Gegenlicht (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
256 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12298-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Gegenlicht -  Pirkko Saisio
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»Pirkko Saisio ist vermutlich die beste lebende Autorin Finnlands.« Aamulehti  Eine Abiturientin verlässt ihre Geburtsstadt Helsinki, um in der fernen Schweiz die Liebe und Anerkennung zu finden, die ihr in ihrem sozialistischen Elternhaus versagt geblieben ist. Doch in der Fremde erkennt sie, dass ihre Sehnsucht nach Zugehörigkeit sie immer enger in ihrem Korsett verschnürt, statt sie daraus zu befreien. In leuchtender Prosa erzählt Pirkko Saisio davon, wie viel es als Frau aufzugeben gilt, um wahrhaft unabhängig zu sein.  Es ist das Jahr 1968, als die Protagonistin mit neunzehn Jahren die Schule abschließt. Mit dem Vorsatz, die Enge ihres Elternhauses und ihrer Schulzeit in Helsinki hinter sich zu lassen, reist sie in die Schweiz - voller hochfliegender Träume und hungrig nach Liebe. Doch das kleine Land im Herzen Europas entpuppt sich nicht als das ersehnte Paradies, und das Waisenhaus, in dem sie arbeiten will, wirft sie zurück auf ihre Jugend in Finnland. Plötzlich ist sie wieder das sprachlose Kind aus dem Arbeitermilieu, das um jeden Preis von seinem Umfeld angenommen werden will, und doch nicht dazugehören kann. »Gegenlicht« ist ein brillantes Buch über das Erwachsenwerden. Die vielfach ausgezeichnete finnische Autorin Pirkko Saisio findet eine einzigartige Sprache für die Kraft und den Mut, den es braucht, um die Gesetze der Kindheit zu durchbrechen und die eigene Bestimmung zu finden.

Pirkko Saisio, geb. 1949, ist Schriftstellerin, Regisseurin, Schauspielerin und eine der bekanntesten Personen in der Kulturszene Finnlands. Ihr Roman 'The Course of Life' (1975) wurde als bestes Debüt des Jahres ausgezeichnet. Insgesamt sechs Mal wurde Pirkko Saisio für den Finlandia Preis nominiert und bekam ihn schließlich für den Roman 'Das rote Buch der Abschiede' (2003), das den Abschluss ihrer autofiktionalen Trilogie markierte, mit der sie ihren literarischen Durchbruch feierte. Nach zwanzig Jahren wird das aufsehenerregende Werk von Pirkko Saisio endlich weltweit entdeckt. 

Pirkko Saisio, geboren 1949, ist Schriftstellerin, Regisseurin, Schauspielerin und eine der bekanntesten Personen in der Kulturszene Finnlands. Ihr Roman "The Course of Life" (1975) wurde als bestes Debüt des Jahres ausgezeichnet. Insgesamt sechs Mal wurde Pirkko Saisio für den Finlandia Preis nominiert und bekam ihn schließlich für den Roman "Das rote Buch der Abschiede" (2003), das den Abschluss ihrer autofiktionalen Trilogie markierte, mit der sie ihren literarischen Durchbruch feierte. Nach zwanzig Jahren wird das aufsehenerregende Werk von Pirkko Saisio endlich weltweit entdeckt.  Elina Kritzokat (geb. 1971), deutsch-finnische Doppelstaatsbürgerin und Germanistin, übersetzt aus dem Finnischen seit 2002, u.a. Minna Rytisalo, Sofi Oksanen, Raija Siekkinen, Leena Krohn, Miika Nousiainen und Filmdialoge von Aki Kaurismäki. Ihre Tätigkeit umfasst die Genres Roman, Kinder- und Jugendbuch, Theater und Kino, Comic und Lyrik. Sie moderiert und dolmetscht regelmäßig und reist jährlich nach Finnland. 2019 erhielt sie den finnischen Staatspreis für Übersetzung in ausländische Sprachen, 2022 ein Exzellenz-Stipendium des Deutschen Übersetzerfonds. Sie lebt und arbeitet in Berlin.

