Wilde Geschöpfe (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024
208 Seiten
btb Verlag
978-3-641-29862-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wilde Geschöpfe - Amy Liptrot
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Amy Liptrot möchte das einsame Leben auf den Orkneyinseln hinter sich lassen und bucht einen One-Way-Flug nach Berlin. Sie mietet ein Hochbett in einer WG und beginnt, mit ihrem Handy nach Arbeit - und Liebe - zu suchen.

»Wilde Geschöpfe« erzählt von einem bewegten Jahr in Berlin, in dem Amy der Tierwelt der Stadt an völlig unerwarteten Orten begegnet, den Zyklen des Mondes und den Flugbahnen der Zugvögel folgt. Sie erlebt die Einsamkeit des Online-Datings in der Wildnis der Großstadt und gibt sich der berauschenden Macht von Liebe und Lust hin.

Amy Liptrot ist auf den Orkneyinseln aufgewachsen. Als Journalistin schreibt sie für verschiedene britische Magazine. Ihr Debüt »Nachtlichter« begeisterte Leser*innen wie Presse gleichermaßen, stand wochenlang auf den britischen Bestsellerlisten und wurde u.a. mit dem Wainwright Prize for Best Nature and Travel Writing sowie dem PEN Ackerley Prize für autobiografisches Schreiben ausgezeichnet.

BERLIN FÜR ANFÄNGER


November


Nebelmond


In Berlin hat man immer das Gefühl, ein kleines bisschen zu spät gekommen zu sein. Vor fünf Jahren, sagen die Leute, war hier wirklich etwas los. Ich war vor zehn Jahren für ein Wochenende da. Wir unternahmen Fahrradausflüge, blieben mit Freunden von Freunden die ganze Nacht über auf, in ihrer großen, geräumigen Wohnung, deren Miete sie sich leisten konnten, obwohl sie nur stundenweise an einem Eisstand arbeiteten.

Ich wollte zurück in eine Großstadt, weil ich damit noch nicht fertig bin. Ich will die Karten noch einmal neu mischen. Die Leute zu Hause wirken so überzeugt, dass es sich nirgendwo besser lebt als auf unserer kleinen Insel, dabei haben sie es nie anderswo versucht. Außerdem bin ich hier, weil man gut über hoffnungslose Verliebtheit hinwegkommen kann, indem man in ein anderes Land zieht, wo es neue Leute gibt, in die man sich hoffnungslos verlieben kann.

Es gibt keinen besonderen Grund, warum ich mich für Berlin entschieden habe: weder Job noch Studium oder einen Liebsten. Ich bin nur der Abwechslung halber hier. Und ich kenne nur einen einzigen Menschen, einen Bekannten aus London, der einmal dabei war, als ich einen epileptischen Anfall hatte, und der mich ermutigte, zu kommen. Ich besorgte mir einen One-Way-Flug und eine vorübergehende Bleibe, suchte über das Internet nach weiteren Bekannten, erkundigte mich auf Twitter nach Kontaktadressen von Leuten, denen ich folge, die ich um Rat fragen und treffen konnte. Und ich meldete mich bei Duolingo an.

In einer neuen Stadt hat man die Freiheit, sich neu zu erfinden. Ich möchte so tun, als wäre ich noch in den Zwanzigern, mir vielleicht ein Nasenpiercing zulegen und einen Undercut, polyamourös leben und Skulpturen erschaffen. Ich fühle mich angezogen von dem, was ich für den Berliner Stil halte: Cabaret-via-Kalter-Krieg, Fahrräder, Minimal Techno, schwarze Klamotten.

Ich habe genug Geld, um ein paar Monate über die Runden zu kommen, bevor ich mir dann einen Job suchen muss – eine befreiende Situation, in der ich mich noch nie zuvor befunden habe. Aber ich muss vorsichtig sein und sparsam leben. Wenn man arm ist, lebt es sich in Berlin besser als an den meisten anderen Orten. Ich trage abgerissene Klamotten, weil ich eine mittellose Künstlerin bin, und nicht, weil ich versuche, wie eine auszusehen.

Ich schneide mir mit einem Brotmesser den Daumenabdruck ab. Ich lege mir eine deutsche Telefonnummer zu.

Am ersten Abend in der Stadt esse ich allein in einem türkischen Restaurant, sehe attraktive Männer vorübergehen und finde, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe. Ich schätze, meine Chancen auf eine Romanze sind hier besser als auf der Insel.

