Das Wiedersehen (eBook)
256 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01733-7 (ISBN)
Jhumpa Lahiri ist eine US-amerikanische Autorin indischer Abstammung. Sie wurde in London geboren und wuchs in Rhode Island auf. Für ihre Romane und Erzählungen wurde sie u. a. mit dem Pulitzerpreis sowie der von Barack Obama verliehenen National Humanities Medal 2014 ausgezeichnet. 2012 zog Lahiri mit ihrer Familie nach Rom und schreibt seitdem vorwiegend auf Italienisch. Heute lebt sie wieder in New York und lehrt 'Kreatives Schreiben' in Princeton. Seit 2005 ist Jhumpa Lahiri Vizepräsidentin des PEN American Center, seit 2012 Mitglied der American Academy of Arts and Letters.
Jhumpa Lahiri ist eine US-amerikanische Autorin indischer Abstammung. Sie wurde in London geboren und wuchs in Rhode Island auf. Für ihre Romane und Erzählungen wurde sie u. a. mit dem Pulitzerpreis sowie der von Barack Obama verliehenen National Humanities Medal 2014 ausgezeichnet. 2012 zog Lahiri mit ihrer Familie nach Rom und schreibt seitdem vorwiegend auf Italienisch. Heute lebt sie wieder in New York und lehrt "Kreatives Schreiben" in Princeton. Seit 2005 ist Jhumpa Lahiri Vizepräsidentin des PEN American Center, seit 2012 Mitglied der American Academy of Arts and Letters. Julika Brandestini, geboren 1980 in Berlin, arbeitet seit 2008 als freiberufliche Übersetzerin und Redakteurin. 2010 erhielt sie den Förderpreis des Deutsch-Italienischen Übersetzerpreises. Sie übersetzte unter anderem Michela Murgia, Elena Ferrante und Michele Serra.
I
Die Grenze
1
Jeden samstag kommt eine neue Familie. Manche frühmorgens, von weit her, schon in Ferienstimmung. Andere tauchen nicht auf bis zum Sonnenuntergang, vielleicht weil sie sich verfahren haben, und sind schlechter Laune. Hier ist es leicht, sich zu verfahren, die Wegweiser in den Hügeln sind spärlich.
Heute werde ich die Neuankömmlinge begrüßen. Normalerweise macht das meine Mutter. Aber diesen Sommer verbringt sie in einem anderen Dorf in der Nähe, um einem Alten zu helfen, der auch hier im Urlaub ist, und darum muss ich das übernehmen.
Sie sind zu viert: Mutter, Vater, zwei Töchter. Sie folgen mir mit aufmerksamen Blicken, froh, sich endlich die Beine zu vertreten. Wir bleiben einen Augenblick im schattigen Hof stehen, von dem aus man die Wiese überblickt, unter dem Laubdach, durch das Sonnenlicht fällt. Ich öffne die Glasschiebetür und lasse sie ins Innere schauen: in das einladende Wohnzimmer mit zwei Sofas vor dem Kamin, die gut ausgestattete Küche, die zwei Schlafzimmer.
Draußen im Hof stehen zwei Sessel und ein weiteres Sofa, mit weißen Überwürfen bedeckt. Es gibt Liegen, auf denen man sich ausstrecken kann, und einen Holztisch für zehn Personen.
Während der Vater beginnt, das Gepäck aus dem Auto zu laden, und die Mädchen, die sieben und neun Jahre alt sein mögen, in ihrem Zimmer verschwinden und sofort die Tür hinter sich zumachen, erkläre ich der Mutter, wo die Ersatzhandtücher und die Wolldecken sind, falls die Nächte kühl werden.
Ich zeige ihr schnell, wo das Mäusegift liegt, und empfehle ihr, vor dem Schlafen die Fliegen zu erschlagen, die ins Haus geflogen sind, da sie sonst ab Sonnenaufgang mit ihrem Brummen nerven. Erkläre ihr den Weg zum Supermarkt, wie die Waschmaschine hinter dem Haus funktioniert und wo die Wäsche aufgehängt wird, gleich hinter dem Gemüsegarten meines Vaters. Ich füge hinzu, dass die Gäste ruhig Salat und Tomaten pflücken dürfen. Es gibt dieses Jahr viele Tomaten, doch wegen der starken Regengüsse im Juli sind sie schon beinahe alle verfault.
