Karlsruhe. Bislang erschienen fu?nfzehn Bu?cher, Erza?hlungen und Romane, u. a. Lehrerzimmer, Das Zimmerma?dchen, Alpha & Omega, Max, Picknick im Dunkeln und 2023 im Carl Hanser Verlag Mary & Claire. Seine Bu?cher wurden in insgesamt achtzehn Sprachen u?bersetzt und vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Jahresstipendium des Deutschen Literaturfonds.

Markus Orths wurde 1969 in Viersen geboren und lebt als freier Autor in Karlsruhe. Bislang erschienen fünfzehn Bücher, Erzählungen und Romane, u. a. Lehrerzimmer, Das Zimmermädchen, Alpha & Omega, Max, Picknick im Dunkeln und 2023 im Carl Hanser Verlag Mary & Claire. Seine Bücher wurden in insgesamt achtzehn Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Jahresstipendium des Deutschen Literaturfonds.

»Markus Orths’ Erzählungen sind verspielt, witzig, intelligent, klug und spielerisch. Sie sind spannend, voller Leben, voller Kuriositäten und Aberwitz, glasklar und doch unheimlich.« 

Hinweise für den, der nicht weiß, wer er ist

7. Juli

Ich bin heute Morgen aufgewacht mit dem Gefühl, als hätte ich etwas vergessen. Nach dem Frühstück setzte ich mich ins Wohnzimmer. Ich habe nicht gewusst, was ich tun sollte, und bin einfach ruhig dagesessen und habe nichts getan. Bis das Telefon läutete. Am Apparat war ein Mann, der sich selbst Carlsson und mich Mr. Bough nannte. Er fragte mich, wo ich bliebe. Ich fragte zurück, wie er das meine. Statt zu antworten, nannte er die Uhrzeit: acht Uhr fünfundvierzig. Mehr sagte er nicht. Ich entgegnete ihm, dass ich nicht verstünde, was er von mir wolle. Daraufhin veränderte sich seine Tonlage, und er sagte, dass darüber noch zu sprechen sei. Dann hängte er ein. Etwas später ging wieder das Telefon, diesmal war es eine jüngere Männerstimme, die mich Clerence nannte und fragte, was mit mir los sei. Ich blieb höflich und zurückhaltend und fragte den Mann, wovon genau er spreche. Der Mann am anderen Ende entgegnete mir, er sei nicht zu Späßen aufgelegt, die Sache sei ernst, und wenn mir etwas an meinem Job liege, solle ich machen, dass ich in die Gänge käme. Auch er hängte ein. Dann ging ich ins Arbeitszimmer und öffnete ein frisches Notizbuch, vollkommen leer, weil ich dachte, dass es nützlich sein könnte, festzuhalten, was geschieht.

Ich habe einen Spaziergang gemacht und etwas gegessen. Ich habe gedacht, dass ich mich vielleicht an die Umgebung, an Straßen oder Läden erinnern würde. Und tatsächlich: Ich kannte mich aus, gut sogar, ich erkannte die Winford Road, die kleinen Palmen, die in Kübeln am Straßenrand standen, ich erkannte das Denny’s Restaurant und den Briefkasten an der Ecke. Dann aber hat mich jemand gegrüßt, er hat im Vorbeijoggen die Hand gehoben und meinen Namen genannt, ich habe genickt und zurückgewunken. Aber ich habe ihn nicht erkannt. Ich habe nicht den blassesten Schimmer, welche Menschen mich kennen und welche diejenigen sind, die ich kennen sollte.

8. Juli

Groß war die Bestürzung, als ich soeben den gestrigen Eintrag las, ohne den ich gar nicht wüsste, was gestern geschehen ist, denn heute ist mir Ähnliches widerfahren. Erneut erwachte ich mit einem merkwürdigen Gefühl und wusste nach dem Frühstück nicht, was ich tun sollte, sodass ich auf dem Stuhl im Wohnzimmer saß. Bis zum Klingeln des Telefons. Der Mann, von dem ich nun, nach dem Lesen des gestrigen Eintrags, weiß, dass er gestern schon einmal angerufen hat, meldete sich, sagte, ich könne mir noch einen unentschuldigten Tag nicht erlauben. Da ich zum Zeitpunkt des Telefonanrufs nicht wusste, dass ich bereits gestern mit ihm gesprochen hatte, erschien mir sein Anruf auf offene Weise unverschämt, und ich legte auf.

