Durchtrennte Bande (eBook)
264 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7583-6246-0 (ISBN)
Maria Czuja-Falk, geb. in Oberschlesien, lebt in Hamburg und arbeitet als Künstlerin und Kunsttherapeutin
Abschied
23. Januar 2017
Liebe Wanda,
ich bemerke, wie müde es mich macht, dir überhaupt noch auf deine Worte zu antworten. Ich fordere nichts von dir, erwarte auch nichts. Und zu etwas gedrängt hat dich auch niemand. Ich hoffte, du würdest es sehen können - um deinetwillen. So werde ich dir noch dieses eine letzte Mal meine Sicht auf die Dinge weitergeben. Auch wenn ich keine Hoffnung habe, dass sich dadurch etwas in dir bewegt.
Den Mythos, du wärest in unserer Familie Opfer von Missbrauch geworden, wirst du wohl so schnell nicht wieder los. Zu nützlich ist er dir geworden. Du hegst und pflegst ihn (schon wieder bist du gedrängt worden). Er ist dir ein Schatz geworden, aus dem du offenbar eine Art Selbstbewusstsein ziehst. Du bist stolz darauf, dass du deinen Anspruch darauf unter keinen Umständen aufgibst. Wie du schreibst, bleibt deine „Betrachtungsweise […] in jedem Fall dieselbe”. Der Status des Opfers macht aus dem eigentlich noch unerfahrenen, offensichtlich sich immer noch sehr klein fühlenden Mädchen eine scheinbar reife Frau, die „trotz allem” doch etwas aus sich gemacht hat und jetzt anderen als Leitfigur vorangeht. Wenigstens ein bisschen Opfer sein, was man dann in Liebe und Verzeihen überwunden hat, das macht sich einfach gut in einer spirituellen Biografie. (Ja, das ist Zynismus, der das Zynische beschreibt.) So möge es denn so sein, dass du uns in Haftung nimmst, damit du groß werden kannst. Wie es in meinem Lied heißt: „Und wenn du Opfer sein musst, siehe ich bin Täter…”
Doch der Schein trügt, und auch du wirst irgendwann deiner Verantwortung nicht entfliehen können. Als du hier warst, habe ich dich gefragt, wo und wann etwas stattgefunden hat, was dich zum Opfer in unserer Familie gemacht hat. Du konntest darauf kaum Antwort geben, gabst lediglich einige Erinnerungen wieder, nicht mal eine Hand voll, die du in elf, zwölf Jahren, seitdem du sechzehn Jahre alt warst, erlebt hattest. Ich will jetzt auf die vier oder fünf angesprochenen Situationen im Einzelnen nicht mehr eingehen. Nur dies: Opfer wird man, wenn man machtlos ist, und wenn Gewalt über einen siegt.
Wir haben dich von früh an zu einem selbstständig denkenden und selbstbewussten Menschen erzogen. Soweit ich mich entsinne, gab es zwischen uns immer eine vertraute und vertrauensvolle Atmosphäre.
Du bist mit allem zu uns gekommen, hast uns bis ins Erwachsenenalter unaufgefordert über Vertraulichkeiten unterrichtet, bis hin zu Intimitäten zwischen dir und deinen Partnern, auch und besonders nach den Situationen, die du heute als Trauma, als Übergriffe betrachtest.
Als Sechzehnjährige warst du vielleicht gegenüber deiner Sexualität und deiner erwachenden Fraulichkeit noch hilflos, niemals aber uns gegenüber. Das konnten wir an deinem selbstbewussten Auftreten gut wahrnehmen, besonders dann, wenn es mal wieder darum ging, Verantwortung für Getanes zu übernehmen, was dir öfter mal schwerfiel.
Das Bild einer still leidenden Wanda, die keinen Ort hatte, ihre Sorgen und Nöte artikulieren zu können, was du uns jetzt gern suggerieren willst, ist nicht wahr und war nie wahr. Andere Menschen, die mit dir und uns in Kontakt gekommen sind, haben deine aufgeschlossene, freundliche Art, dein kreatives und intelligentes Wesen immer bewundert und uns dafür gratuliert. Es gab nie die geringsten Anzeichen für uns, dass du unter irgendetwas, was von uns ausgeht, leiden könntest. Und ich bin sicher, es gibt auch heute kein einziges Zeugnis dafür.
Doch halt! Es gab ein großes Leid - viel früher, als du zwei, drei Jahre alt warst und die Trennung deiner Ursprungsfamilie scheinbar kaum überwinden konntest. Es hat Jahre gedauert, bis du darauf verzichten konntest, die gesamte Energie deiner Wut auf mich zu projizieren, mich dafür schuldig zu sprechen, dass deine heile Welt nicht mehr existierte. Dass ein Kind solches aus Hilflosigkeit tut, war mir natürlich klar. Auch wenn ich mich mit dieser unbändigen Wut nicht identifizierte, mich nicht gemeint zu fühlen brauchte, hat deine Mutter und mich das alles sehr viel Energie und Kraft gekostet.
Das spielte für uns jedoch überhaupt keine Rolle. Nach vielen bangen Stunden, endlosen kindgerechten Rollenspielen, langem Schreien und Heulen, wobei du deine Gefühle der Verzweiflung und Ohnmacht ausagiertest, und nach langen Nächten, in denen deine Mutter und ich manchmal hilflos dasaßen und nicht wussten, wie es weitergehen sollte, kehrte irgendwann doch Frieden ein. Und du begannst, in die neue Familie Vertrauen zu setzen. Eine Entwicklung begann, die den Menschen erwachsen ließ, der du heute bist.
