Schreib den Namen deiner Mutter (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
144 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60747-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Schreib den Namen deiner Mutter -  Evan Tepest
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Alex schreibt an einem Essay. Und kommt nicht voran. Das Thema: Worüber meine Mutter und ich nicht sprechen. Ein Besuch in der glamourös kaputten Provinzvilla der überreizten Mutter soll weiterhelfen, doch er zeigt nur: Sie sprechen gar nicht miteinander. Nicht über Alex' Queerness, nicht über die Antidepressiva, die sie offensichtlich beide nehmen, nicht über die Traumata der Familie. Als die Mutter Alex beim Schützenfest (versehentlich!) anschießt, ist klar, dass nicht nur die Arbeit am Essay gescheitert ist.  Ein grandios lakonischer Roman darüber, was Familien trennt und zusammenhält - das Unausgesprochene. Hart und verletzlich, kühl und komisch - ein knallgegenwärtiger Roman über familiäre Leerstellen

Evan Tepest lebt als Autor in Berlin. Im Februar 2024 erscheint sein erster Roman Schreib den Namen deiner Mutter im Piper Verlag. 2023 erschien der Essayband Power Bottom. Seine Texte sind außerdem in Anthologien und Zeitschriften erschienen, zuletzt in Delfi. Zeitschriftfür neue Literatur. Tepest ist Kolumnist für das Missy Magazine und ist im Wintersemester 24/25 Dozent für Essayistik am Deutschen Literaturinstitut Leipzig.

Evan Tepest, geboren im Rheinland, ist Autor:in und Journalist:in. Mit Lynn Takeo Musiol organisiert dey die Reihe DYKE DOGS. Evan Tepest war Finalist:in des Open Mikes und des Edit Essaypreises. 2023 erschien der Essayband »Power Bottom«. Dey lebt in Berlin.

Am ersten Tag


Als Alex die Mutter traf, war ihr übel. Auf dem Bahnhofsvorplatz warteten weder Taxis noch Mieträder auf die Reisenden, die aus der Regionalbahn stiegen.

Sie umarmten sich flüchtig, ihre Unterleiber so weit voneinander entfernt wie möglich. Bevor die Mutter ihr die Wange küssen konnte, entzog sich Alex.

Als die Mutter auf den POWER-Knopf ihres tiefergelegten Minis drückte, warnte eine laute Stimme vor Staus im Ruhrgebiet.

»Gut siehst du aus«, sagte sie beim Ausparken und blickte über ihre Schulter an Alex vorbei. Sie hatten sich mehr als zwei Jahre nicht gesehen.

Ein Stück weiter ragten Industrieschlote über die Dächer der Innenstadt. Rauch zog in den kopfsteingrauen Himmel. An seiner breitesten Stelle kühlte der Rhein die Chemiefabriken.

Alex schloss die Augen und massierte sich die Schläfen. Sie fühlte sich, als hätte sich die Grenze zwischen ihr und der Außenwelt in gleißenden Nebel aufgelöst. Es war erst 14 Uhr, und sie wünschte sich, dass das Licht bereits softer wäre. Dass sie in Schatten versinken könnte.

Sie suchte vergeblich nach ihren Reisekaugummis. In den letzten Wochen hatte sie immer wieder etwas verloren: ihren Schal, ein Buch. Egal, wie lange sie suchte – die Dinge blieben unauffindbar. Es war, als hätte sich die Stadt gegen sie verschworen. Dabei brauchte Alex Berlin als Bild und Versprechen, um die kommenden Tage auf dem Land zu überstehen. Um sich zu vergewissern, dass sie jemand anderes geworden war.

Der Mini fuhr über den Bahnübergang. Sie passierten die alte Stammkneipe von Opa Kurt und die erste Dönerbude der Stadt.

»Wie war die Fahrt?«, fragte die Mutter, ohne den Blick von der Straße zu nehmen.

