Unzustellbare Briefe (eBook)

Erzählungen

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024
320 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-30829-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Unzustellbare Briefe - Anna Mitgutsch
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Sie faszinieren - im Guten wie im Schlechten. Anna Mitgutsch schreibt Porträts außergewöhnlicher Menschen: In Briefform ergründet sie Bruchstellen im Leben, zeichnet fein ziselierte Psychogramme und schildert das Unausgesprochene in vergangenen Beziehungen. Die Großmutter im Böhmerwald, die erste große Liebe im Amerika der Hippiezeit, die feministische Dichterin in West Virginia. Es sind Begegnungen, die das Bild einer ganzen Generation aufleben lassen. Literarisch kunstvoll, eindringlich, couragiert. Geschichten, bei denen Mitgutsch aus Erlebtem, Erfahrenem schöpft und immer wieder die eigene Biografie mit erfasst - von der Kindheit in Oberösterreich, den zahlreichen Reisen und Aufenthalten in England, Korea und Israel, bin hin zu den prägenden Jahren in den USA.

Anna Mitgutsch, 1948 in Linz geboren, unterrichtete Germanistik und amerikanische Literatur an österreichischen und amerikanischen Universitäten, lebte und arbeitete viele Jahre in den USA. Sie ist eine der bedeutendsten österreichischen Autorinnen und erhielt für ihr Werk zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Solothurner Literaturpreis sowie jüngst den Adalbert-Stifter-Preis. Sie übersetzte Lyrik, verfasste Essays und zehn Romane, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden.

Was du für mich warst


Du lehrtest mich das Geschichtenerzählen. Du lehrtest mich, dass es keiner Leistung und keiner Bestechung bedarf, um geliebt zu werden. Du lehrtest mich die Lieder deiner Kindheit, über die du schwiegst. Du fülltest meine Kinderjahre mit Wärme und Phantasie, und am Ende blieb nichts als das Haus deiner alten Tage und auch das ist nun verschwunden. Sogar dein Name auf dem Grabstein wurde von deinem Enkel, der die Grabstatt erbte, getilgt. In wessen Gedächtnis außer dem meinen lebst du noch fort? Ich setze meine Erinnerung in die Welt der Worte, wie du es tun musstest, um in der Abgeschiedenheit zu überleben. In einem Austragshäusl auf einer Lichtung des Böhmerwaldes, zwei Stunden auf Schmugglerpfaden südlich der tschechischen Grenze, eine Stunde vom Dreiländereck des Hochfichts, auf einem gerodeten, mit Granitfindlingen durchsetzten Berghang. Das Haus, der steinerne Brunnen davor, an dem man sich an kühlen Sommermorgen wusch, die Himbeerschläge und Heidelbeeren am Waldrand, die Pilze im regentriefenden Unterholz, die Blumen der Hochebene, die ich seither nirgends mehr gefunden habe, und die Stille, in der deine Geschichten vom Kristallpalast am Ufer des damals unerreichbaren Plöckensteinsees, dieses schwarzen Auges der Finsternis, ihr Geheimnis bewahren. Ich wünschte, du hättest mir mehr von dir erzählt.