Nach dem, was ich soeben gelesen habe, wird mir klar, dass sich in meinem Leben etwas zu tun beginnt. Ich kenne die Gegend draußen, ich kann lesen, schreiben, ich finde mich in dem Haus, in dem ich lebe, gut zurecht. Aber ich kenne die Menschen nicht mehr, die in meinem Adressbuch stehen. Wer sind sie? Und ich weiß nichts über meinen Beruf. Ich habe mir die Bücher in der Wohnung angeschaut, es sind, wie es aussieht, juristische Bücher: Bin ich Anwalt? Ich habe versucht, einen Fall, den ich in einem Übungsbuch fand, zu lösen. Ich konnte es nicht. Ich mache Tabellen, links steht das, woran ich mich erinnere, rechts das, wozu mir der Bezug fehlt. Die rechte Spalte kann ich füllen, weil ich stundenlang in meinen Unterlagen wühle, Adressbuch, Briefe, Zettel, kleine Notizen. Vielleicht ist es so, dass mir alles Alltägliche, alles Banale, alles Unwichtige noch gewärtig ist, während ich alles Wichtige, alles, das mich und meine Existenz bis zum gestrigen Morgen ausmachte, verloren habe. Ist es das? Ich weiß es nicht. Vielleicht, denke ich, geht es nicht darum, herauszufinden, was war, sondern darum, herauszufinden, was wird.

Es gibt im Adressbuch Telefonnummern, die ich anrufen könnte. Aber was soll ich den Menschen, die mich kennen (ich sie aber nicht), sagen? Wie soll ich ihnen begegnen? Soll ich sagen: Erzähl mir noch mal, wie wir uns kennengelernt haben? Wie nahe stehen wir uns? Welche Gefühle erwartest du, soll ich für dich hegen? Nein, ich habe beschlossen, mich nicht zu melden bei den Menschen in meinem Adressbuch. Ich habe die tiefe, unaussprechliche Gewissheit: Das, was ich gerade durchmache, hat nur mit mir zu tun, ist ausschließlich für mich bestimmt, ist eine eigenste, eine ureigenste Erfahrung, die, teilte ich sie mit irgendjemandem, ihre Bedeutung verlieren würde.

Ich frage mich, ob ich morgen früh wieder, wie jetzt schon zweimal geschehen, alles vergessen haben werde, also auch die Gedanken, die ich mir mache, heute, und deshalb schreibe ich schnell, schreibe ich mehr als gestern noch, damit ich, wenn ich morgen erwache und nichts mehr von dem, was geschehen ist, wissen sollte, rasch auf dem Laufenden bin und dort weiterdenken kann, wo ich heute zu denken aufhören werde. Und so habe ich auf einen separaten Zettel meine Hinweise für den, der nicht weiß, wer er ist geschrieben und neben das Bett gelegt. Sie lauten:

Solltest du gerade erwacht sein und nicht wissen, wer du bist, so sei dir gesagt: Es ist schon zweimal geschehen. Du hast alles vergessen, so scheint es, was dir wichtig war im Leben. Du hast nicht dein Gedächtnis verloren, sondern so etwas wie das Gefühl für deine Existenz. Beachte: Man wird versuchen, dich zur Arbeit zu holen, vielleicht wird dein Chef anrufen, vielleicht dein Kollege. Gehe nicht auf ihre Anrufe ein. Du hast begonnen, ein Tagebuch zu schreiben. Lies es beim Frühstück. So wirst du wissen, was du gestern wusstest, und nicht wieder von vorn beginnen müssen.

9. Juli

Ich habe soeben die Hinweise für den, der nicht weiß, wer er ist gelesen, und es war gut, dass ich sie gestern geschrieben habe. Denn wieder war es so, als hätte die Nacht all das weggewischt, was ich gestern als Existenzgefühl bezeichnet habe.