»Der letzte Teil zieht sich. Hatte ich vergessen.«

»Warum fährst du nicht mit dem Auto?«

»Ich bin das letzte Mal mit zwanzig Auto gefahren.«

»Höchste Zeit, wieder anzufangen.« Die Mutter beschleunigte, der Motor heulte auf.

Alex atmete tief ein und aus.

»Hast du was?«

»Ich bin nur erschöpft.«

»Brauchst du was Süßes?«

Alex aß seit einer Weile fast keinen Zucker mehr. Das hatte sie ihrer Mutter offenbar nie gesagt. »Nur frische Luft.«

»Sehr gut. Ich muss eh mit Rozi Gassi gehen.«

Rozi war der nervöse Hund, den die Mutter aus einem rumänischen Tierheim adoptiert hatte. Die beiden waren immer in Bewegung.

»Übrigens: Oma Kriemhild wurde neulich auf der Rheinpromenade gefragt, wie lange es dauert, bis wieder ein Buch von dir erscheint«, setzte die Mutter zögerlich an. »Ist das normal, dass dazwischen jahrelang Pause ist?«

Alex’ erster Roman erzählte die Geschichte einer jungen Lesbe, die die Wohnung eines krebskranken alten Schwulen putzte und für ihn zu Fuß zum Grab seines an Aids verstorbenen Liebhabers von Berlin nach Kopenhagen lief. Er hatte sich ganz okay verkauft und war positiv besprochen worden. Doch mit ihrem zweiten Buch ging nichts voran. Kein Verlag hielt Coming of Sex, ein Verzeichnis von Alex’ achtunddreißig Sexualpartner*innen, für ein gutes Investment.

»Warum fragst du mich nicht direkt, was ich eigentlich die ganze Zeit mache?« Alex griff zu ihrem Notizbuch und las.

Schreib den Namen deiner Mutter

 

Um über meine Mutter zu schreiben, muss ich zuerst über die Stadt meiner Mutter schreiben.

  • Einwohner*innenzahl: 40.000
  • zerstörte Bausubstanz im Zweiten Weltkrieg: 97 Prozent (fair enough)
  • Zweitstimmen für die AfD bei der letzten Bundestagswahl: 933
  • Arbeitslosigkeit: 8,4 Prozent
  • eine Zigarette am Kiosk: 20 Cent
  • eine 5-Minuten-Terrine in der Schul-Cafeteria: 50 Cent
  • eine Bahnfahrt in die nächste Großstadt: 16,30 Euro

 

Draußen zog der braune Aschenplatz vorbei, auf dem Alex sich als Kind die Knie aufgeschlagen und gefürchtet hatte, niemals das Tor zu treffen.

Die Mutter erzählte von den Renovierungsarbeiten am Haus. Als Nächstes war der Swimmingpool im Keller dran, aber es gab Probleme mit den Handwerkern. Es gab immer Probleme mit den Handwerkern.

 

Alex’ Mutter lebte in einer zweihundert Quadratmeter großen Villa am Waldrand. Das Haus stammte aus den Siebzigern. Damals strebten alle nach der größtmöglichen Expansion, in der Überzeugung, dass es genug Platz und Wohlstand für alle gab. Es war die Zeit vor der Überforderung durch das Internet, vor der minimalistischen Tiny-House-Ästhetik. Alex stellte sich vor, wie die Kleinstadtmittelschicht in den Achtzigern und Neunzigern ausufernde Pool-Partys gefeiert hatte, verteilt über das Grundstück und die Terrassen knutschend und Eierlikör trinkend.

Als die Mutter das Haus kaufte, waren die Wände vergilbt und der Teppichboden fleckig. Am Ende ihres Lebens hatte die damalige Eigentümerin, Frau Reintjes, ganz allein in den acht Zimmern gewohnt und in der Küche und im Salon unentwegt Davidoff Gold geraucht.