2
Ich tue so, als beobachtete ich sie nicht, verhalte mich diskret. Kümmere mich um die Hausarbeit, bewässere den Garten, aber ich kann nicht anders, ich spüre ihre Freude, ihre Begeisterung, hier zu sein. Höre die Stimmen der Mädchen, die über die Wiese rennen, lerne ihre Namen. Da die Gäste dazu neigen, stets die Schiebetür offen zu lassen, bekomme ich mit, was die Eltern miteinander reden, während sie die Sachen ins Haus bringen, die Koffer ausräumen und entscheiden, was es zum Mittagessen geben soll.
Das Häuschen meiner Familie liegt hinter einer Hecke, die einen kleinen Sichtschutz bietet, nur wenige Meter entfernt. Viele Jahre lang war es nicht mehr als ein Zimmer, das uns dreien als Küche und Schlafzimmer diente. Als ich vor zwei Jahren dreizehn wurde, hat meine Mutter angefangen, für den Alten zu arbeiten, und nachdem sie genug gespart hatten, haben meine Eltern den Eigentümer gebeten, ein weiteres Zimmerchen für mich anbauen zu dürfen, wo nachts dicke Eidechsen aus den Ritzen zwischen Wänden und Dach kriechen. Mein Vater ist der Verwalter dieses Anwesens. Er hält das große Haus in Schuss, hackt Holz, arbeitet auf den Feldern und im Weinberg. Er versorgt die Pferde, die große Leidenschaft des Besitzers.
Der Besitzer des Hauses lebt im Ausland, doch er ist kein Fremder wie wir. Er kommt ab und zu hierher. Er kommt alleine, er hat keine Familie. Tagsüber reitet er, abends liest er Bücher am Kamin, dann fährt er wieder.
Im restlichen Jahr mieten nur wenige Gäste sein Haus. Im Winter ist es hier schneidend kalt, und im Frühling regnet es viel. Von September bis Juni bringt mein Vater mich mit dem Auto zur Schule, wo ich mich anders fühle, wo ich mich nicht mühelos unter die anderen mische, wo ich niemandem ähnlich bin.
Die Töchter dieser Familie ähneln sich sehr. Man sieht sofort, dass sie Schwestern sind. Sie haben schon ihre gleichen Badeanzüge angezogen, um später zum Meer zu gehen, das etwa zwanzig Kilometer entfernt liegt. Auch die Mutter sieht aus wie ein junges Mädchen, schlank und klein. Sie hat langes, offenes Haar und zierliche Schultern. Sie läuft mit nackten Füßen über das Gras, obwohl ihr Mann sie warnt und (richtigerweise) sagt, dass dort Stachelschweine, Hornissen, Schlangen lauern könnten.
3
Nach nur ein paar Stunden ist es, als hätten sie immer hier gewohnt. Die Sachen, die sie für eine Woche am Meer mitgebracht haben, liegen überall verstreut: Bücher, Zeitschriften, ein Laptop, Puppen, Pullover, Buntstifte, Zeichenblöcke, Badeschuhe, Sonnencreme. Beim Mittagessen höre ich die Gabeln auf den Tellern klappern, bekomme jedes Mal mit, wenn einer von ihnen sein Glas auf dem Tisch abstellt. Ich kann dem gemächlichen Lauf ihrer Unterhaltung folgen, höre das blubbernde Geräusch der caffettiera, rieche den Kaffee, den Rauch einer Zigarette.
Nach dem Essen bittet der Vater eines der Mädchen, ihm seine Brille zu holen. Er studiert aufmerksam eine Landkarte. Zählt die Städtchen auf, die im Umkreis zu sehen sind, die archäologischen Stätten, die Ausgrabungsorte. Die Mutter interessiert das nicht. Sie sagt, dass dies die einzige Woche des Jahres ohne Termine und Pflichten sei.
Später geht er mit den Kindern ans Meer. Bevor er losfährt, fragt er mich, wie lange es dauert und welches der schönste Strand sei. Er fragt mich nach dem Wetterbericht für die nächste Woche, und ich sage ihm, dass in wenigen Tagen eine Hitzewelle kommt.
Die Mutter bleibt beim Haus. Sie hat trotzdem ihren Badeanzug angezogen, um sich zu sonnen.
Sie streckt sich auf einer Liege aus. Ich nehme an, sie möchte sich ausruhen, aber als ich die Wäsche aufhängen gehe, sehe ich, dass sie etwas schreibt. Sie schreibt in ein Notizbuch auf ihrem Schoß.
Ab und zu hebt sie den Kopf und betrachtet die Landschaft. Die verschiedenen Grüntöne des Rasens, der Hügel und des fernen Waldes. Das blendende Blau des Himmels, das Gelb des Heus. Das ausgeblichene Geländer und die niedrige Steinmauer, die das Grundstück umschließt. Sie betrachtet all das, was ich jeden Tag sehe. Und doch frage ich mich, was sie darin mehr sieht als ich.
