Kantika (eBook)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
368 Seiten
mareverlag
978-3-86648-832-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kantika -  Elizabeth Graver
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Rebecca Cohen genießt als Tochter eines sephardischen Unternehmers die Privilegien der Istanbuler Oberschicht. Doch als sich in den 1920er-Jahren die Stimmung in Europa verdüstert, beginnt für sie eine jahrelange Odyssee, die sie über Barcelona und Havanna bis nach New York führt. Auf ihrer Flucht wird Rebecca, kaum Ehefrau und Mutter, zur Witwe, muss ihre Eltern zurücklassen, um ihren Kindern eine Zukunft zu bieten, und ihr Schicksal einem Mann anvertrauen, den sie nur aus Briefen kennt. Doch an jeden neuen Ort trägt sie ihre Erinnerung und ihre Lieder und baut sich daraus gegen alle Widerstände eine neue Heimat. »Kantika« (»Lied«) ist eine eindringliche, lyrische Erzählung über Identität und Exil und eine inspirierende Geschichte weiblicher Resilienz, mit der Elizabeth Graver ihrer Großmutter Rebecca Cohen ein Denkmal setzt.

Elizabeth Graver, geboren 1964 in Los Angeles, aufgewachsen in Massachusetts, ist Autorin mehrerer prämierter Romane und Kurzgeschichten. Bei mare erschien 2016 ihr Roman »Die Sommer der Porters«, der für den National Book Award nominiert war und auch in Deutschland Presse und Publikum begeisterte. Die Mutter zweier Töchter lehrt Englisch und Creative Writing am Boston College.

Elizabeth Graver, geboren 1964 in Los Angeles, aufgewachsen in Massachusetts, ist Autorin mehrerer prämierter Romane und Kurzgeschichten. Bei mare erschien 2016 ihr Roman »Die Sommer der Porters«, der für den National Book Award nominiert war und auch in Deutschland Presse und Publikum begeisterte. Die Mutter zweier Töchter lehrt Englisch und Creative Writing am Boston College.

II


Auf halbem Weg nach unten zum Fluss wohnen zwei wichtige Menschen – Rahelika und Djentil Nahon. Rebecca hat schon immer eine beste Freundin gehabt, und es ist schon immer Rahelika gewesen, die mit ihr zur Schule geht und zum Turnen und ins Sommerhaus in Büyükdere, weil ihre Mütter eng befreundet sind und Likas Vater ein schlecht bezahlter Lehrer an einer Schule der Alliance Israélite ist und die Familie kein eigenes Sommerhaus besitzt. Die beiden Mädchen ähneln sich, beide dunkelhaarig und zierlich. Fremde halten sie manchmal für Zwillinge, obwohl Rebeccas Augen heller sind. Die Mädchen schleppen blond gelockte Zwillingspuppen mit sich herum – Geburtstagsgeschenke von Rebeccas Vater –, Chérie und Bella. In der Schule glänzt Rebecca im Zeichnen, Malen und Singen, während Lika, die Stipendiatin an der Sion ist, eine Begabung für Mathematik und Naturwissenschaften hat und Krankenschwester werden möchte, was durchaus möglich ist, sagen die Nonnen, wenn man genug betet und lernt. »Beccalika« nennt Mère Maline (so jung, so hübsch, so fröhlich, dass sie eher wie eine große Schwester wirkt) die Mädchen, oder »Likabecca«, und als Rebecca neun ist, darf sie allein zu Likas Haus gehen, Chérie fest umklammert, immer bergab, vorbei am Glasbläser mit dem verbrannten Gesicht, vorbei am Kürschner, Fischhändler, Sesamölfabrikanten, bis an Likas Tür.