Mit dem Wörterbuch Finnisch-Deutsch-Finnisch auf dem Schoß sitzt sie im Zug.

Ihr Marimekko-Kleid hat Knöpfe aus Zinn, das warme Orange eines Sonnenuntergangs im Frühling und viele kleine Taschen.

Die Taschen sind leer.

Draußen flimmern die herrlichen Wälder der Schweiz vorbei, Bäume so prächtig wie in Parkanlagen.

Leider kann sie nicht richtig hinschauen, ihre Augen fühlen sich an wie zugemauert.

Auch ihre Beine sind zur Unkenntlichkeit gedunsen, denn sie hat zwei Tage lang in ihrem nagelneuen Abiturkostüm an Deck einer Autofähre gelegen.

Ihre Haut ist verbrannt und schmerzt.

Und sie kämpft mit der Angst, ist sich dessen aber nicht bewusst. Deshalb hat sie zu allem, was ihr begegnet, eine Meinung, auch zur Schweiz, obwohl der Zug aus Hamburg das Land nach zwölfstündiger Fahrt eben erst erreicht hat.

Die Schweiz ist eine alte Jungfer und sitzt auf ihrem breiten Hintern mitten in Europa, lautete der Kommentar ihres Patenonkels, als er von ihren Plänen hörte, den Sommer über dort zu arbeiten.

Sie will das nicht so sehen. Deshalb legt sie sich schon jetzt eine Antwort auf die Frage zurecht, die sie bald häufig hören wird: Oh ja, die Schweiz ist ein sehr schönes Land, aber Finnlands Natur ist sanfter.

Sanft? Sie befragt ihr Wörterbuch, das »weich« vorschlägt, die Natur im Norden ist also weicher.

Sie hat in den Fünfzigerjahren die Volksschule und in den Sechzigerjahren das Gymnasium und die Oberstufe besucht, bis noch vor Kurzem.

Sie hat gelernt, dass Finnland das schönste Land der Welt ist, weshalb sie sich mit dem Wörterbuch gegen die übermächtige Pracht der Schweizer Natur verteidigt.

In Finnland sind die Bäume filigraner, laut Wörterbuch »kleiner«, dafür gibt es Zehntausende Seen.

Das Licht dort ist anders, nicht wie hier gelb und hart; in Finnland ist es weicher.

Zum x-ten Mal kramt sie die Wimperntusche heraus und kontrolliert in dem winzigen Deckelspiegel unauffällig ihr Gesicht.

Ihre Hautfarbe ist unverändert.

Sie ist dunkellila.

Unter dem rechten Auge, an der schmerzhaftesten Stelle, klafft eine Wunde, aus der klare Flüssigkeit tropft.

Sie blättert im Wörterbuch.

Sie sucht nach einer deutschsprachigen Form für einen gewagten Satz: Aus meinem Gesicht tropft Wundwasser wie aus Jesu Rippen am Kreuz.

Ihre Situation ist diese:

Sie ist neunzehn, hat gerade Abitur gemacht und beschlossen, möglichst bald Leiterin eines Schweizer Waisenhauses zu werden.

Sie hat sich gründlich mit Pestalozzis Theorien zu Waisenhäusern befasst, genauer gesagt im Reader’s Digest eine etwas kitschige Geschichte über Schweizer Pestalozzi-Dörfer gelesen, und stellt sich das Leben der Waisenkinder wie das von Kindern mit Eltern vor, nur abwechslungsreicher und interessanter.

Außerdem hat sie achtmal den oscarprämierten amerikanischen Kinofilm Meine Lieder – meine Träume gesehen und identifiziert sich mit der heiteren, blonden Julie Andrews, die nie gebären musste und trotzdem zu sechs süßen Kindern kam und sogar von ihnen angebetet wurde.

Sie will auch angebetet werden.

Ohne es sich einzugestehen, aber durchaus berechtigt geht sie davon aus, bei schutzbedürftigen Waisenkindern auf besonders selige Anbetung zu stoßen.