Das Gästezimmer, in dem Alex schlief, war frisch renoviert, geräumig und hatte einen eigenen Balkon. Es sah aus, als hätte die Mutter sich einmal durch den Made-Katalog geshoppt: petrolfarbener Teppich, Samt-Couch, Coffee Table in Mid-Century-Optik. Neben der Couch lehnte ein Glasrahmen an der Wand. Schwarz-Weiß-Fotos von Jim Morrison, Allen Ginsberg und Jimi Hendrix. Die einzige Frau: Janis Joplin. Alex verstand nicht, warum die Mutter ausgerechnet diese Collage aus ihrer alten Wohnung mitgenommen hatte. Alex hatte sie mit vierzehn gemacht, als sie sich im Kunstunterricht mit ihrer »Identität« beschäftigen sollten. Damals hörte sie einen holländischen Retro-Rock-Sender, drückte Zigaretten auf ihren Unterarmen aus und verschwand lieber in den tragischen Biografien anderer, als über sich selbst nachzudenken. Das Bild brachte ihr eine glatte Vier ein. Ein paar Monate später waren sie und ihre kleine Schwester Fritzi bei der Mutter ausgezogen.

Sie war nur einmal zu Besuch in der Villa gewesen, da hatte die Mutter ihren dritten Mann Günther geheiratet. Dass sie seitdem nicht mehr hier gewesen war, fand Alex nicht ungewöhnlich. Seit sie ein Teenager war, erfand sie Ausreden für Weihnachtsfeiern und Geburtstage und beantwortete nur jeden vierten Anruf der Mutter.

 

Als sie vor ein paar Wochen in ihrer Hausarztpraxis saß und auf ein EKG wartete, nahm sie ausnahmsweise ab. Die Mutter rief an, weil Opa Kurt gestorben war.

»Wir wollen die Asche in Holland verstreuen. Du weißt ja: Er hat das Meer geliebt.«

Alex sah die gelbe Speedo vor sich, die Opa Kurt bei ihren Tagesausflügen an die Nordsee getragen hatte. Alex hatte ihm nie nahegestanden. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie ihren Opa gemocht hatte.

»Du kommst doch, oder?«, fragte die Mutter.

Als ihr Name aufgerufen wurde, legte sie auf, ohne eine Antwort zu geben.

»Durchatmen und entspannen«, wies die Arzthelferin sie an, nachdem sie die Elektroden auf Alex’ Oberkörper und an ihren Knöcheln platziert hatte. Auf dem Tisch stapelten sich Boxen mit der Beschriftung Big Orange Needle. Eine Zeile wie aus einem Gedicht, dachte sie.

Zurück in ihrer Wohnung betrachtete Alex die Spuren der Saugnäpfe unter ihrer Brust. Sie sah aus, als hätte sie in einem Tentakel-Porno mitgespielt.

Sie würde zur Beerdigung gehen. Vielleicht war das ein letzter Rest ihrer kleinbürgerlichen Erziehung: Hochzeiten und Beerdigungen wahrzunehmen. Sich für Grußkarten mit einem Anruf zu bedanken. Die Form zu wahren, ob sie wollte oder nicht.

Also rief Alex die Mutter zurück und buchte ein Zugticket.

Am Tag darauf schickte die Mutter Alex und Fritzi eine SMS:

Ihr solltet wirklich eine Patientenverfügung ausfüllen. Ich kann einen Termin bei meinem Notar machen. Die Kosten übernehme ich :* :* :*

Nichts entkam der Organisationswut der Mutter. Nicht einmal der Tod.

 

Weil es im Gästezimmer keinen Schreibtisch gab, legte Alex den Laptop und ihre Notizbücher auf der Couch ab. Sie...

Erscheint lt. Verlag 29.2.2024
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Deborah Levy • Debüt Frühjahr 2024 • Debütroman • Dysfunktionale Familie • Familienroman • fleabag • Hengameh Yaghoobifarah • Identitätssuche • Jenny Offill • Lesbisch • Mutter-Tochter-Beziehung • neue Bücher 2024 • neuerscheinung 2024 • Provinzroman • Queere Literatur • quirky • Rachel Cusk • Schriftstellerin • Tochter
ISBN-10 3-492-60747-0 / 3492607470
ISBN-13 978-3-492-60747-6 / 9783492607476
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