Das Licht in den Birken (eBook)
352 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01765-8 (ISBN)
Romy Fölck wurde 1974 in Meißen geboren. Sie studierte Jura und arbeitete viele Jahre in der Wirtschaft. Mit Mitte 30 entschied sie, ihrem Traum, Schriftstellerin zu sein, eine Chance zu geben. Sie kündigte Job und Wohnung in Leipzig und zog in den Norden. Hier lebt sie gemeinsam mit ihrem Mann in einem Haus zwischen Deichen und Apfelbäumen an der Elbe. Ihr erster Roman im Wunderlich Verlag, «Die Rückkehr der Kraniche», stieg sofort in die SPIEGEL-Bestsellerliste ein.
Romy Fölck wurde 1974 in Meißen geboren. Sie studierte Jura und arbeitete viele Jahre in der Wirtschaft. Mit Mitte 30 entschied sie, ihrem Traum, Schriftstellerin zu sein, eine Chance zu geben. Sie kündigte Job und Wohnung in Leipzig und zog in den Norden. Hier lebt sie gemeinsam mit ihrem Mann in einem Haus zwischen Deichen und Apfelbäumen an der Elbe. Ihr erster Roman im Wunderlich Verlag, «Die Rückkehr der Kraniche», stieg sofort in die SPIEGEL-Bestsellerliste ein.
1 THEA
Die Stimme der Sängerin streifte sie wie der Hauch des Abendwindes, der vom Meer kommend über die trockenen Wiesen strich. Langsam ließ die sommerliche Hitze nach. Die leichte Brise brachte etwas Abkühlung auf die menschenleere Ebene im Alentejo, auf der sie mit ihren Tieren rastete. Die gesungenen Worte der fadista trafen Thea an ihrer schwachen Stelle.
Nur die Stille höre ich, die deinen Platz eingenommen hat, sang die Sängerin wehmütig. Aber wenigstens hört man den Wind, und wenigstens hört man das Meer.
Thea sog die Luft ein, weil ihre Kehle eng wurde. Ihr war bewusst, dass Menschen wie sie, die einen tiefen Verlust erfahren hatten, bei diesen Zeilen einen Schmerz in der Brust spürten. Ab und an ließ sie ihn zu. Sie hatte gelernt, dass es leichter war, mit ihm zu leben, als ihn immerfort zu verleugnen.
Thea blinzelte die Traurigkeit weg und zog die Strickjacke aus Schafwolle über ihre Schultern. Eine Böe trug den Duft des wilden Thymians mit sich.
Nur nicht melancholisch werden am Vorabend ihrer Abreise. Sie hatte diese Entscheidung nach vielen schlaflosen Nächten getroffen und würde sie nicht mehr infrage stellen.
Lange sah sie hinüber zu den beiden Ziegenhirten, die vor dem kleineren Camper saßen und von denen der Geruch nach gegrilltem Hammel zu ihr herüberzog. Mateus hob den Kopf, als habe er ihren Blick bemerkt.
«Queres comer connosco? Willst du mitessen?», rief er ihr zu.
Sie winkte ihm zu. «Não, obrigado! Nein danke!»
Diesen letzten Abend wollte sie allein verbringen. Nur sie und der vinho tinto. Der köstliche Wein und Amália Rodrigues’ Stimme, die aus dem in die Jahre gekommenen CD-Player rieselte, würden heute Nacht ihre einzigen Begleiter sein. Vermischt mit dem Zirpen der Zikaden, die hinter dem Eukalyptus im Gras hockten, und dem dunklen Klagen der Ziegen, das ab und an den Fado übertönte. Man musste die Wunde säubern, bevor sie verheilen konnte. Und heute Nacht würde sie den alten Schmerz zulassen, um morgen ein ganz neues Leben beginnen zu können.
Es war nie leicht gewesen als imigrante in Portugal. Blauäugig war sie mit Ende zwanzig gewesen. Jung und tief verletzt. Weg hatte sie gewollt, von einem Tag auf den anderen, weg aus Deutschland, weg aus der Heide. Es war ein spontaner Entschluss gewesen, Portugal kam ihr als Erstes in den Sinn. Doch das Leben an der Algarve hatte sie sich leichter vorgestellt, mit mediterranen Nächten, langen Tagen am Meer und entspannten Menschen. Es war ihr nicht schwergefallen, Kontakte zu knüpfen. Doch die hatten ihr erst einmal das Geld aus der Tasche gezogen. Nach einem halben Jahr war ihr Erspartes aufgebraucht gewesen, das anfängliche Urlaubsgefühl verflogen. Die Realität der harten Arbeitswelt Portugals vertrieb die erste Euphorie. Nein, sie hatte nicht klein beigegeben. Zurück nach Hause zu ziehen, war damals nie eine Option gewesen.
