Kit Armstrong - Metamorphosen eines Wunderkinds (eBook)
256 Seiten
Berlin Verlag
978-3-8270-8091-2 (ISBN)
Inge Kloepfer ist eine preisgekrönte Bestseller- und Filmautorin. Sie publiziert seit vielen Jahren in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Mit Kent Nagano veröffentlichte sie den Longseller Erwarten Sie Wunder! Expect the Unexpected (Berlin Verlag 2014/Piper 2016), der in mehrere Sprachen übersetzt wurde und den sie für NDR/Arte verfilmte. 2021 folgte das Buch 10 Lessons of my Life. Was wirklich zählt.
Inge Kloepfer ist eine preisgekrönte Bestseller- und Filmautorin. Sie publiziert seit vielen Jahren in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Mit Kent Nagano veröffentlichte sie den Longseller Erwarten Sie Wunder! Expect the Unexpected (Berlin Verlag 2014/Piper 2016), der in mehrere Sprachen übersetzt wurde und den sie für NDR/Arte verfilmte. 2021 folgte das Biuch 10 Lessons of my Life. Was wirklich zählt.
Prolog
3 x 3 = 9
33 x 33 = 1089
333 x 333 = 110 889
3333 x 3333 = 11 108 889
33 333 x 33 333 = 1 111 088 889
333 333 x 333 333 = 111 110 888 889
…
Eigentlich ist alles ganz einfach. Und das mathematische Muster von einer gewissen pyramidenhaften Schönheit. Wenn man die Drei mit sich selbst multipliziert, ergibt sich neun, wenn man mit der 33 das Gleiche tut, ist das Ergebnis 1089. Jede zusätzliche Drei beider Multiplikatoren bedeutet im Ergebnis eine zusätzliche Eins und eine weitere Acht. Nach der anwachsenden Anzahl der Einsen folgt stets die Null, nach den Achten die Neun. So bleibt es für immer und ewig.
In der überschaubaren Menge an Material, das aus Kit Armstrongs Kindheit erhalten ist, findet sich ein Blatt, auf dem er diese Kaskade von Zahlen in verschiedenen Farben sorgfältig notiert hat: mit Filzstift gemalt, kleinkindlich, jede Gleichung anders koloriert, in Rot, Orange, Gelb, das zu Ocker mutiert ist, Grün, Dunkelblau, Hellblau und Lila – nicht ganz das Farbspektrum des Regenbogens.
Das Farbmuster wiederholt sich bis zur 13. Zeile, wenn 13 Dreien mit sich selbst zu multiplizieren wären. Das ergäbe eine Zahl aus 26 Ziffern, die mit zwölf Einsen beginnen würde, gefolgt von der Null, danach zwölf Achten und am Ende die obligate Neun. Allerdings kommt es nicht dazu. Das Ergebnis bricht nach neun Einsen ab. In der 13. Reihe unten auf dem quer beschriebenen Blatt reicht der Platz für mehr nicht aus. Als Kit Armstrong dieses Muster entdeckte, war er zwei Jahre alt.
Nicht viel später wurde seinem Umfeld klar – er ist ein Wunderkind. Eines, das über atemberaubende kognitive Fähigkeiten verfügt, das in rasendem Tempo lernt und Gelerntes, für das er sich interessiert hat, kaum je vergisst; das sich im Alter von fünf oder sechs Jahren mit seinem Kompositionslehrer an der Universität nahezu auf Augenhöhe unterhält.
Nicht nur sein Erinnerungsvermögen ist sagenhaft, auch seine Art, verschiedene Dinge miteinander in Verbindung zu bringen. Er ist einer, dem seine renommierten Klavierlehrer schon bald überbordende Musikalität attestierten und sich damit auch öffentlich zitieren ließen. Ihm sind darüber hinaus koordinatorische Fähigkeiten eigen, die ihn nicht nur virtuos Klavier spielen, sondern auch mit einer Vielzahl von Bällen jonglieren lassen. Er ist einer, den sein wissenshungriger Geist bisher unablässig vorangetrieben hat, nicht nur in die Welt der Musik, sondern zunächst in die der Naturwissenschaften, Chemie, Physik, Mathematik. Musik war zunächst eine Nebenbeschäftigung. Heute ist er ein international gefeierter Pianist.
Kit Armstrong war im Kindesalter also eine Sensation, die einen kurzen Moment seiner Geschichte Gefahr zu laufen schien, zur Zirkusnummer zu werden. Damals, vor gut zwei Jahrzehnten, als er mit gerade zehn Jahren in der Show von David Letterman am Klavier auftrat – niedlich zurechtgemacht in Anzughose, weißem Hemd und mit Hosenträgern, die sich über seinen winzigen Schultern kreuzten. Vor einem Millionenpublikum gab er seine eigene kindhaft-komplexe Komposition zum Besten, ein virtuoses Stück, das die Zuschauer im Studio laut johlend mit Applaus quittierten.
Als kleiner Knirps, der er damals war, hätte er auch einen Wurf auf eine Dartscheibe vollführen und gleich ein Triple-20 machen können. Das Publikum hätte ihn nicht minder gefeiert. Es ging gar nicht um Musik, sondern um die Lust der Öffentlichkeit an der Sensation.
Doch ein Wunderkind wollte er nie sein. Er findet die Bezeichnung bis heute unpassend, lehnt sie ab. Nur wird er dieses Attribut nicht mehr los, bekommt es noch immer wie einen Orden angesteckt (auch hier), wenn er von Konzertveranstaltern angekündigt wird oder die Zeitungen über ihn schreiben. Seine noch recht junge Geschichte wimmelt von sich wiederholenden Superlativen und außergewöhnlichen Zuschreibungen, die Menschen über ihn zum Besten gaben und geben und mit denen Kit Armstrong seit seiner Kindheit leben muss.
