Disco Old Germany (eBook)
400 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60766-7 (ISBN)
Claus Cornelius Fischer, geboren 1951 in Berlin, besuchte bis zum Abitur ein Jesuiteninternat in Westfalen und anschließend eine Journalistenschule in München. Nach dem Diplomabschluss arbeitete er als freier Journalist unter anderem für »Die Welt« und »Die Zeit« und als Übersetzer amerikanischer Romane, bevor er sich als Drehbuchautor und Romancier etablierte. Die Krimi-Reihe um den Amsterdamer Commissaris Bruno van Leeuwen ist auch international erfolgreich.
Claus Cornelius Fischer, geboren 1951 in Berlin, besuchte bis zum Abitur ein Jesuiteninternat in Westfalen und anschließend eine Journalistenschule in München. Nach dem Diplomabschluss arbeitete er als freier Journalist unter anderem für »Die Welt« und »Die Zeit« und als Übersetzer amerikanischer Romane, bevor er sich als Drehbuchautor und Romancier etablierte. Die Krimi-Reihe um den Amsterdamer Commissaris Bruno van Leeuwen ist auch international erfolgreich.
1
Jetzt war ich siebzehn, und es war Nacht, und ich saß mit Ulrike – Rike, wie sie von allen genannt wurde – an der Haltestelle bei der Liebfrauenschule und wartete auf den letzten Bus Richtung Paderborn. Ich hätte lieber mit Cornelia an der Haltestelle gesessen, aber das mit Cornelia war schon lange aus. Unter anderem war es deswegen aus, weil es nie angefangen hatte.
Das Problem mit Cornelia war gewesen, dass sie mich nicht mit demselben Gefühl in der Magengegend wahrnahm wie ich sie, sondern nur mit den Augen, und dass sie nicht genau hinschaute, sonst hätte sie mich wenigstens ihre Hand halten lassen, während wir spazieren gingen. Ich glaube, ich liebte sie immer noch, aber es war eben aus.
Rike dagegen ließ sich anfassen. Sie wollte sogar, dass man sie anfasste, auch wenn sie es nicht direkt aussprach. Es hätte mir sehr geholfen, wenn sie es gesagt hätte, aber sie tat es nicht. Sie ging in die Parallelklasse und war genauso alt wie ich. Sie hatte graue Augen, eine kleine Nase, ein paar Sommersprossen und rotbraunes Haar, das sie nach hinten gekämmt trug, aber nicht länger als bis in den Nacken. Ihre Haut war hell wie Milch. Sie war nicht sehr groß. Genau genommen war sie sogar eher klein. Sie hatte den Ruf, erfahren zu sein. Manchmal glänzte ihre Nase.
Sie ging in den gleichen Tanzkurs wie ich. Ich durfte ihre Hand halten, und seit kurzem nahm sie von sich aus meine. Nach der Schule wartete ich oft mit ihr an ihrer Haltestelle auf den Bus. Manchmal, wenn es kalt war oder regnete, warteten wir im Café, wo wir zwei Cola tranken; das war alles, was ich mir leisten konnte. In den vier Wochen seit Beginn des Tanzkurses hatte ich sie noch nicht einmal geküsst.
An diesem Abend hatte Rike mich am Ende der Foxtrott-Stunde gefragt, ob ich sie noch zu einem Eis einladen würde, und ich hatte Ja gesagt, denn es war Sommer. Außerdem gefiel sie mir immer besser, seit ihre Augen so schimmerten, wenn sie beim Walzer zu mir aufsah. Beim Tanzen konnte ich sie anfassen und im Arm halten und ihre Wärme unter der weißen Bluse spüren, ohne dass ich sie richtig anfasste. Ich hatte bei ihr zwar nicht dieses süße Gefühl in der Herzgegend wie bei Cornelia, aber ich dachte, das könnte ja noch kommen und wenn nicht, dann war sie wenigstens gut zum Üben, um Erfahrung zu sammeln, bis Cornelia mich mit neuen Augen sah. Deswegen saßen wir so spät noch allein an der Bushaltestelle am Ortsausgang und hielten uns bei den Händen. Sie sah mich an, als wünschte sie, ich würde nicht nur ihre Hand halten.
Nach ein paar Minuten sagte sie ohne besonderen Anlass meinen Namen: »Julian …« Dabei lächelte sie wie in Gedanken. Ich sagte: »Rike …« Etwas später fragte sie: »Willst du nicht mitkommen zu uns nach Hause? Meine Eltern schlafen bestimmt schon.«
Dagegen sprachen mehrere Punkte. Erstens, ich hatte kein Geld für den Bus, und ihr Dorf war bestimmt fünfundzwanzig Kilometer entfernt, viel zu weit, um später zu Fuß zurückzulaufen. Zweitens, ich hätte längst im Internat sein müssen. Drittens, ich wusste nicht, was ich überhaupt bei ihr sollte, wenn ich erstmal da war. Wir saßen also nur auf der Bank, hielten uns bei den Händen und schwiegen. Zuerst war es ein inniges Schweigen gewesen, aber langsam veränderte es sich, ohne dass ich es merkte. Die Veränderung rührte daher, dass Rike genau wusste, was ich dachte – erstens, zweitens, drittens, wobei drittens besonders schwer wog. Für sie gab es kein Erstens, Zweitens, Drittens, wenn man sich liebte.
Nach ein paar Minuten ließ Rike meine Hand los. Sie schlug die Oberschenkel übereinander, Nylon sirrte, und sie begann mit einem Bein zu wippen. Der Rock rutschte hoch, nur ein paar Millimeter. Sie holte ein Kaugummi aus ihrer kirschroten Lederhandtasche und grub ihre kleinen, weißen Zähne hinein. Ich dachte, dass es schade um den Geschmack des teuren Fürst-Pückler-Eisbechers mit Sahne war, den ich immer noch auf der Zunge spürte. In der trüben Beleuchtung der Bushaltestelle sah Rike mir kaugummikauend in die Augen; ihre waren bernsteinbraun.