Dort wird sie von Likas Mutter verhätschelt, bekocht, verwöhnt und darf sich mit Lika stundenlang Fantasiespielen hingeben, oder sie blättern französische Zeitschriften durch, die Likas Vater für den Unterricht benutzt – Journal des Voyages und Je Sais Tout –, wo sie eines Tages zwischen oberkörperfreien Walfängern und Indianerhäuptlingen mit Federschmuck auf ein illustriertes Porträt des orientalischen Juden stoßen, unter anderem auf eine Frau mit einem breiten schwarzen Band um Kinn und Kopf und einem anderen Band um den Oberkörper, das ihren riesigen Busen hochschiebt. Ihr Blick ist benommen, die Augen glänzen; sie erinnert an ein zusammengebundenes Hähnchen. Typische türkische Jüdin steht darunter. Gackernd stopfen sich die Mädchen Geschirrtücher unter die Kleider, binden sich Schärpen um und tun, als würden sie für Fotos posieren. Manchmal übernachtet Rebecca sonntagabends bei Lika. Dann bringt sie ihre Schuluniform mit, das schwarze Kleid mit weißem Spitzenkragen, dazu im Winter die schwarze Cabanjacke und den breitkrempigen Hut und im Frühling den Strohhut aus Frankreich.

Djentil Nahon, die erste Frau von Rebeccas Vater, wohnt über Lika, und Lika nennt sie tiya, Tante, obwohl sie nicht verwandt sind, deshalb tut Rebecca es auch. Mehrmals pro Woche ruft Tiya Djentil aus dem Fenster oder klopft auf den Fußboden, der Likas Zimmerdecke ist, und dann wissen die Mädchen, dass sie etwas erledigen sollen. Wenn sie auf die Straße gehen, lässt sie in einem Korb an einem Seil Geld herunter und schickt sie zu Krämern oder Läden, Aufträge, die sie, so Likas Mutter, ohne Murren erledigen sollen, weil es ein Unglück ist, keine Kinder zu haben, und Tiya ihre alte Mutter nicht allein lassen kann. Manchmal bringen die Mädchen die Sache schnell hinter sich und legen die Besorgungen in den Korb. Aber ab und an sagt Tiya Djentil auch, kommt rauf, mi suvrinas, ich habe einen Kuchen für euch gebacken. Dann steigen sie die steilen Stufen zur düsteren Wohnung hoch, pflichtbewusst zunächst, dann immer neugieriger, und während Tiyas alte Mutter auf dem Sofa schnarcht, bietet sie ihnen Mandelkuchen an und Lindenblütentee oder schwarzen Kaffee mit Zucker, den sie schnell hinunterkippen, damit Tiya Djentil ihnen im trüben Kaffeesatz die Zukunft voraussagen kann. Nachdem der Kuchen aufgetischt ist und Tiya Djentil gesagt hat, kome kon gana – esst mit Genuss –, setzt sie sich mit ihrem winzigen, seltsam mädchenhaften Körper auf einen riesigen Holzstuhl und erzählt ihnen Geschichten, wie Rebeccas Vater sie verabscheut, die ihre Mutter duldet und nach denen Rebecca süchtig ist.

»Also, an einem Tag in der letzten Woche habe ich geklopft und gerufen – ich hatte euch einen Kuchen gebacken –, aber ihr seid nicht gekommen. Erst dachte ich, na gut, wenn sie nicht kommen, sind sie in der Schule oder helfen ihren Müttern, aber bald war es spät am Nachmittag, und ich hatte aufgehört zu klopfen, aber begann mir Sorgen zu machen. Es ist etwas Schlimmes passiert! Eine Entführung, ein Unfall, ein Feuer, Vergewaltigung gar – ihr solltet nicht wissen, was das ist –, doch dann begriff ich, dass es böse Geister sind, shedim, direkt hier in meiner Wohnung, in meinem Holzlöffel, denn nachdem ich meiner guten Mutter die Nägel geschnitten hatte, vergaß ich, die Späne zu verbrennen. Deshalb sagte ich: Mama, wach auf, schnell! Es gibt Ärger in unserem Löffel! Bedenkt, ich habe nicht shedim gesagt – denn wenn man in deren Gegenwart ihren Namen ausspricht, zeigen sie sich. Meine arme Mutter ist aufgewacht und hat angefangen zu wimmern – aaaah, aaaah, aaaah! –, als würde sie jemand mit einem heißen Messer foltern. Sie waren da an jenem Tag, die shedim! Der Löffel hat mich verfolgt, und meine Mutter auch! Aber euch nicht, Mädchen. Ich muss euch unbewusst ferngehalten haben. Ich habe es gespürt, bevor der Löffel es mir gesagt hat. Ich bin mit dieser Gabe gesegnet. Vielleicht besitzt ihr diese Gabe ja auch.«

