Der Koffer (eBook)

oder: Entartete Ecken
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2024 | 3. Auflage
150 Seiten
epubli (Verlag)
978-3-7584-6061-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Koffer -  Susanne Mathies
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Verloren in einem Meer von Täuschungen Anna Wolf, mitte dreißig, von ihrem Ehemann getrennt, kommt spät abends am Flughafen Zürich an und nimmt versehentlich einen fremden Koffer vom Band. Eine Flut von halb verwischten Erinnerungen, Assoziationen, Albträumen und erotischen Visionen treibt Anna mit dem schweren Gepäckstück auf eine Odyssee durch die Nacht, bis sie in einer Bar von einem Mathematiker vom Problem entarteter Ecken erfährt. Gibt es eine Verbindung zwischen Liebe und Mathematik?

Susanne Mathies, geboren 1953 in Hamburg, lebt in Zürich, promovierte in Wirtschaftswissenschaft und in Philosophie. Sie schreibt auf Deutsch und Englisch und hat einige Kriminalromane veröffentlicht, außerdem zahlreiche Gedichte und Kurzgeschichten in verschiedenen Zeitschriften und Anthologien.

Susanne Mathies, geboren 1953 in Hamburg, lebt in Zürich, promovierte in Wirtschaftswissenschaft und in Philosophie. Sie schreibt auf Deutsch und Englisch und hat einige Kriminalromane veröffentlicht, außerdem zahlreiche Gedichte und Kurzgeschichten in verschiedenen Zeitschriften und Anthologien.

Ein Anfang

 

»All meine Freuden zählen nie

So viel wie die Melancholie«

Robert Burton, Die Anatomie der Melancholie

 

Ich haste einen steilen Acker hoch, bei jedem Schritt sinke ich tief in die dunklen Erdschollen ein, meine hochhackigen Schuhe bleiben fast im Boden stecken, nur mit Mühe kann ich sie herausziehen. Rote Lackschuhe, sie werden ganz schmutzig, aber ich kann jetzt nicht umkehren. Ich muss rasch an einem bestimmten Ort ankommen, einem Flughafen auf dem Lande, den man nur zu Fuß erreichen kann. Gerade habe ich ein staubiges Dorf verlassen, dort hat mir jemand einen Tipp gegeben. Ich muss bergauf gehen, die Sonne brennt mir auf den Rücken. Endlich bin ich so weit oben angelangt, dass ich den Flughafen erkennen kann. Er ragt hoch in den Himmel wie eine Kathedrale, die Spitze schimmert am Horizont, noch mindestens zwei Hügelkuppen entfernt. Auf keinen Fall darf ich zu spät kommen, muss eilig weiterstolpern über den buckligen Boden. Dies ist nur die erste Hürde – am Flughafen werden die wirklichen Schwierigkeiten erst anfangen. Der Check-in befindet sich tief im Bauch der Kathedrale, man erreicht ihn nur durch unterirdische Gänge in einem Einkaufszentrum, überall ist der Weg von Brandtüren versperrt, graugestrichene Türen aus schwerem Eisen. Hoffentlich kann ich sie öffnen, vielleicht hat jemand sie abgeschlossen, das tun sie manchmal.

»Bitte bleiben Sie angeschnallt sitzen, bis das Zeichen über Ihrem Sitz erloschen ist!«

Ich recke mich gegen die harte Rückenlehne und versinke in die Aufgabe, die mir im Traum auferlegt ist.

Nirgendwo ist der Weg zum Check-in angegeben, man muss sich vom letzten Mal an alle Details erinnern: Der Modeladen mit den kurzen Seidenkleidern befindet sich an der Ecke, hinter der man die Treppe zum ersten Untergeschoss hinaufsteigen muss. Die Treppe ist schlecht beleuchtet, ich muss aufpassen. Die Eingangstür zum eigentlichen Flughafenbereich kann man leicht übersehen, bestimmt gehe ich ein paar Mal daran vorbei, bevor ich sie finde. Von dort aus gibt es Hinweisschilder, allerdings zeigen sie manchmal in die falsche Richtung, und ehe ich mich versehe, bin ich zurück im Einkaufszentrum und muss wieder von vorn anfangen.

»Bitte bleiben Sie angeschnallt sitzen, wir haben das Ziel noch nicht erreicht!«

Sicher wollen einige hektische Herren aus dem fahrenden Flugzeug aussteigen. So eilig habe ich es nicht, darf außerdem nicht aufwachen, solange ich meine anstrengende Aufgabe noch nicht erfüllt habe. Mein Atem wird keuchend, meine Arme verkrampfen sich, jetzt nur nicht aufgeben! Aber die stickige Hitze liegt mir schwer auf der Brust.

