Die Häutungen (eBook)

Roman | Eine feministische Orgie der Rachelust | Furios erzählt, mit einem Sinn für Humor und Horror
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2024 | 1. Auflage
230 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77846-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Häutungen -  Lucía Lijtmaer
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»Es gibt Bücher, die liest man, und es gibt Bücher, die man spürt. Dieses hier ist von der zweiten Sorte.« Jarka Kubsova, Autorin von Marschlande

Die Häutungen ist ein Fest der Verdammten - zwei Frauen, die vier Jahrhunderte versetzt leben, streben nach der Befreiung aus dem Patriarchat und gehen dafür waghalsige Risiken ein. Sie sind entschlossen, Feuer mit Feuer zu bekämpfen.

1639 sieht sich Deborah Moody gezwungen, England zu verlassen und in die nordamerikanischen Kolonien, in die Nähe von Salem, zu flüchten. Sie trägt ein Geheimnis mit sich, und versteht es, sich aus den patriarchalen Strukturen zu befreien. Mit ihrer Gründung einer von Frauen geführten Kirche geht sie für die männlichen Glaubenshüter ihrer Zeit einen Schritt zu weit. Sie wehrt sich - und wird als die »gefährlichste Frau der Welt« in die Geschichte eingehen.
Sommer 2014. Eine junge Spanierin befreit sich aus einer toxischen Beziehung und flieht von Barcelona nach Madrid. Auch sie trägt ein Geheimnis mit sich und die Überzeugung, dass die Apokalypse nah ist.

Was verbindet diese beiden Frauen? Ihre sich kreuzenden Geschichten handeln von Hexen und Heilerinnen, von einem frühen und einem späten Feminismus. Mit furioser Erzähllust und einem Sinn für Humor und Horror entführt uns Lucía Lijtmaer in eine Orgie der Rachelust.



Luc&iacute;a Lijtmaer, 1977 in Argentinien geboren und in Barcelona aufgewachsen, ist Schriftstellerin und Journalistin. Sie schreibt regelm&auml;&szlig;ig f&uuml;r <em>El Pa&iacute;s</em> und kuratiert das feministische Festival <em>Princesas y Darth Vaders</em>. Zusammen mit der Schauspielerin Isa Calder&oacute;n moderiert sie den Podcast <em>Deforme Semanal</em>, der vielfach ausgezeichnet wurde. Sowohl ihr Essayband <em>Ofendiditos</em> als auch die spanische Ausgabe von <em>Die H&auml;utungen</em> standen monatelang auf der Bestsellerliste. <em>Die H&auml;utungen</em> ist ihr erstes Buch auf Deutsch.

2. Calle del Calvario (jetzt)


Und so beginne ich diese Geschichte auf der sonnenverbrannten Hochebene. Ich finde eine Wohnung in einer Straße, die wie alle Straßen in Madrid nach irgendeinem katholischen Kaff in Kastilien benannt ist. Ich glaube, in Madrid wird es mir besser gehen. Ich hoffe es. Beinahe bin ich optimistisch. Beinahe. Ich bin dermaßen abgestumpft, dass ich lange brauche, um die Unterschiede zu erkennen, obwohl sie sofort ins Auge fallen.

Zum Beispiel: In Madrid sind alle freundlich. Vor allem nachmittags. Es dauert eine Weile, bis ich kapiere, dass es daran liegt, dass nachmittags alle betrunken sind. Der Erste, dem ich auf die Spur komme, ist der Portier unseres Hauses, ein Belorusse mit gegeltem Haar und Prince-of-Wales-Anzug. Morgens grüßt er nicht mal, aber nachmittags überschlägt er sich fast. Er zwinkert mir zu und erzählt mir leicht schwankend dreckige Witze. Ich brauche ungewöhnlich lang, um zu verstehen, was mit ihm los ist, weil man Wodka nicht im Atem riechen kann. Der alte Fuchs.

Mit dem restlichen Viertel ist es das Gleiche. Morgens ist es kühl, und bis um zwölf Uhr mittags scheint jeder zu schlafen. Dann recken und strecken sich alle, wehleidig und verkatert. Die Kellner, die Verkäufer, die Frau vom Tabakladen, die ganze Nachbarschaft ist verschlafen wie ein Dorf. Ganz anders am Abend. Nach kurzer Zeit stelle ich fest, dass ich einen Anfängerfehler gemacht habe: Ich habe eine Wohnung über einer Bar mit Terrasse gemietet. Jede Nacht dudelt Manzanita, und wenn die Nachbarn verlangen, dass endlich Ruhe einkehrt und die Bar schließt, legen die Autoradios mit Cumbia und Reggaeton los. Abfeiern ist das oberste Gebot der Stadt, und meine Straße ist ihr Tempel: eine Karaokebar im Vollrausch, die um fünf Uhr morgens zur Hochform aufläuft.