Die Landschaft ist ihr aus dem Film schon ein wenig vertraut, sie kennt das weite Grün aus der Vogelperspektive, aus der ebenfalls zu sehen war, wie Julie Andrews sich auf einer Blumenwiese ausstreckt und sich dem überraschenden Lauf des Lebens mit Leib und Seele hingibt.

Selbst den Eigengeruch der Schweiz hat sie bereits erschnuppert: Das Land riecht dezent nach Bibliotheksstaub, deutlicher nach Rhododendren und Ziegenmilch, und Heidi hat sie natürlich Dutzende Male gelesen.

Die untergehende Sonne taucht die Parkanlagen in glühendes Purpurrot. Sie ist in Basel umgestiegen und erreicht nun Bern.

Ihr kunstlederner Koffer ist schwer.

Eigentlich gehört er Vater, das sowjetische Mosfilm-Logo musste sie mühsam mit der Wurzelbürste abscheuern. Trotzdem kann man das athletische Pärchen, das dem kapitalistischen Wind die Fäuste entgegenreckt, noch schwach erkennen.

Mit dem Koffer zu ihren Füßen steht sie am Bahnsteig und versucht, keine Angst zu haben.

Immer neue Züge fahren in die Bahnhofshalle ein.

Das schrille Ächzen der Waggons, die scharfen Pfiffe der Schaffner und die Gesprächsfetzen der Reisenden wölben sich zu einer Kuppel, in deren Lärm sie fast versinkt.

Drei Tage war sie unterwegs, schweigend und sonnenverbrannt, und nun wartet sie auf einen Menschen, der sie abholt und zu dem sie sagen kann: Oh ja, die Schweiz ist ein sehr schönes Land, aber Finnlands Natur ist milder.

Doch da ist niemand.

Niemand kommt in freudiger Erwartung auf sie zu.

Mit dem Koffer zu ihren Füßen steht sie am Bahnsteig, und ihr entgleitet die Zeit.

Sie möchte in einer schalltoten Ellipse versinken und weit fort sein, fort von diesem Moment, dessen Wucht sie zu vernichten droht.

Mit dem Koffer zu ihren Füßen steht sie am Bahnsteig und lässt sich vom Lärm entführen, fort aus Zeit und Raum, weit fort.

Sie träumt sich aufs Fensterbrett in ihrem ersten Zuhause.

Noch passt sie mühelos dorthin und liegt mit geschlossenen Augen selig in der Sonne, von Mutter mit einem Geschirrtuch zugedeckt, das nach Suno-Waschmittel riecht, liegt da wie die ebenso zugedeckten Hefeteilchen auf dem Backblech.

Hinter ihren Lidern wartet eine weitere Glückseligkeit: das gedämpfte Knallen frisch gemangelter Bettwäsche, die ihre Eltern über ihr zusammenlegen, während sie mit geschlossenen Augen unter dem weißflatternden Stoffhimmel liegt.

Und noch eine Glückseligkeit: Im sanften Abendwind lässt sie das Köpfchen sinken und steht am Tor zum Schlaf. Es riecht nach den filterlosen Työmies-Zigaretten, frisch gestärktem Hemdkragen und Schweißbrenner.

Und wenn sie die Augen aufmacht, sieht sie über Großvaters Schulter das schwarze Himmelsgewölbe und tausend helle Sterne, die sich auf Großmutters Sonntagskleid fortsetzen. Und hinter Großmutters Ohr lugt die Mondsichel hervor.

Sie macht die Augen wieder zu und findet eine letzte Glückseligkeit: eine heiße arabische Nacht, wilde Pferde, Männer mit Turbanen und ermattete Frauen. Der Raub der Sabinerinnen. Eigentlich weiß sie nicht, was Sabinerinnen sind, doch eins ist klar, sie werden geraubt.

Der Lärm in der Bahnhofshalle ist verebbt.

Der Stationsvorsteher trägt eine fremdartig aussehende Mütze und einen Schnurrbart – in ihrer Heimat sind Stationsvorsteher in diesem verrückten Jahr in Europa garantiert noch ordentlich rasiert. Er zupft sich einen Fussel von der Hose und geht gleichgültig an ihr vorbei.

