Späte Ernte (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
352 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60661-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Späte Ernte -  Nicole Wellemin
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Wer sind wir noch, wenn uns alles genommen wird? Im Jahr 1943 träumt die junge Südtirolerin Lene von einer glücklichen Zukunft auf dem Hof ihrer großen Liebe Elias. Wie hart das Schicksal ist, das in der rauen Bergwelt auf sie wartet, ahnt sie nicht. Viele Jahrzehnte später baut ihre Enkelin Anna in ebendieser kargen Landschaft mit viel Hingabe alte Apfelsorten an. Als sie die Mittfünfzigerin Lis kennenlernt, die eine schwere Schuld trägt, gewährt Anna ihr Unterschlupf auf dem Hof. Ein ganzes Jahr verbringen die Frauen gemeinsam im Einklang mit der Natur. Mit ihrer behutsamen Art ermöglicht Anna Lis, sich zu öffnen und zu heilen. Denn auch sie kennt die Last von fremder Schuld und den Schaden, den das Schweigen anrichten kann. Ein einfühlsamer Roman über die heilende Kraft der Natur und die Befreiung von einer vererbten Schuld Die Autorin Nicole Wellemin erzählt, was hat Sie dazu inspiriert hat, diesen besonderen Roman zu schreiben: »Vor fünf Jahren las ich zum ersten Mal von einem Südtiroler, der auf über 1.000 Höhenmetern gegen alle Widerstände sortenreine Apfelsäfte für die Hochgastronomie keltert, und war sofort fasziniert. Die Landschaft kenne ich noch aus dem Familienurlaub als Kind. Schon damals wirkten die Dolomiten auf mich wie die Grenze zwischen einem unsichtbaren Hier und Dort. Aus all den Bruchstücken in meinem Kopf setzte sich dann nach und nach eine Geschichte zusammen. Über Dinge, die nicht gesagt werden können, die aber doch die Macht haben, Menschen für immer zu entzweien, über den Anbau besonderer Äpfel und eine Schuld, der jede Generation etwas hinzufügt.«

Nicole Wellemin, Jahrgang 1979, absolvierte nach dem Abitur in England das Eastern and Central European Studies Programme an der Karlsuniversität, Prag, und studierte Kommunikation an der Bayerischen Akademie für Werbung und Marketing in München. Dreizehn Jahre lang arbeitete sie in der Öffentlichkeitsarbeit einer Unternehmenstochter der Bavaria Film in München, ehe sie sich 2015 ganz dem Schreiben widmete.

Nicole Wellemin, Jahrgang 1979, absolvierte nach dem Abitur in England das Eastern and Central European Studies Programme an der Karlsuniversität, Prag, und studierte Kommunikation an der Bayerischen Akademie für Werbung und Marketing in München. Dreizehn Jahre lang arbeitete sie in der Öffentlichkeitsarbeit einer Unternehmenstochter der Bavaria Film in München, ehe sie sich 2015 ganz dem Schreiben widmete.

Kapitel 1


Elisabeth


heute


Nun habe ich also mein Ziel erreicht. Bolzano. Bozen, begrüßt mich das Schild am Bahnhof. Nicht nur der Ortsname ist in zwei Sprachen angeschrieben. Auch jede andere Information. Da steht Bin. tronco und Stumpfgleis direkt nebeneinander. Binario und Gleis, oder Sud und Süd. Ich habe keine Ahnung, was ein Stumpfgleis ist. Hinter mir seufzt die Hydraulik des Zuges, als würde er unter der schwindenden Last aufatmen. Immer mehr Reisende steigen aus. Die meisten tragen dicke Rucksäcke auf den Schultern, einige haben Wanderstöcke dabei. Ich habe meinen letzten Rucksack in der Grundschule besessen. An Wandertagen hat meine Mutter mir eine Brotzeitdose dort hineingepackt und meistens auch noch eine Süßigkeit. Als Belohnung, wenn ich gut durchgehalten habe. Heute belohnt mich niemand mehr für irgendwas, aber das ist okay, denn ich selbst würde mich ja auch für nichts belohnen. Heute ziehe ich den kleinen Bric’s Trolley hinter mir her. Die Rollen laufen wie auf Schienen und sind damit momentan wohl das Einzige in meinem Leben, das läuft, ohne zu ruckeln.