Ich weiß erst seit kurzem, wann du geboren bist, zu Anfang des Winters vor fast hundertfünfzig Jahren, aber Geburtstage wurden nicht gefeiert, zu ungeplant und gefährdet waren Geburten, um das Schicksal auf sie aufmerksam zu machen. Es gibt kein einziges Foto von dir als junge Frau, auch nicht als zweiundzwanzigjährige Braut. Du musst diesen Häuslerssohn mit dem tatarischen Aussehen und der karpatischen Herkunft sehr geliebt haben, um das Dorf im Tal mit dieser ärmlichen Bauernkate zu tauschen, die nur Armut, Einsamkeit und schwere Arbeit versprach. Die Ehe und vielleicht auch die Liebe hielt über vierzig Jahre, sie überdauerte zwölf Schwangerschaften, vier tote Kinder, die Hungersnot nach dem Ersten Weltkrieg, die schwächliche Konstitution des Mannes, die dir alle Lasten der Landwirtschaft auflud, während er sich als Waldarbeiter verdingen musste. Am Ende seines Lebens war sein Körper so ausgeschunden, dass er nicht mehr aufrecht gehen und den Kopf nicht mehr heben konnte. Du hast ihn um achtzehn Jahre überlebt und mir nie von ihm erzählt, aber erwähnt hast du ihn stets wie einen, auf dessen Urteil man sich verlassen konnte. Der Vater, sagtest du, nie nanntest du ihn beim Namen und nie: mein Mann. Von dieser Liebe gibt es späte Fotos, auf denen ihr an der sonnenbeschienenen Hausmauer sitzt, zwischen den jüngsten halbwüchsigen Kindern, wie schwer arbeitende Leute am Feierabend, gelöst und zufrieden in einem schweigsamen vorsichtigen Behagen, die Hände im Schoß und einander leicht zugeneigt, immer noch, nach so vielen Jahrzehnten und Schicksalsschlägen. Nach dem elften Kind schenkte er dir eine schöne, schwarz lackierte Nähmaschine mit Goldverzierung und dieses Kind, meinen Vater, liebtest du ein wenig mehr als die anderen zehn, weil es so zart war und das erste Jahr nur knapp überlebte, wo du doch das Jahr zuvor ein zwei Monate altes Mädchen verloren hattest. War denn der Tod eines Säuglings ein großer Verlust? Man taufte die Kinder am Tag ihrer Geburt, spätestens am nächsten, damit sie wenigstens als Christenkinder starben. Hast du um diese kaum in die Welt gekommenen Kinder getrauert oder war ihr Tod eine Erleichterung bei dem kargen Leben? Vielleicht war das Verenden der einzigen Kuh im Stall eine größere Katastrophe, jedenfalls ein größerer Schaden für die Lebenden. In der Zeit der Hungersnot, als die Soldaten mit Bajonetten das Heu nach versteckten Lebensmitteln durchsuchten, als das Brot aus Kleie und Schrot in der Schüssel zu Grütze zerfiel, gingst du mit deinen jüngeren Kindern über die Grenze hamstern und schmuggeln. Drüben, in der Tschechoslowakei, gab es Verwandte, einen Hausierer, der mit alten Kleidern handelte, wo man ein paar Lebensmittel eintauschen oder vielleicht erbetteln konnte.

Sechzig Jahre lang lebtest du in diesem Haus am Waldrand, kamst nie weiter fort als in die Dörfer im Tal, sonntags in die Kirche, an Besuchstagen zu deinen Verwandten. Vielleicht bist du später, als alte Frau, ein paarmal im Auto eines Enkels gesessen, aber den größten Teil deines Lebens warst du zu Fuß unterwegs, im Winter durch kniehohen Schnee, im Sommer unter der brennenden Mittagssonne der Waldwiesen. Es war kein außergewöhnliches Leben, so lebten die meisten Frauen deines Standes, sie hatten keine andere Wahl. Die Welt, von der in den Zeitungen stand, die Geschichte, von der wir in Büchern lesen, kam stets nur als Verheerung in dein Leben, als Hungersnot nach den Kriegen, als Raub und Brandschatzung in den Jahren von Inflation und Arbeitslosigkeit, als Angst um die Söhne an der Front, als du nachts auf den Hausstufen gesessen bist und Himmel und Sterne um ihr Leben angefleht hast. Aber fromm warst du nicht, in deinem Haus wurde niemand zum Beten angehalten und am Sonntag bliebst du oft daheim. Wem das Leben so viel Härte zumutete, der brauchte sich dafür nicht zu bedanken, und bitten konntest du unter freiem Himmel, wenn dich Verzweiflung überkam. Doch wenn ich die Fotos deiner alten Jahre betrachte, scheinst du mir zu entschlossen und illusionslos, um zu verzweifeln. Nur in deinen Augen hält sich etwas wie Erbarmen mit den Menschen und ihren Verblendungen, aber vielleicht ist es auch nur Müdigkeit von zu viel leben. Es ist ein Gesicht, dem man harte Entscheidungen zutraut, auch Uneinsichtigkeit, sogar Ungerechtigkeit. Gab es Dinge in deinem Leben, die du bereutest? Ein jeder Mensch, selbst der gerechteste, wird schuldig im Lauf seines Lebens. Welche Schuld hast du auf dich geladen und mitgeschleppt bis zum Tod? Deine älteste Tochter hasste dich selbst noch als Fünfzigjährige und war doch deine Nachbarin auf dem nächst gelegenen Hof, auf den sie sehr jung geheiratet hatte. Ihre Kinder trieben sich auf den Wiesen rund um dein Haus herum, aber deine Stube betrat keines von ihnen. Wenn wir, die Kinder deiner jüngeren Söhne, um deinen Tisch saßen, war oft ein weiteres Kind dabei, der uneheliche Sohn deines Zweitältesten und einer Dienstmagd auf seinem Hof, ein gnadenhalber Geduldeter, der das bekam, was übrigblieb, dem du mit einer widerwilligen, zornigen Geste den Teller hinwarfst wie einem Hund. Ich verstand nicht, warum du so unfreundlich zu ihm warst, er tat mir leid, ich hätte gern gefragt, warum magst du ihn nicht, aber das wagte ich nicht. Gibt es vielleicht einen Grund außer der Pietätlosigkeit deines Enkels, warum dein Name auf dem Familiengrab fehlt? Was weiß ich denn schon? Ich war ein Kind und deine Nähe war meine Zuflucht. Nichts weiß ich, am wenigsten, wie du wirklich warst für jene, mit denen du auf gleicher Höhe und in angemessenem Abstand verkehrtest. Und wenn ich dich verkläre? Was macht das schon aus? Du empfingst mich jedesmal mit einer Freude, als würde dir etwas geschenkt, eine wertvolle Leihgabe, die du vorsichtig ein kleines Stück ihres Weges führen durftest, ohne Besitzanspruch, mit so viel behutsamer Liebe, dass sie mich siebzig Jahre später noch berührt. Vielleicht hast du deine Liebe ungerecht verteilt. Ich war eines deiner jüngsten Enkelkinder, es gab noch andere, die ich nicht kannte, die ich nie kennenlernte, zu viele Menschen, die deine Liebe brauchten. Schon möglich, dass sie nicht für alle reichte. Die Bauern mochtest du nicht, mit meiner Mutter, der stolzen Bauerstochter, lagst du in einem hasserfüllten Krieg, und wenn ich nach einem Besuch am Abend ins Dorf zurückmusste, gingst du mit mir durchs Holz bis zu den Feldrainen, wo man die Dörfer in der Ferne sehen konnte. Von da weg kannst du schon allein gehen, sagtest du jedesmal. Das war deine Grenze.