Eleanor Sokoloff, jene sagenumwobene Klavierpädagogin, die seit 1936 am berühmten Curtis Institute of Music in Philadelphia bis zu ihrem Tod im Alter von 106 Jahren im Juli 2020 gelehrt hat, konnte angeblich nicht umhin, ihren Schüler Kit Armstrong in einem Atemzug mit Mozart zu nennen. Und zu vergleichen: »Aber Mozart beschäftigte sich nicht mit Mathematik und besuchte nicht mit neun Jahren die Universität«[1], soll sie gesagt haben.
Oder: Es gibt einen Film über die Unterrichtsstunden von Armstrong bei Alfred Brendel, einem der bekanntesten Pianisten unserer Zeit, der einer seiner Lehrer war. Der Film allerdings ist eher ein Werk über Alfred Brendel als über Armstrong und dokumentiert Teile von dessen Verhältnis zu seinem damals 15-jährigen Eleven. Set the Piano Stool on Fire, lautet der Titel.[2]
Armstrong redet in dem Film kaum. Mit seinen großen Augen schaut er auf den weltweit innig verehrten Klassik-Star, diese Legende am Klavier, der der Nachwuchsarbeit nie wirklich viel abgewinnen konnte, aber eigens für Armstrong eine Ausnahme machte. Da sitzt der Junge nun am Flügel und spielt, während sein Meister nicht stillhalten kann, sondern mit den Armen durch den Raum rudert, summt und brummt, die Stirn in Falten zieht, musikbewegte Blicke gen Himmel schickt, die an der Zimmerdecke landen, und dann – vielleicht sogar unwillkürlich – ebenfalls beginnt, mit Blick auf seinen Schüler von Wolfgang Amadeus Mozart in der Adoleszenz zu sprechen. Wenig später wird er auf einer Konzertbühne öffentlich ein paar Worte zu der absoluten Einzigartigkeit seines Schülers sagen, die sich schon bald danach in jenem berühmten Satz zusammengefasst wiederfinden, der Armstrong nun seit seinem halben Leben begleitet: »Dieser Junge ist die größte musikalische Begabung, der ich in meinem ganzen Leben begegnet bin.«[3]
Seither muss Kit Armstrong mit diesen Attributen zurechtkommen, die zwar in gewisser Hinsicht geschäftsfördernd waren und sicher noch sind, die aber auch einen immensen Anspruch in sich tragen, der die Fallhöhe für den jungen Künstler – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung – enorm vergrößert hat. Denn Wunderkind ist man irgendwann nicht mehr. Und dann? Dann gilt es, weiter zu wachsen, sich zu verändern, sich vielleicht sogar neu zu erfinden. Daran kann man auch scheitern.
Natürlich hat Armstrong schon als Kind seine Außergewöhnlichkeit vollends begriffen. Als Teenager hat er sich an die Aufmerksamkeit gewöhnen müssen. Meist schwieg er dazu – was sollte er schon sagen? Dann hieß es in Interviews, er rede nicht gern. Heute nimmt er all die vergangenen Elogen mit hintersinnigem Humor, wahrscheinlich weiß er, dass man etwas aus seinem Munde dazu hören möchte. »Das hätte ich gern schriftlich«, sagt er, wenn er mit solchen Sätzen seiner früheren Lehrer konfrontiert wird – vor allem mit dem von Alfred Brendel. Wie sonst sollte er so etwas auch parieren?
Und doch haben die Sätze ihre Wirkung nicht verfehlt. In der Musikbranche so oder so nicht. Im Gegenteil. Und bei Kit Armstrong? Wahrscheinlich auch nicht. Beides wirkte zusammen und führte ihn zunehmend in die Welt der klassischen Musik, in der er heute sein Geld verdient und die vergangenen zwanzig Jahre lang einen Teil seiner Erfüllung fand. Aber ob das wirklich seine Bestimmung ist? Er weiß es selbst nicht.
»Ich spiele klassische Musik, aber ich bin sicher kein klassischer Musiker«, sagt er von sich. Ob er kein Musiker im klassischen Sinne ist oder keiner, der sich über die klassische, will sagen ernste Musik, definiert, sei dahingestellt. Der Satz ist nicht mehr und nicht weniger als die Momentaufnahme eines herausragenden Allround-Talents, das mit einer Reihe von Erwartungen aufgewachsen ist, irgendetwas Bahnbrechendes zustande zu bringen. Was es sein wird – wer weiß das schon? Ob es gelingt? Auch ein Überflieger hat seine Zweifel.
Mittlerweile hat er zu akzeptieren gelernt, dass Normalsterblichen das Staunen über so sensationelle Ausnahmeerscheinungen ihrer Spezies, denen die Launen der Natur einen überbordenden, zu allerlei Verblüffendem fähigen Geist geschenkt haben, ein gewisses Wohlbefinden bereitet. Womit wir wieder beim Zirkus wären. Aber so ist es nun mal. Früher hat ihm das nicht gefallen. Eine Zeit lang hat er seine Fähigkeiten regelrecht verborgen, niemandem gesagt, dass er...
Erscheint lt. Verlag | 29.2.2024 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | Alfred Brendel • Allroundtalent • Ausnahmetalent • Genie • Igor Levit • Jahrhunderttalent • Klassische Musik • Klavier • Komponist • Konzertpianist • Konzerttournee • Musikalische Begabung • Musiker • Oliver Sacks • Orgel • Orgelkonzert • Orgelmusik • Pianist • Sauvant • Talent • Vielfachbegabung • Wunderkind |
ISBN-10 | 3-8270-8091-6 / 3827080916 |
ISBN-13 | 978-3-8270-8091-2 / 9783827080912 |
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