Rebecca sieht zu Lika, deren Lippen vom Puderzucker weiß sind, und Lika, die versucht, nicht zu lachen, schnaubt stattdessen, sodass es staubt. In Rebecca steigt auch etwas auf, doch es ist kein Lachen. Ist es möglich, dass auch sie diese besondere Gabe besitzt? Will sie das? Die Gegenstände auf dem Tisch – der Keksteller, eine trübe bombonyera mit muffigen Bonbons, Gläser mit Perlen und Gewürznelken – bekommen plötzlich Gewicht, als hätte alles nicht unbedingt ein Gesicht, aber eine Seele, eine Persönlichkeit, einen Willen. In ihren Träumen kommen regelmäßig Dinge vor, die mehr als Dinge sind – ein Kleiderschrank, der geht, aber keine Füße hat, ein Schiff, das lacht, aber keinen Mund hat, Menschen, die nicht wirklich Menschen sind, aber so scheinen. Solange sie denken kann, sieht sie überall Gesichter, nicht nur in den Wolken, was ja verbreitet ist, sondern auch in Astlöchern und Fenstergittern und in den Blumen im Garten ihres Vaters mit ihren klaffenden Mündern und seidigen Köpfen. Vor ein paar Jahren hat sie an Pessach den Propheten Elias gesehen, nur den Zipfel seines Ärmels und den Stiel von seinem Weinglas, doch nur Hunde und Menschen mit einer besonderen Gabe können ihn überhaupt sehen.

»Was ist dann passiert?«, fragt sie Tiya Djentil.

»Der Löffel wurde in meiner Hand so heiß, dass meine Haut sich abgelöst hat, abgepellt, genau hier …« Sie hält einen Finger mit glänzender, wunder Kuppe hoch.

»Oh, Tiya! Du hast dich verbrannt«, sagt Lika. »Du musst es verbinden. Hast du Pflaster da? Ich kann von meiner Mutter welches holen.«

Djentil winkt ab. »Nicht nötig. Ich habe mich schon darum gekümmert.«

»Wie?«, fragt Rebecca.

Tiya zuckt die Schultern. »Nur mit Zucker und Papier.«

»Auf den verbrannten Finger? Er wird sich entzünden!« Lika klingt fast wütend.

»Natürlich nicht! Ich habe Zucker und Papier unter mein Kissen gelegt. Am nächsten Tag trinkt man ihn mit dem Morgentau. Damit sie verschwinden. Vos do dulseria, ke me desh sultura.« Ich gebe euch Süßes, damit ihr von mir weicht. »Das ist ein zuverlässiges Mittel, aber versprecht mir, dass ihr es nicht aufschreibt. Alle wahren Weisheiten gehen von Mund zu Ohr. Bis ihr es weitergebt, bewahrt es« – sie klopft zweimal an ihre Stirn – »hier.«

Und so geht es weiter. Manches von dem, was sie sagt, klingt vertraut, denn die Mädchen haben viele Verwandte, die noch an Geister und den bösen Blick glauben, auch wenn die Nonnen in der Schule ihnen die Amulette abschneiden, wenn sie diese entdecken. (Aber was ist mit dem Wein als Blut und der Oblate als Leib – ist das nicht genauso an den Haaren herbeigezogen?) Die Väter der Mädchen halten nichts von den alten Bräuchen, während ihre Mütter immer noch automatisch jedes Kompliment mit einem sin ojo oder ojo malo ke no tengan! aufheben – ohne Blick oder möge der böse Blick dich verschonen. Eines Tages erzählt Djentil ihnen, dass der Schlaf zu einem Sechzigstel Tod ist und man deshalb im Traum toten Seelen begegnen kann. Am nächsten Tag erzählt Rebeccas Vater ihnen, er habe gerade gelesen, dass ein Wissenschaftler, der auf den Eiffelturm geklettert ist, kosmische Strahlung entdeckt hat. Warum nicht, eins von beiden,...

Erscheint lt. Verlag 20.2.2024
Übersetzer Juliane Zaubitzer
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Autofiktion • Barcelona • Exil • Familienroman • Flucht • Generationenroman • Havanna • Istanbul • Jüdische Geschichte • Kuba • New York • Sepharden • Sephardim • Spanien
ISBN-10 3-86648-832-7 / 3866488327
ISBN-13 978-3-86648-832-8 / 9783866488328
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