Bestimmt ist es richtig, dass es in deinem Leben Überforderungen gab. Und bestimmt haben wir auch Dinge bei dir versäumt. Ich bedauere es sehr, dass ich es nicht vermocht habe, dir zu zeigen, was es heißt, demütig zu sein, oder was es heißt, zu dienen. Aber einer Sache bin ich mir sicher: Es gab von unserer Seite nie Formen von Gewalt oder psychischen Druck. Du kanntest keine Strafen. Du hast dich sicher und wohl gefühlt. So sicher, dass du ganz selbstverständlich und fröhlich deine Nacktheit präsentiertest, als Kind und weit über die Zeiten hinaus, in denen du dich heute als Opfer gerierst. Das ging so weit, dass wir dich irgendwann darauf hinweisen mussten, dass es an der Zeit ist zu erkennen, was das mit anderen Menschen, sprich vor allem mit mir macht, denn da warst du schon 19 Jahre alt!
Ist es vielleicht so, dass du dich dafür im Nachhinein schuldig fühlst? Vielleicht auch dafür, dass du es eigentlich genossen hast, wenn du betrachtet wurdest und deine jugendliche Schönheit gewürdigt wurde? Das würde erklären, warum es jetzt so notwendig für dich ist, Schuld zu verteilen. Du schreibst: „Ich war das Opfer, und wo es Opfer gibt, da gibt es Täter”, und damit bin selbstverständlich ich gemeint.
Und mein Begehren? War dies das Begehren eines Täters? Nein, ich schäme mich nicht und kann und werde mich dafür nicht verurteilen. Es war das Begehren eines Mannes, der fast täglich eine junge Frau vor sich sah, die sich zeigte und erblühte, eine junge Frau, in die er all seine Liebe gesetzt hatte, die seine Tochter hätte sein können, es aber nicht war. Und dass er diesem Begehren einen Ausdruck gab, der seine Situation, die ihm auch Not machte, beschrieb, dafür schämte er sich nicht. Denn dieses Öffentlich-machen, das darüber Sprechen und Singen, schützte die junge Frau vor seinem Begehren. Denn es durfte ja nicht sein, was eigentlich auch hätte sein können.
Es tut weh zu sehen, was du mit deiner Opferhaltung vor allem dir selbst, aber auch deinem Kind antust. Ich erkenne dich nicht mehr wieder. Es ist einfach nur traurig. Wenn du von Liebe sprichst und schreibst, klingt das hol, leer und kalt. Dieser Duktus erinnert seltsam an die Sprechweise von Gerhard am Silvestertag 2015/16. Es ist so offensichtlich nichts als schöne Fassade, bestenfalls der Wunsch, es möge so sein - aber es ist nicht im Sein. So leicht ist es nicht, das Lieben, als dass es sich einfach herbeireden ließe.
Aus ein paar wenigen Szenen deines Lebens, von denen die meisten stattfanden, als du eine junge, aber schon erwachsene Frau warst, hast du eine Geschichte konstruiert, die nichts Wahres hat, aber die Kraft besitzt, unsere Familie zu entzweien. Du hast das möglicherweise nicht aus eigenem Antrieb getan. Aber du musst es natürlich verantworten. Schau in deinen Lebenslauf, den du auf eurer Webseite eingestellt hast. Da schreibst du, wie du all das, was du bist und kannst, aus dir selbst geschöpft hast. Nur für die Traumata sind natürlich die Eltern zuständig. So etwas lernt man in dilettantischen und unprofessionellen Therapien. In solcherlei Therapien, die diesen Titel nicht verdienen, werden Erinnerungen erzeugt, Gefühle zu wirklich Erinnertem produziert und Unverarbeitetes des „Therapeuten” wird auf Patienten übertragen.
Als wir zuletzt noch einmal zusammen eine spirituelle Reise gemacht haben, warst du sechsundzwanzig Jahre alt. Dein Reisebericht spricht davon, was ganz tief in dir Wirklichkeit war und wohl heute immer noch ist. Du hast dich unendlich allein gefühlt. Das Alleinsein, das du nicht haben wolltest, hast du abgewehrt, mit allen Mitteln. Du warst in diesem Moment eigentlich genau an der Stelle, es zu begreifen, hättest nur deine Arme ausbreiten und „Ja” zu sagen brauchen, und hast es doch nicht annehmen können. Diese Wahrheit konntest du nicht ertragen, hast dich in Vorwürfe geflüchtet, wir hätten dich allein gelassen, machst mir heute Vorwürfe, ich hätte dich nicht gut durch diese Reise geführt. Du bist deinen eigenen Dämonen begegnet, dem Nicht-allein-stehen-können und deiner Sucht, alles mit deinem Kopf kontrollieren zu müssen. Meine Aufgabe als Reiseführer war und ist es, durch die Reise zu führen, ohne dass jemand zu Schaden kommt. Sie war es nicht, dir irgendetwas abzunehmen oder zu lindern. Das hast du, glaube ich, nie verstanden.
Später, nach der Reise,...
Erscheint lt. Verlag | 11.1.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
ISBN-10 | 3-7583-6246-6 / 3758362466 |
ISBN-13 | 978-3-7583-6246-0 / 9783758362460 |
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