Es hatte Jahre gedauert, ein wenig heimisch zu werden und von den mageren Löhnen ihrer wechselnden Aushilfsjobs in der Gastronomie die teure Miete in Lissabon zahlen zu können. Als sie vor gut fünf Jahren einen Aufruf in der Tageszeitung Correio da Manhã las, in dem Wanderhirten für Ziegen gesucht wurden, hatte sie sich spontan gemeldet. Sie kündigte ihre kleine Wohnung, kaufte ein altes Wohnmobil und führte fortan ein Nomadenleben.
Thea liebte Tiere und die Freiheit. Als Kind war sie beinahe jedes Wochenende bei ihrem Onkel auf dem Bauernhof in der Lüneburger Heide gewesen, der eine große Herde von Heidschnucken hielt, eine alte Landschaf-Rasse mit schwarzen Beinen, Schwänzen und Köpfen. Ihre Lieblinge waren jedoch die Ziegen gewesen, die ebenfalls zum Hof gehörten und die anders als die Schafe sogar auf Bäume klettern und Zäune überspringen konnten. Zu gern erinnerte sie sich noch viele Jahre später an die verrückten Streiche der Zicklein, mit deren Milch und Käse Thea aufgewachsen war. Doch als sie sechzehn war, verstarb ihr Onkel, sein Hof mit all seinen Tieren kam in fremde Hände. Ihre Lieblinge sah sie nie wieder.
Der Aufruf, sich als cabreira, als Ziegenhirtin, zu melden, war wie ein Fingerzeig gewesen, eine Reise in ihre glückliche Vergangenheit auf dem Heidschnuckenhof. Sie hatte nach dem Aufruf in der Zeitung nicht lange mit sich ringen müssen. Kurz davor war sie fünfzig geworden, den wechselnden Schichten und der schweren Arbeit in der Gastronomie hatte sie sich nicht mehr gewachsen gefühlt. Also hatte Thea, gemeinsam mit dem Barkeeper Mateus, das Schicksal bei den Hörnern gepackt. Sie schafften mit ihren Ersparnissen eine Ziegenherde mit einhundert Tieren an und gingen auf Wanderschaft. Die Arbeit mit den Ziegen war Teil eines neuen Programms, denn die Tiere waren die perfekten Brandverhüter. Der portugiesische Staat unterstützte die Herden, die, von Wanderhirten geführt, die Wälder von Kleinwuchs, Gesträuch und Unterholz reinigten. Einhundertzwanzig Euro pro Ziege wurden über Fördermittel im ersten Jahr für den vierbeinigen Aufräumtrupp gezahlt.
Die verheerenden Waldbrände 2017 hatten in Portugal ein Umdenken eingeläutet. Damals hatte es mehr als sechzig Todesopfer im Juni, weitere fünfundvierzig im Oktober sowie zahlreiche Verletzte gegeben, riesige Flächen Land waren verbrannt, und seitdem herrschte eine ständige Angst, dass wieder Feuer ausbrechen könnten. Um solche Katastrophen zu verhindern, waren vermehrt Maßnahmen ergriffen worden. Eine davon war das präventive Reinigen der Wälder durch Ziegenherden wie die von Thea und Mateus.
Nach knapp fünf Jahren war ihre Herde auf dreihundert Tiere gewachsen. Ab morgen würden sie alle ihrem Geschäftspartner Mateus gehören, bis auf ihre zwei Lieblingsziegen, die Thea mit der Flasche aufgezogen hatte. Sie zurückzulassen hätte sie nicht über sich gebracht. Clara und Aurélia würden mit ihr nach Deutschland reisen und dort ihren Lebensabend verbringen.
Thea nahm ihr Notizbuch in die Hand, fühlte das Leder, das so alt war wie ihr Auswandererleben. Die letzten Einträge hatte sie vor gut einem Jahr gemacht, als sie eine erste Unsicherheit spürte und die Frage aufkam, ob sie nicht doch wieder nach Deutschland zurückgehen sollte.
Und das Heimweh.
Vor allem diese Sehnsucht nach ihrem Zuhause, die seitdem keine Ruhe mehr gegeben hatte. Es erinnerte sie an die ersten Monate in Portugal, wo das Heimweh sie zerfressen hatte – ein Gefühl, das sich anfühlte wie Liebeskummer. Vielleicht schloss sich jetzt der Kreis, vielleicht war es ein Zeichen, ihr Leben noch einmal komplett zu ändern. Und zu ihren Anfängen zurückzukehren.