Der Koffer steht neben ihr wie ein alter treuer Hund.

Sie gähnt ausgiebig und verbietet sich, an ihrer Lage zu verzweifeln, denn

auch wenn ihr romantischer Plan kindisch erscheinen mag und man sie mit gutem Grund für realitätsfremd halten kann, wie ihr Vater es nennen würde, oder sogar für eine dusselige Traumtänzerin, wie ihr Großvater sagen würde, so hat sie doch Zielstrebigkeit und praktischen Verstand bewiesen und ausführlich mit verschiedenen Schweizer Ansprechpartnern korrespondiert, sogar auf Deutsch, und sich selbst auf diesen verlassenen Bahnhof verfrachtet.

Also

nimmt sie entschlossen ihren Koffer, und

eine halbe Stunde später steht sie im Gang eines vollen Regionalzugs von Bern nach Münsingen.

Die Sonne hat sich inzwischen für Zinnoberrot entschieden, die Sonne liebt Zinnoberrot.

Ihre Gesichtshaut schmerzt, verstohlen tupft sie sich mit einem Taschentuch die Wundflüssigkeit ab.

Die Häuser entlang der Bahnstrecke sehen aus wie überdimensionierte Kuckucksuhren, doch aus selbstauferlegtem Zwang muss sie diese Architektur mögen.

Auf der Bahnhofsbrücke erwartet sie ein rundliches Mädchen in ihrem Alter.

Das Mädchen streckt ihr die Hand hin und sagt Guten Tag, deutlich schweizerisch. Prompt muss sie an einen Abend im letzten Winter denken:

Eine Party bei irgendwem zu Hause, alle sitzen auf dem Boden; auf dem Boden zu sitzen ist wichtig, Sessel und Sofa haben sie extra auf den Balkon geschoben.

Sie sind beschwipst, mehr vom Leben als von der halben Flasche Bordeaux Blanc, den sie Bulebule nennen und der ihnen ungekühlt wohl doch ein wenig zu Kopf steigt und tiefe Freundschaftsgefühle für alle anwesenden Bodensitzer sowie plötzliche politische Erweckungsmomente entfacht.

Sie schwören bei Marx, Engels, Lenin und etlichen anderen, dass sie nie zu den Erwachsenen zählen werden, die sich beim Wiedersehen die Hände schütteln.

Die zweite Erinnerung, die direkt auf diese erste folgt, gehört ihr noch nicht, denn sie ist meine: Ein Vierteljahrhundert später sehen wir uns bei einer kleinen Weihnachtsfeier in Timos Anwaltskanzlei wieder und schütteln uns vor Schreck über die gnadenlosen Spuren der Zeit geradezu übereifrig die Hände. Wir erkennen einander kaum wieder.

Das Mädchen geht vor ihr her und lässt den Koffer, den es ihr abgenommen hat, auf dem Boden schleifen.

Das Mädchen heißt Renate. Die frisch gemähten Wiesen riechen betörend.

In Gedanken schreibt sie folgenden Satz: Der Abend kühlte ab, der Wind brachte den Duft von blühendem Wermut.

Sie weiß nicht, wie Wermut riecht, nicht einmal, wie er aussieht, aber in guten literarischen Werken taucht er immer mal wieder als abendliche Geruchsnote auf.

Renate stapft wie ein Muli den Hang hoch, ausdauernd und beharrlich, ihre gelockten Nackenhaare sind feucht vor Schweiß. Zwischen den dunklen Strähnen sind auch ein paar weiße zu erkennen, dabei ist Renate...

Erscheint lt. Verlag 16.3.2024
Übersetzer Elina Kritzokat
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Annie Erneaux • Beziehungen • Coming-of-age • Feminismus • Finnland • Frauenbuch • Helsinki • Heranwachsen • Identitätsfindung • Karl Ove Knausgard • LGBTQ • Liebe • Monika Helfer • queere Liebe • Queere Literatur • Selbstbestimmung
ISBN-10 3-608-12298-2 / 3608122982
ISBN-13 978-3-608-12298-5 / 9783608122985
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