Eine Karaokebar im Vollrausch und im Dauerfieber. Niemand hat mir gesagt, wie heiß es in Madrid ist, vielleicht habe ich auch alle Warnungen ignoriert. Ich bin Mitte August hierhergezogen, was bedeutet, dass ich in einem Backofen sitze, der ununterbrochen läuft und den Asphalt bis in die Nacht hinein aufheizt, sodass ich nicht schlafen kann. Die Umzugskartons bleiben wochenlang unausgepackt, weil ich zu matt bin, um auch nur einen Finger zu rühren. Zur Aufheiterung kaufe ich in einem modernen Laden um die Ecke Pflanzen, die in null Komma nichts eingehen. In Madrid will einfach nichts gedeihen. Alles, was nicht schon verdorrt ist, tut es über kurz oder lang.

Eines Tages komme ich im Aufzug mit der Frau ins Gespräch, die über mir wohnt. Sie ist ein wenig älter als ich – was man ihr nicht ansieht –, hat dunkles Haar, leicht schrägstehende Augen und helle Haut. Ich betrachte sie: Pferdegebiss, freundliches Lächeln, rot geschminkte Lippen, geblümtes Kleid. Ihr Name ist Sonia. Mir fällt auf, dass sie straffe Schenkel, zarte Haut und müde Augen hat. Sie trägt goldene Ohrringe. Mit hoher, müder Stimme fragt sie mich, ob ich wegen der Hitze auch nicht schlafen könne. Ich sage, nein, kann ich nicht. Sie lädt mich auf eine Limonade in ihre Wohnung ein, und ich nehme an. Ich habe sowieso nichts Besseres zu tun.

Die Wohnung ist hübsch und hell. Bücherregale aus Obstkisten, überall Pflanzen, der Fußboden mit Büchern übersät. Ich frage mich, ob die Pflanzen aus Plastik sind oder ob sie hexen und Leben erzeugen kann. An den Wänden hängen Teppiche – »um den Lärm abzuhalten«, sagt sie.

Sonia schenkt mir eine Limonade ein und erzählt weiter. Ihre hohe Stimme stört mich ein bisschen, aber vielleicht liegt das daran, dass ich so lange nichts mehr mit anderen Menschen zu tun hatte. Ich bin es nicht mehr gewohnt, mehr als eine Stimme im Raum zu hören.

»Lebst du allein?«, frage ich mit geheucheltem Interesse.

»Ja.«

»Super.« Ich betrachte die Bücher, die überall herumliegen, in den Regalen, auf dem Boden, zwischen den Möbeln. »Arbeitest du an der Uni?«

»Nicht wirklich. Zurzeit studiere ich nur.«

Sie rutscht unruhig auf dem Stuhl herum. Die Antwort scheint sie nervös zu machen. Ich lächle und sage, um sie zu beruhigen: »Ich arbeite nicht.«

»Ach nein? Wieso nicht?«

»Weil ich nicht arbeiten muss.«

Sonias Lider flattern wie die Flügel eines Kolibris. Bsss.

»Und was macht dein Mann?«, fragt sie.

»Ich bin nicht verheiratet.«

»Aha.«

Bsss.

Endlich hat sie kapiert, was ich meine. Ich will ihr zu verstehen geben, dass ich reich bin.

Schade, dass es nicht stimmt. Ich habe nur ein bisschen Geld von dem übrig, was ich gemacht habe. Was ich mit mir habe machen lassen. Genug, um ein ganzes Jahr nicht arbeiten zu müssen. Trotzdem macht es Spaß, ihren Gesichtsausdruck zu beobachten, als ich es andeute. Reich. Es macht Spaß, die unterschiedlichen Regungen zu beobachten, die sie durchlaufen: leichte Verblüffung, gefolgt von mühsam beherrschtem Neid, der, wenn er vorbei ist, zu etwas Unsichtbarem, aber Hartnäckigem kondensiert, das an ihr klebt wie Gestank: Jeder, der dich für reich hält, will etwas von dir. Sie wollen dein Geld. Oder zumindest etwas Vergleichbares. Wenn ihnen das bewusst wird, fühlen sie sich beschämt und ein bisschen schuldig. Wie ich gelernt habe, ist Schuldbewusstsein ein äußerst unangenehmes Gefühl, das wir alle wieder loswerden wollen. Und diese Welle von Empfindungen, die innerhalb von Sekunden über deinen Gesprächspartner hinwegschwappt, verleitet ihn oder sie unbewusst dazu, dir ständig etwas anzubieten, um sich von diesem unangenehmen Gefühl zu befreien.