Zog es einen im Alter zurück an die Stätte seiner Kindheit? Oder war es die Angst, an einem fernen Ort zu sterben? Sie öffnete das Tagebuch.
Die erste Seite, die sie irgendwann an Silvester zur Jahrtausendwende beschrieben hatte, war angegilbt, die Tinte war mit der Zeit verblichen, aber noch gut lesbar. Fünf Wörter standen dort, fünf Wegweiser, die sie in Zukunft leiten sollten. Für ihr junges Ich waren das die fünf Säulen für ein glückliches Leben gewesen.
Mut stand ganz oben, fein säuberlich in einer Handschrift, die sich mit den Jahren verzogen hatte. Heute schrieb sie knapper, wesentlich unleserlicher.
Es passt noch immer zu mir, dachte Thea. Mut hatte sie immer besessen. Der Mutige wird belohnt, das Credo ihres Lebens. Auch jetzt fand sie, war es mutig von ihr, wieder zurückzugehen, obwohl es dort nichts mehr gab, was sie empfangen würde. Und niemanden, der auf sie wartete.
Leidenschaft, stand darunter. Thea musste lächeln, dass sie diesen Wesenszug an zweiter Stelle aufgelistet hatte. Auch jetzt brannte diese noch in ihr, wenn auch nicht so übermäßig wie vor zwanzig Jahren. Sie war zunehmend stiller geworden.
Hoffnung war das dritte Wort. Die Hoffnung hatte sich ein wenig abgenutzt mit den Jahren. Sie war eine gute Freundin, die da war, wenn man sie brauchte, aber nicht mehr die Peitsche schwang, um sie vorwärtszutreiben.
Das Wort darunter, Erfüllung, war durch einen Wasserfleck auf dem Papier kaum noch zu lesen. Oder war es eine Träne gewesen, die sie über diesem Buch geweint hatte? Thea lehnte sich zurück. Ihr Leben in den letzten Jahren war erfüllt gewesen! Jedoch ganz anders, als sie es damals gedacht hatte. Nein, sie würde keinen Tag missen, keine Entscheidung anders treffen wollen. Auch wenn ihr Lebensweg anders verlief, als sie es sich bei ihrer Auswanderung vorgestellt hatte. Ja, es war immer der richtige gewesen. Dass er einfach sein würde, hatte niemand gesagt.
Sie strich mit dem Finger über das letzte Wort: Liebe. Fünf Buchstaben, die mittlerweile auf sie wirkten wie Hieroglyphen. Für Liebe war nicht viel Platz gewesen in ihrem Leben, jedenfalls nicht für die Zuwendung ihrer eigenen Spezies. Von ihren Tieren hatte sie mehr Liebe bekommen, als sie je wiedergeben konnte.
Mit Schwung warf sie den Lederdeckel zu. Ab morgen würden neue Seiten gefüllt werden müssen. Vielleicht machte sie einen riesigen Fehler. Ließ ihre Ziegenherde in Mateus’ Händen zurück, ihr geliebtes Wohnmobil, wo in jeder Ritze eine Erinnerung steckte. Und die besten Jahre ihres Lebens. Doch es war Zeit, ihre Zelte als cabreira hier in Portugal abzubrechen. Was von einem Urlaubsland zur Wahlheimat und schließlich zu einem Zuhause geworden war. Aber seit einigen Monaten fühlte sie sich doch immer mehr wie die Fremde, die damals aus dem Flieger in Lissabon gestiegen war. Sie war im zugigen Februar angekommen mit ihrem Schmerz, den paar D-Mark-Scheinen...
Erscheint lt. Verlag | 14.5.2024 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Älter werden • Anspruchsvolle Literatur • bücher literatur • Bücher Neuerscheinungen 2024 • buch für frauen • Deutsche Literatur • Deutsche Romane • Dörte Hansen • Emotionen • Familienroman • Freunde • Freundschaft • Freundschaftsgeschichte • Frühling • Garten • Gegenwartsliteratur • Geheimnisse • Heide • last minute geschenke • lebenskrise überwinden • Lüneburger Heide • Moderne Literatur • Moderner Roman • Natur • Naturschutz • naturverbunden • Neuanfang • Neuanfang wagen • Norddeutschland • romane neuerscheinungen 2024 • Rückkehr der Kraniche • Schicksalsschlag • Sommer • Sommerroman • summer read • Umgang mit Krankheit • Urlaubsbuch • Urlaubslektüre • Wahlfamilie • Wald • Wechseljahre • Zeitgenössische Literatur |
ISBN-10 | 3-644-01765-4 / 3644017654 |
ISBN-13 | 978-3-644-01765-8 / 9783644017658 |
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