4
Bei sonnenuntergang ziehen sie Pullover an und lange Hosen, als Schutz vor Mückenstichen. Nach dem Strand haben der Vater und die Mädchen warm geduscht, deshalb haben sie jetzt nasse Haare.
Die Mädchen erzählen der Mutter von ihrem Ausflug: dem heißen Sand, dem etwas trüben Wasser, den enttäuschend sanften Wellen. Die ganze Familie macht einen kurzen Spaziergang. Sie schauen sich die Pferde an, die Esel, ein Wildschwein, das im Schweinestall hinter den Pferdeställen gehalten wird. Sie sehen sich die Schafherde an, die jeden Tag um diese Zeit am Haus vorbeizieht und die Autos auf der staubigen Straße für einige Minuten am Weiterfahren hindert.
Der Vater macht praktisch in einem fort Fotos mit seinem Handy. Er zeigt den Mädchen die kleinen Pflaumenbäume, die Feigen- und Olivenbäume. Er sagt, dass eine Frucht, die man vom Baum pflückt, anders schmecke, nach Land, nach Sonne.
Im Hof öffnen die Eltern eine Flasche Wein, probieren einen Käse, Honig aus der Gegend. Sie bewundern die strahlende Landschaft, staunen über die leuchtenden Wolkenberge in der Farbe von Granatäpfeln im Oktober.
Es wird Abend. Sie lauschen den Lauten der Frösche, der Grillen, dem Rascheln des Windes. Trotz des Lüftchens, das jetzt geht, beschließen sie, draußen zu essen, um noch das Licht zu genießen.
Mein Vater und ich essen drinnen, schweigend. Meist hebt er nicht den Blick. Ohne meine Mutter gibt es keine Unterhaltung bei Tisch. Normalerweise ist sie diejenige, die beim Essen redet.
Meine Mutter erträgt diesen Ort nicht, dieses Dorf. Sie und mein Vater kommen von noch viel weiter her als alle, die hier Ferien machen. Sie hasst es, auf dem Land zu leben, im Nirgendwo. Sie sagt, hier gebe es keine netten Menschen, alle seien so verschlossen.
Ihre Klagen fehlen mir nicht. Ich höre sie nicht gerne, auch wenn ich fürchte, dass sie recht hat. Manchmal, wenn sie zu viel jammert, übernachtet mein Vater im Auto statt an ihrer Seite.
Nach dem Abendessen laufen die Mädchen auf der Wiese herum und jagen Glühwürmchen. Sie spielen mit ihren Taschenlampen. Die Eltern bleiben auf dem Sofa, betrachten den Sternenhimmel, die tiefe Dunkelheit. Die Mutter schlürft heißes Wasser mit Zitrone, der Vater einen Grappa. Sie sagen, dass man hier nichts anderes braucht, dass hier sogar die Luft anders ist, reinigend. Wie schön, sagen sie, so zusammen zu sein, fern von allem.
5
Früh am morgen gehe ich in den Hühnerstall, um die Eier einzusammeln. Sie sind warm, blass und schmutzig. Einige davon lege ich in eine Schale und bringe sie den Gästen zum Frühstück. Normalerweise begegne ich niemandem und stelle sie auf den Tisch im Hof, doch als ich am Haus ankomme, sehe ich durch die Schiebetür, dass die Kinder bereits wach sind. Ich sehe Kekspackungen auf dem Sofa verstreut, Krümel, eine umgekippte Müslipackung auf dem Couchtisch.
Die Kinder versuchen, die Fliegen zu fangen, die morgens...
Erscheint lt. Verlag | 14.5.2024 |
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Übersetzer | Julika Brandestini |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | barack obama • bücher literatur • Bücher Neuerscheinungen 2024 • Die Ewige Stadt • Fremdsein • Gegenwartsliteratur • Identität • Indisch • Integration • Italien • Italienische Bücher • Italienische Literatur • Kurzgeschichten • Liebe und Beziehungen • Migration • Migrationsgeschichte • Moderne Literatur • Moderner Roman • Pulitzer • Pulitzer Preis • Pulitzer-Preis • Pulitzer Preis Literatur • Pulitzer-Preisträger • Rom • romane neuerscheinungen 2024 • Storys • Tiefland • Urlaubsbuch • Urlaubslektüre • Zeitgenössische Literatur |
ISBN-10 | 3-644-01733-6 / 3644017336 |
ISBN-13 | 978-3-644-01733-7 / 9783644017337 |
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