Nach dem Frühstück brach eine Art Angst aus. Ich stellte mir vor, was mich erwartet, wenn das, was, wie ich lesen kann, vor zwei Tagen begonnen hat, andauert. Wenn ich in Zukunft jeden Morgen vergessen haben werde, wer ich bin, und wenn ich alles, was tags zuvor geschehen ist, durch das Lesen meiner Hinweise wieder neu erlernen muss. Es gäbe dann nichts mehr, woran ich mich festhalten, klammern, sagen wir aufrichten könnte. Keinerlei Beziehung, keinen länger währenden menschlichen Austausch, keine Zeit überdauernde Nähe. Und so riss ich, als am Nachmittag das Telefon läutete, den Hörer ans Ohr, wollte zwar, konnte aber nichts sagen. Es war eine mir unbekannte Stimme, eine der Stimmen, die, wie ich mir denken kann, zu den Namen in meinem Adressbuch gehören. Ich sagte kein Wort, stand nur da, den Hörer am Mund. Klar, da war dieser Drang, alles zu erzählen, demjenigen, der mich anrief, der etwas von mir wollte, der mich sehen wollte womöglich, treffen, ich hätte ihm gern alles berichtet, gleichzeitig schreckte ich davor zurück, aus Angst, einen Fehler zu begehen. Meine Freunde würden befremdet sein und mir nicht glauben, oder aber, wenn sie mir glaubten, mich zu einem Arzt schicken. Nein, dachte ich, das alles führt weg von dem, was eigentlich zu tun ist.

Als aber später noch einmal das Telefon ging, wurde mir klar, dass ich mich irgendwann mit den Adressbuchnamen auseinandersetzen musste. So hob ich den Hörer ab, meldete mich, merkte mir zu Beginn den Namen, den der Anrufer für sich selbst benutzte, hörte mir abwartend an, was er sagte, und teilte ihm schließlich mit, dass ich es für ratsam erachte, die Freundschaft (nein, ich sagte: Soll ich es Freundschaft nennen?) zu beenden, da ich plane, in naher Zukunft das Land zu verlassen. Der Anrufer trug die Nachricht mit Fassung. Viel, scheint mir, kann ihm nicht an dem Mann, der nicht weiß, wer er ist, gelegen haben. Ich strich seinen Namen aus dem Adressbuch.

9. August

Ein Monat ist seit meinem letzten Eintrag vergangen. Ich bin ruhiger geworden. Ich habe aufgehört, in mein Notizbuch zu schreiben. Nur noch die Hinweise habe ich geschrieben. Jeden Abend neu. Stichworte, ein kurzer Abriss dessen, was geschehen ist. Ich entnehme ihnen, dass sich ein gewisser Ablauf der Dinge eingespielt hat. Ich stehe morgens auf, lese meine Hinweise, frühstücke, setze mich ins Wohnzimmer und schaue der Uhr zu, die an der Wand hängt. Das beruhigt mich ungemein. Diese Regelmäßigkeit, dieses Überschüttetwerden mit tickender Exaktheit, dieses stetige Sichwiederholen. Mittags gehe ich essen, danach spazieren. Weiterhin entnehme ich den Hinweisen, dass ich ein Kündigungsschreiben meiner Kanzlei erhalten habe. Dass ich pünktlich und gewissenhaft drei Rechnungen bezahlt habe. Dass ich meine Adressbuchnamen inzwischen alle durchgestrichen und das Buch fortgeworfen habe. Dass seit einer Woche niemand mehr angerufen hat.

Meine Spaziergänge am Mittag führten mich täglich zu den Schafen jenseits des Flusses. Ich setzte mich zu ihnen. Ich habe zu Beginn (Hinweis vom 10. Juli) den Hirten um Erlaubnis gefragt. Ich hockte mich täglich ins Gras, anfangs in einiger Entfernung, dann aber, Tag für Tag, immer näher zu den Tieren hin. Und auch die Tiere (Hinweis vom 24. Juli) rückten näher, störten sich immer weniger an meiner Anwesenheit, lernten, mit mir und meinem menschlichen Körper zu leben. Es sind ihre Gedanken, die mich ihre Nähe suchen lassen. Es sind Gedanken, die fehlen, könnte man sagen, Ungedanken, Nichtgedanken. Ich lausche dem leisen Grasschmatzen, und während sie so schmatzen, ich weiß es, denken sie nichts, und weil sie nichts denken, erinnern sie sich an nichts und haben...

Erscheint lt. Verlag 25.1.2024
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Erzählungen • Humor • Kafka • skurril • Spannung
ISBN-10 3-7317-6247-1 / 3731762471
ISBN-13 978-3-7317-6247-8 / 9783731762478
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