Über dem Gewirr an Oberleitungskabeln blicken die Berge auf mich hinab. In der Nähe des Bahnhofs sind die Hänge grün vom sprießenden Frühling. In der Ferne, wo sie mit der Unendlichkeit des Himmels verschmelzen, grau und blau. Berge sind Grenzen und Verbindungsglieder zugleich, habe ich mal gelesen, und Gipfel die Orte des Übergangs. Ich mochte das Bild – vielleicht ein klein wenig zu sehr.

Ich setze einen Fuß vor den anderen. Warum ich hier bin, weiß ich nicht wirklich. Ich habe keinen Plan, nur eine vage Idee. Es ist angenehm mild hier, die Luft klar und rein. Sie schmeckt wie saure Äpfel. Auf dem Bahnhofsvorplatz studiere ich eine Karte hinter Glas. Dort sind Wanderwege eingezeichnet, jede Menge Hotels und die Namen einiger berühmter Gipfel. Die Linien und Buchstaben verschwimmen vor meinen Augen. Die Namen sagen mir nichts. Sie könnten in dreißig Sprachen da stehen statt nur in zwei, und trotzdem wären sie mir fremd. Mir ist alles fremd mittlerweile. Auch ich. Ich am allermeisten, und wenn man bedenkt, wie sicher ich mir bis vor Kurzem darüber war, wer ich bin und wie ich mein Leben leben will, ist das fast zum Lachen. Das, oder zum Heulen. Ersteres habe ich verlernt, glaube ich, und die Tränen sind mir ausgegangen.

»Kann ich Ihnen helfen? Wo wollen Sie denn hin?« Eine Männerstimme reißt mich aus meinen Grübeleien. Ich schrecke auf. Halb hinter, halb neben mir steht ein junger Mann, Mitte zwanzig, schätze ich. Sein Gesicht ist braun gebrannt, nur die Partie über den Augen ist weiß. Von einer Sonnenbrille, nehme ich an. Der, die auf seinem Kopf in die aschblonden Haare geschoben ist. Ein hässliches Teil, wenn man mich fragen würde, neongrün und mit verspiegelten Gläsern, aber mich fragt ja niemand. Was wahrscheinlich gut ist, denn in seinen Augen bin mit Sicherheit ich es, die hässlich und fehl am Platz wirkt. Eine Frau in den Fünfzigern mit Falten im Twinset und Falten im Gesicht. Die im Twinset kommen vom langen Sitzen im Zug. Die im Gesicht hat das Leben gefurcht. Allein schon ihre Namen sind hässlich. Zornesfalte heißt die Kerbe zwischen den Augenbrauen. Nasolabialfalte die Rinne zwischen Nasenflügeln und Mundwinkeln, die mich mit jedem sich vertiefenden Millimeter verhärmter und bitterer aussehen lässt. Meine Haare habe ich mir nicht allzu ordentlich zu einem Pferdeschwanz gebunden. Dass ich aufgehört habe, sie zu färben, und zu meinen grauen Strähnen stehe, ist weniger ein Statement als das Akzeptieren einer Veränderung. Über dreißig Jahre lang waren sie dunkelbraun. Anfangs noch ganz ökomäßig mit Henna gefärbt, später kam die Chemie, sorgfältig angerührt im Salon, um den exakt richtigen Look zu erzielen. Alles, was anders ist als früher, ist gut. Aus diesem Grund habe ich mir auch den Pony geschnitten. Eigenhändig mit der Haushaltsschere vor dem Gästeklospiegel. Damit ich mich hinter den Fransen verstecken kann, müssen sie nicht gerade sein.

Eine Bewegung im Augenwinkel zerrt mich aus der Trance. Immer öfter passiert mir das, dieses Abtauchen in düstere Gedanken. Ich blinzle ein paarmal und räuspere mich. »Entschuldigung. Ich war ganz weggetreten. Was haben Sie gesagt?«

Der Typ mit der Sonnenbrille grinst. »Ich hab gefragt, ob ich Ihnen helfen kann. Sie sehen aus, als wüssten Sie nicht recht, wohin, und diese Fahrpläne sind einfach vollkommen verwirrend.« Er lacht ein wenig und sieht mich an, freundlich, offen. Trotzdem halte ich die Luft an, warte auf den Moment des Erkennens. Er kommt nicht. Sonnenbrillenmann bleibt freundlich und offen.