»Hättest du Lust, diese Woche mal mit mir essen zu gehen? Ich kenne einen großartigen Peruaner«, sagt sie. »Du bist eingeladen.«

Hab ich’s nicht gesagt? Klappt immer.

In dieser Nacht, als die Erde glüht und mich mal wieder Schlaflosigkeit quält, sitze ich im Licht des Bildschirms vor meinem Computer und surfe stundenlang im Netz, wie so oft auf der Suche nach etwas, was mich beruhigt. Heute finde ich es in Flussbetten, im Meer, in alten Landkarten und in den Geschichten derjenigen, die schon lange vor uns ertrunken sind. Um sechs Uhr morgens stoße ich auf das Porträt einer Frau, die 1642 erlebte, wie ein Mädchen ertrank. Sie beschreibt das in einer Chronik, die jemand in einen Blog eingestellt hat. Der Post trägt den Titel »Die Chroniken der Kauterisation«, das Bild zeigt eine Frau mit ernstem Blick und geschürzten Lippen. Ich lese, mit welcher Seelenruhe sie schildert, wie ein totes Baby aus dem Fluss gezogen wurde. Ich lese ihren Namen, Deborah Moody, eine Puritanerin, die im siebzehnten Jahrhundert in die nordamerikanischen Kolonien auswanderte. Ich betrachte ihr Gesicht, das an ein gemästetes Ferkel erinnert, die hervorstehenden Augen wie zwei hartgekochte Eier. »Die erste Frau, die eine Kolonie gründete. Die Erste, die in der Neuen Welt eine Stadt plante«, steht in den Foren über historische Verbrechen.

Ich stelle mir vor, wie sie eine Furche in den Boden zog, als würde sie ein Tier zerlegen, effizient, mit nur den allernötigsten Handbewegungen, eine Frau, die genau weiß, was sie tut. Ein Kreuz auf dem Boden, in der Mitte ein Platz. Fertig. So hat sie ihr Dorf erschaffen. Heute ist das viel komplizierter, du kannst nicht einfach aus Lust und Laune irgendwo Löcher buddeln. Schade. Wenn das ginge, würde ich höchstpersönlich eine Bohrmaschine zur Hand nehmen und mir einen Tunnel graben, um von hier zu verschwinden, ich würde mich in ihn einbuddeln, dann wäre ich sicher und hätte meine Ruhe und müsste nicht atmen.

Am nächsten Tag esse ich mit Sonia in einem mittelmäßigen Restaurant im Zentrum zu Abend und erfahre, dass sie als Escort-Dame für Bauunternehmer arbeitet. Zementfabrikanten, Aluminiumproduzenten. Männer mit Zigarre, die millionenschwere Verträge unterzeichnen, während sie ihnen im Separee eines Restaurants unter dem Tisch mit bodenlanger Decke einen bläst. An der Plaza de les Glòries habe ich mal über Begegnungen dieser Art mit Stadtverordneten reden hören, aber ich hielt das für eine Stadtlegende. Stadtplanerlegenden, nannten wir sie im Büro. Haha. Aber jetzt widert mich Sonias Vertraulichkeit an, nicht wegen dem, was sie erzählt, sondern weil sie mich nicht kennt. Es gefällt mir nicht, dass sie es mir erzählt hat, jetzt pappt ihr Geheimnis an mir wie eine feuchte Qualle. Eine Woche später beschließe ich, mir...

Erscheint lt. Verlag 10.3.2024
Übersetzer Kirsten Brandt
Sprache deutsch
Original-Titel Cauterio
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte aktuelles Buch • Anabaptisten • anne hutchinson • Barcelona • Barcelona (Stadt) • Befreiung • Bestseller • Booktok • Bücher Neuererscheinung • Cauterio deutsch • Deborah Moody • Erpressung • Feminismus • Frauenfreundschaft • Freundinnenschaft • Freundschaft • Geheimnis • Gentrifizierung • Glaube • Gott • Hexen • Jarka Kubsova • Krimi Neuerscheinungen 2024 • Lady Lazarus • Lady Moody • Madrid • Madrid Comunidad de • Marschlande • Massachusetts • Neuererscheinung • neuer Krimi • neues Buch • Öffentlicher Raum • Ottessa Moshfegh • Patriarchat • Puritaner • Puritanismus • Rache • Religion • Salem • Salem (MA) • Sir Henry Moody 1st Baronet • Starke Frauen • Sylvia Plath • Täufer • toxische Beziehung • Ungleichheit • Verbannung • Verfolgung • Wohnung
ISBN-10 3-518-77846-3 / 3518778463
ISBN-13 978-3-518-77846-3 / 9783518778463
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