Mit zweiundzwanzig kamst du als Braut in das Haus, in dem du zwölf Kinder zur Welt brachtest, deinen kranken Mann pflegtest, die Tiere versorgtest, die Ernte einbrachtest, bis alles so sehr dein Haus und dein Leben war, dass es nichts anderes mehr gab. Ich habe ein Foto von dir bei der Heuernte, die hoch getürmte Fuhre auf der abschüssigen Bergwiese, zwei Ochsen davorgespannt, und du thronst hoch oben bis zu den Hüften im Heu, ein weißes Kopftuch übers Haar gebunden, und nimmst eine Garbe auf, so gelassen und leicht, als würdest du Blumen um dich herum verteilen, während dein Mann von der Anstrengung, die Garbe mit der Heugabel zu dir hinaufzuheben, ganz verbogen dasteht. Ist es vermessen zu fragen, ob du glücklich warst, oder durfte es den Luxus dessen, was wir heute Glück nennen, in einem so kargen Leben nicht geben? War es schon Glück, genug Essen auf den Tisch zu stellen, dass alle Mägen satt wurden, das Nötigste zu haben, um Kleidung zu kaufen und manchmal ein kleines Geschenk, eine Rippe Schokolade am Sonntag nach der Messe, ein lackiertes Holzpferdchen unter dem Christbaum? Ich weiß, dass du bei aller Nüchternheit an phantastische Geschichten glaubtest, vom Kristallpalast am Grund des Plöckensteinsees, von den Fischen im See, die nachts nach ihrer von Fischern gefangenen Brut riefen, von der wilden Jagd und unheimlichen nächtlichen Begegnungen, von den Rauhnächten mit ihren Geistern und Vorahnungen, von übernatürlichen Kräften, die unerwartet jederzeit auftauchen und das Schicksal bestimmen konnten.

Mit achtundsechzig, mitten im Krieg, übergabst du das Haus an einen deiner Söhne und zogst aufs Altenteil. Es war nicht viel mehr als eine aus grob verputzten Granitfindlingen in den Hang hineingebaute Stube mit einem Vorhaus, einer winzigen Vorratskammer und einem Holzschuppen, der sich in Geröll und Brettern im steinigen Hintergrund verlor. Dort haustest du noch siebzehn Jahre bis zu deinem Tod. Mit...

Erscheint lt. Verlag 20.3.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2024 • Briefe • Deutsche Gegenwartsliteratur • eBooks • Emanzipation • Erinnerung • Familie • Israel • Liebe • Neuerscheinung • Österreichische Literatur • Porträts • Preisgekrönte Autorin • Roman • Romane • Schreiben • USA • Zeitgeschichte
ISBN-10 3-641-30829-1 / 3641308291
ISBN-13 978-3-641-30829-2 / 9783641308292
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