»Ich … ähm …« Ich räuspere mich. Meine Stimme kratzt im Hals. »Ich will die Berge sehen.«

Vielsagend lässt er den Blick schweifen und hebt eine Augenbraue. Berge sind hier überall.

»Als Kind habe ich mit meinen Eltern einmal Ferien in den Dolomiten gemacht«, setze ich zu einer Erklärung an. Warum ich den Drang verspüre, mich diesem Fremden in Funktionskleidung und mit der hässlichen Sonnenbrille zu erklären, bleibt ein Rätsel. Womöglich weil er der Erste seit Jahren ist, der mich ansieht, als wäre ich ein unbeschriebenes Blatt und als hätte er absolut keine Meinung zu mir. »Mein Vater hat mir diese Geschichte erzählt. Von Rübezahl und seinen Rosen.«

»König Laurin, meinen Sie. Dem Zwergenkönig. Dann wollen Sie also den Rosengarten sehen?«

»Ja. Und …« Wieder gehen mir die Worte aus. »… einfach alles.«

Mein selbst ernannter Fremdenführer lacht. »Wenn das so ist, fahren Sie zum Rittner Horn. Oben an der Schwarzseespitze steht ein runder Tisch. Von dort können Sie wirklich alles sehen, die ganze Pracht der Dolomiten. Von den Gipfeln des Peitlerkofel über die Geislerspitzen bis hin zum Schlern, weiter zum Rosengarten, zum Latemar bis zum Schwarz- und Weißhorn.« Mit dem Zeigefinger deutet er auf die entsprechenden Stellen auf der Karte. Wieder verschwimmen die Linien und Buchstaben auf der Karte vor meinen Augen. Zu viele Informationen. Meine Therapeutin hat mir Tabletten dafür verschrieben. Angeblich sollen sie mir helfen, mich zu konzentrieren, statt mich in endlosen Gedankenspiralen zu verlieren. Ich nehme sie nicht. Mein eigener Kopf ist mein einziger Rückzugsort geworden.

»Klingt gut«, sage ich, hoffend, so meinen Helfer loszuwerden. Mir ist nicht mehr zu helfen, und seine nette Art strengt mich an.

»Prima. Dann nehmen Sie am besten von hier aus die Rittner Seilbahn nach Oberbozen. Dann mit der Tram nach Klobenstein und weiter mit dem Bus nach Pemmern. Da ist dann die Talstation von der Seilbahn, die hoch zum Rittner Horn fährt. Ich hab das schon ganz oft gemacht. Ist nicht so schwer zu finden, und oben gibt es Wanderwege in wirklich jedem Schwierigkeitsgrad.« Jetzt mustert er mich doch, und ich kann mir denken, was er ungesagt lässt. Dass ich die ganz leichten Wanderwege brauchen werde in meinem Aufzug. Ohne richtige Wanderschuhe, nur mit Kalbsleder-Sneakern an den Füßen, einer Escada-Jeans statt atmungsaktiven Trekkinghosen und einem Fünfhundert-Euro-Trolley im Schlepp. Vielleicht liegt ihm eine Predigt auf der Zunge, wie wichtig die Sicherheit in den Bergen ist, aber er schluckt sie runter, und ich bin ihm dankbar dafür. Wie hätte ich ihm auch sagen können, dass meine Sicherheit wirklich das Letzte ist, worüber ich mir Gedanken gemacht habe, als ich heute Morgen am Münchner Hauptbahnhof in den Zug gestiegen bin?

»Danke.« Ich wende mich ab.

»Schöne Ferien!«, ruft er mir nach, und weil ich nicht weiß, was ich sonst machen sollte, folge ich seinem Ratschlag und suche nach der Seilbahn nach Oberbozen. Den Trolley lasse ich stehen, wo er ist. Nichts aus meinem alten Leben kann mir jetzt noch...

Erscheint lt. Verlag 29.2.2024
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Apfelbäuerin • Apfelbäume • Apfelsaft • Buch Natur • Der Geschmack von Apfelkernen • Deutsche Geschichte Roman • Einklang mit der Natur • Entwicklungsroman • Erbe • Familie • Familienroman • Frauenroman • Jahreszeiten • Nature writing • raue Bergwelt • Ritten • Saftsommelier • selbstfindung buch • Südtirol • Traumabewältigung Roman • vererbte Schuld • vererbtes trauma • Vergangenheit
ISBN-10 3-492-60661-X / 349260661X
ISBN-13 978-3-492-60661-5 / 9783492606615
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