Meine Füße schleppen sich über den klumpigen Boden, ich hätte doch besser über die Landstraße zum Flughafen laufen sollen, um rechtzeitig anzukommen. Aber das macht keinen Sinn, fällt mir jetzt ein. Schließlich sitze ich schon in einem Flugzeug, noch dazu in einem, das gerade gelandet ist! Ich nehme einen tiefen Atemzug und versuche, mich zu entspannen.

Die Luft, die durch meine Nase zieht, schmeckt suppig, nach einer Brühe, die ich mir lieber nicht vorstellen will. Verkohlte Kabel, mit Kotze gelöscht. Hässliche Worte für einen hässlichen Geschmack. Widerwillig öffne ich die Augen.

 

Das Flugzeug ist hell erleuchtet. Der muffige Vorhang, der Business- von Economy-Class trennt, ist zurückgezogen, die grauen Falten hängen direkt vor meiner Nase. Neben mir sitzt ein Mann in verschwitzten schwarzen Jeans und Karo-Hemd. Er scheint ein paar Nummern zu groß für den Sitz, seine Knie stoßen gegen die Lehne des Vordermannes, und sein rechter Ellenbogen reicht weit über die Armlehnengrenze zu mir herüber. Auf der höchsten Stelle seines Bauches hält er eine Aktenmappe. Er tippt auf einem Smartphone, das ständig wegzurutschen droht. Die Hitze wird unerträglich, alles scheint in Auflösung begriffen. Der Ellenbogen meines Nachbarn zuckt immer wieder in meine Richtung, gleich wird er mir schmerzhaft in die Rippen stoßen, kräftig und rücksichtslos. Aber es passiert nicht, warum bin ich enttäuscht darüber? Solche Gedanken sind Anzeichen für eine depressive Verstimmung, hat der Arzt gesagt, die feinen Falten unter den hellblauen Augen lassen ihn freundlich aussehen, aber er versteht mich nicht. Ich wollte schließlich nur ein Rezept für ein Stärkungsmittel, vielleicht fehlen mir Vitamine oder Mineralien, viele Frauen leiden unter Eisenmangel.

»Bitte bleiben Sie noch angeschnallt sitzen!«

Das könnte das Motto meines Lebens sein, brav sitzen bleiben, tun, was mir gesagt wird, keine eigenen Pläne verfolgen, nicht aufbegehren. Da bleiben, wo ich einmal platziert worden bin, mit einem Zwangsjackenband an einen zu engen Sitz gezurrt, in einem stickigen Metallkanister eingepfercht zusammen mit anderen menschlichen Tieren, die nach ihrem Auslauf gieren, mit Zorn in der Kehle und dem Impuls zum Losgaloppieren in den Fuß- und Kniegelenken, ausscherend, ellenbogenrammend, gegen Sitzlehnen tretend. Währenddessen benebelte Sinne und schieflaufende Gedanken, die in rasender Fahrt abdriften, so dass man ihnen gar nicht schnell genug hinterhersehen kann.

An der Tür entsteht Unruhe. Ich stelle mir vor, was geschehen ist. Draußen hat dieser suchende Riesenwurm mit den Ziehharmonika-Falten sein bis zum Ausrenken des Kiefergelenks aufgesperrtes Maul suchend hin- und hergeschwenkt, nach kurzem Schwanken die offene Tür des Flugzeugs gefunden und sich daran festsaugt, eine erfolgreiche Paarung, ein Willkommenskuss. Wenigstens die Maschinen sind glücklich.

Mein übergroßer Nachbar zwängt sich erstaunlich schnell aus dem ächzenden Sessel, schwingt seine Tasche zwischen die Wartenden im Gang und sichert sich einen günstigen Platz.

Inzwischen hat auch mich das Aussteig-Fieber ergriffen, ich hebe meine Handtasche auf und dränge zur Tür. Mein Sitznachbar ist schon nicht mehr in Sichtweite, und sofort fühle ich mich freier. Im Verbindungskorridor ist es kühler als im Flugzeug. Tief atme ich die frische Luft ein.