Nach ein paar Sekunden hörte sie auf, zu kauen und mit dem Bein zu wippen. Sie sah mich nur noch an, so lange, dass ich die Zeit richtig spürte, weil mir nach und nach heiß wurde wie in der Mathestunde, wenn ich aufgerufen worden war und die Lösung nicht wusste. Ich hielt das Schweigen immer noch für innig und den Blick für tief statt lang, deswegen wusste ich genau, was sie in diesem Moment dachte.
Sie dachte: In meinem ganzen Leben habe ich noch nie einen so schönen Mann gesehen. Ich könnte ihm stundenlang nur in die Augen schauen. Julian …
Ich wusste schon, wie ich reagieren würde, wenn sie es aussprach; wie ich mit einem bescheidenen, vielleicht eine Spur wegwerfenden Lächeln den Kopf senken würde. Sag es schon, dachte ich. Schließlich fing sie wieder an zu kauen und sagte, ohne den Blick von meinen Augenbrauen zu lösen: »Du hast da einen Pickel über dem Auge.« Danach schaute sie weg, wieder auf die Straße, und das trübe Licht der Bushaltestelle spiegelte sich auf ihrem wippenden weißen Lacklederstiefel.
Das war der Moment, in dem die Rocker aus der Dunkelheit auftauchten. Zuerst hörte ich nur das Röhren der schweren Maschinen, dann erschienen die Scheinwerfer in der Straßenkurve, zwei, drei, fünf, acht, zwölf. Es war, als ob die Erde zu beben anfinge. Langsam, in einer lockeren Formation, fuhren sie auf ihren BMWs, Harley Davidsons und Kawasakis an der Haltstelle vorbei. Ich versuchte nicht hinzuschauen. Ich starrte auf meine Halbschuhe, aber dennoch entging mir nichts; ich hatte meine Augen plötzlich überall.
Ich registrierte jedes Detail: die brustlangen Bärte. Die Sonnenbrillen. Die alten Wehrmachtshelme. Die Stiefel. Die Lederwesten mit den Totenköpfen und Eisernen Kreuzen auf dem Rücken. Die nackten, tätowierten Oberarme. Die Messer und Ketten an den Gürteln.
Mit ohrenbetäubendem Donnern rollten zwölf Hell’s Angels an der Haltestelle vorbei. Sie sahen zu uns herüber, nahmen aber weiter keine Notiz von uns. Der letzte hatte das Wartehäuschen schon fast passiert, als Rike ihm plötzlich etwas nachrief.
Zuerst schien es, als wäre das Wort im Lärm der Motoren untergegangen. Sie fuhren weiter, alle elf; nur einer nicht, der zwölfte. Der zwölfte scherte aus, drehte um und hielt nach einem makellosen U-Turn über die gesamte Breite der Straße am Bordstein vor dem Wartehäuschen. Er stützte sich mit beiden Beinen ab, jagte noch einmal den Motor hoch und stellte ihn dann ab. »Was hast du gesagt?«
Ich spürte, wie mir das Blut aus dem Kopf stürzte. »Nichts«, sagte ich schnell.
»Scheißrocker, habe ich gesagt!«, erklärte Rike.
Jetzt kehrten auch die anderen um, elf Maschinen, die sich wie von Zauberhand geführt nicht mal streiften, als sie alle neben, hinter oder quer zu dem ersten hielten und nur noch leise vor sich hintuckerten. Einige der Hell’s Angels zogen ihre Handschuhe aus. In den Gläsern ihrer Sonnenbrillen spiegelten sich das erleuchtete Wartehäuschen und die Bank, auf der nur zwei kleine Gestalten saßen, ein Mädchen und ein Junge.
Zwei der Rocker stiegen von ihren Choppern und traten langsam auf die Bank zu. Die Luft roch plötzlich nach Benzin und Schweiß. Ich sah alles mit der Schärfe, mit der man wahrscheinlich die letzten Sekunden seines Lebens wahrnimmt: die tanzenden Mücken in den Scheinwerferkegeln der Motorräder, die abgenutzten Stellen im braunen Leder meiner Halbschuhe, die schlaff herabhängenden Schnürsenkel, den leichten Flaum auf Rikes Ohrläppchen, die Brustmuskeln des Rockers, der sich vor uns hinstellte und sagte: »Steh auf!«
Er sagte es nicht zu Rike. Er sagte es zu mir. Rike rief, jetzt schon etwas schriller: »Ey, lasst ihn in Ruhe, ja?!« Damit war endgültig klargestellt, dass er mich meinte. Natürlich wäre ich aufgestanden, wenn ich gekonnt hätte. Aber ich konnte nicht. Ich war unfähig, mich zu bewegen. Mein Herz hämmerte, und meine Blase – ich wusste nicht, wie lange ich es noch halten konnte.
Hastig blickte ich die Straße hinauf, in die Richtung, aus der der Bus kommen musste. Wo blieb er bloß? Sollte er nicht schon seit einer Ewigkeit da sein? Aber die Straße war leer, kein Bus, überhaupt kein Fahrzeug. Und wo waren die ganzen anderen Menschen? Ging denn im Sommer niemand mehr nachts spazieren?
»Los, steh auf!«
...Erscheint lt. Verlag | 29.2.2024 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 1960er Jahre • Aufwachsen • Coming of Age • Jugend |
ISBN-10 | 3-492-60766-7 / 3492607667 |
ISBN-13 | 978-3-492-60766-7 / 9783492607667 |
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