Im Flughafengebäude gehe ich mit schnellem Schritt voran. Das Klappern meiner hohen Absätze hallt auf dem Boden – klack, klack, klack, klack – wie bei einer Flamenco-Tänzerin, der die Musik verloren gegangen ist, ein Auftakt zu einem Tanz, der nicht stattfindet, stattdessen nur dieses knöcherne Klacken. Ein weicher Rocksaum umspielt meine Knie, die Parodie einer Liebkosung. Ich sehe ihn schwingen, einen Seidenjupe in leuchtendem Pink, mit hingetupften burgunderfarbenen Blüten. Wann habe ich den gekauft, ich kann mich nicht erinnern – man kauft so oft Dinge, um jemand anderes sein zu können, elegant und glänzend. Zu Hause vor dem Spiegel dann wieder das eigene blasse Gesicht, fremd und gleichzeitig viel zu vertraut im neuen Rahmen ...

Die Halle mit der Gepäckausgabe ist fast menschenleer. Wohin sind die anderen so schnell verschwunden? Bin ich in Gedanken verloren irgendwo stehengeblieben, so dass alle an mir vorbeigezogen sind? Träum nicht, hat Mutter früher zu mir gesagt, aber es gibt so vieles, was mich festhält: die Lackschuhe im Fenster, der Glitzerstein im weißen Licht, die Reflexion in der Glasscheibe ...

Die Uhr an der Wand zeigt fünf nach zehn, wahrscheinlich war mein Flug der letzte an diesem Abend. Die Halle wölbt sich neonhell und himmelweit. Plötzlich wird mir kalt, die verglasten Wände und der spiegelnde Boden sind so frostig wie die Halle der Schneekönigin im Märchenbuch, ich sehe das Bild vor mir, eine feine Federzeichnung, die Halle endlos lang, und weit hinten sitzt Kai, legt Eisschollen in geometrischen Mustern vor sich hin. Er hat einen Spiegelsplitter im Herzen, muss von einer liebenden Frau gerettet werden.

Das unerwartete Alleinsein macht mich schwindelig. Mit Mühe zwinge ich mich zum Weitergehen in die große Leere. An der Wand hängt eine Anzeigetafel: Flug aus Hamburg, Gepäckausgabe in vier Minuten auf Band 21.

Vor dem Band 21 stehe ich als Einzige, obwohl bald mehrere Koffer ankommen, will die niemand abholen? Der erste Trolley ist dunkelrot, wie meiner, aber ich bin mir nicht sicher, er wirkt fremd. Vorsichtshalber schaue ich auf dem angehängten Namensschild nach, man kann sich so leicht täuschen. Nein, so heiße ich nicht, mein Name ist viel schöner. Ich hätte außerdem nicht nachzuschauen brauchen, denn ich verwende nie einen Adressanhänger, solche Anhänger sind doch eine Einladung an Einbrecher.

Da kommt mir ein schrecklicher Gedanke: Ich kann mich nicht an meine eigene Adresse erinnern! Alsterkrugchaussee 32, Hamburg Fuhlsbüttel, schießt mir durch den Kopf. Aber das ist Roberts Adresse, die ich auf die Briefumschläge schreibe, nicht meine eigene, an sich selbst schreibt man ja nicht. In Antragsformularen muss man sie angeben, ich stelle nicht viele Anträge, aber die Adresse ist da, sie fällt mir nur im Moment gerade nicht ein. Noch nicht einmal an den Anfangsbuchstaben der Straße kann ich mich erinnern, auch nicht an den Klang.

Ich presse die Fäuste gegen die Stirn, um besser nachdenken zu können, aber je stärker ich mich konzentriere, desto schneller rennen die Erinnerungen vor mir davon. Hastig öffne ich den Reißverschluss meiner Handtasche und wühle im Inneren. Lächerlich, nach dem Handy zu suchen, um dort die eigene Adresse nachzulesen, absolut lächerlich.

In der Tasche finde ich eine Packung Papiertaschentücher, einen Spiegel, einen Lippenstift, eine Puderdose, ein Mascara, einen Kamm, mehr nicht. Wo sind Portemonnaie, Handy, der Pass, Hausschlüssel, die Bordkarte mit dem Gepäckabschnitt? Ist mir während des Fluges etwas aus der Tasche gefallen? Mein Kopf schmerzt, es pocht in meinen Schläfen, ich bin müde. Morgen kümmere ich mich darum, nicht jetzt, jetzt kann ich nicht mehr....

Erscheint lt. Verlag 17.1.2024
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Erotik • Liebe • Mathematik • Spannung • Täuschungen
ISBN-10 3-7584-6061-1 / 3758460611
ISBN-13 978-3-7584-6061-6 / 9783758460616
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