Am ersten Tag erkunde ich die Stadt. Ich versuche, in einem Café etwas auf Deutsch zu bestellen, und man antwortet mir auf Englisch. Ich versuche es nur selten wieder. Deutsch wurde mir sowohl als leicht als auch schwer zu lernen beschrieben. Man hat mir erzählt, man könne hier günstig leben, um sich dann darüber zu beschweren, dass die Miete zu teuer sei. Berliner, so heißt es, seien entspannt und ernst, weltoffen und zugleich unnahbar. Ich habe keine Ahnung, woran ich hier bin.

Was ich weiß, ist, dass Berlin einen hohen Grundwasserspiegel hat, einen ungewöhnlichen Wasserstand. Die Stadt steht auf absinkendem, sich verschiebendem Boden, das Grundwasser steigt. Ich schaue mir einen Betonbrocken an: den »Schwerbelastungskörper«, auch »Naziklotz« genannt, einen riesigen, zwölf Tonnen schweren Betonzylinder, der 1941 von Hitlers Regime errichtet wurde, um zu sehen, wie tief er in den sumpfigen, instabilen Berliner Untergrund einsinken würde.

Für den ersten Monat miete ich ein Zimmer in einer Wohnung in Neukölln, im Südwesten der Stadt, eine der kulturell buntesten und ärmsten Gegenden von Berlin. Das Zimmer hat ein Hochbett: Ich schlafe dicht unter der Decke. Mein Vermieter lebt ebenfalls hier. Er ist rund um die Uhr zu Hause, in einem Nebenraum voller Pflanzen.

In den ersten Wochen habe ich weder Routinen noch Freundinnen oder Freunde. Ich bemühe mich, meine Tage sinnvoll zu gestalten, und frage mich, ob es richtig war, hierher zu kommen. Ich versuche, das Unerwartete zuzulassen, Platz zu machen für etwas Magisches. Ich lese Bücher über die Geschichte der Stadt. Laufe viele Kilometer mit einer fremden Sprache um mich herum, probiere an Imbissbuden neues Essen aus, beobachte Leute. Im Alltag hier herrscht eine entspannte, lockere Atmosphäre, die so gar nicht zu den Stereotypen von deutscher Pünktlichkeit, Disziplin und Ordnung passt. Die Stadt bietet viele öffentliche Räume – Parks, Bürgersteige, Plätze, Flussufer –, wo man sich aufhalten kann, ohne etwas kaufen zu müssen. Ein guter Ort für unterbeschäftigte Leute.

Oft ist diese Freiheit – dieser Mangel an Verantwortung, diese Leichtigkeit – ein Plus. Ich kann mich um mich selbst kümmern, egoistisch und spontan sein. Aber, ach, wie oft sorge ich mich auch, dass die Einsamkeit überhandgenommen hat, wenn mein Tag lang war und meine Lippen wie Klebstoff schmecken, wenn ich ewig nichts gesagt habe und ich mir nicht sicher bin, ob es mich überhaupt gibt, und ich nach irgendetwas oder irgendjemandem suche, das oder der mir Halt gibt.

Wir sind weit weg vom Meer: Die Fahrräder rosten hier nicht. Ich bin stumm und gereizt.

Ich fange an, Fremde zu treffen, mit denen ich durch gemeinsame Freundinnen und Freunde in Kontakt gebracht wurde.

B, eine Britin, studiert hier für ihren Master und profitiert von der Tatsache, dass es in Deutschland keine Studiengebühren gibt. Wie eine ganze Reihe ihrer Freunde arbeitet sie stundenweise bei einer Hotline, die verlorengegangene Essensbestellungen ausfindig macht. Sie ist eine Pizzadetektivin.

B, eine Amerikanerin, arbeitet als Kindermädchen und lernt von den Kindern Deutsch.

B lebt in einem großen marxistischen Wohnprojekt, in dem jede Woche eine Versammlung abgehalten und über Brot und Putzen diskutiert wird.

B kam hierher, um DJ zu werden, hat letzthin aber weniger Zeit in Clubs verbracht als beim Lernen für die Ausbildung zum Life Coach.

Ich rufe B an, als ich in die Nähe eines Cafés komme, von dem er gesprochen hat. Er ist nicht dort, antwortet aber freundlich und schlägt vor, sich bald mit mir zu treffen. Als ich das Gespräch beende, bin ich selbst überrascht, dass ich weinen muss. Ich habe mich locker gegeben, aber es bedeutet mir viel. Es ist nicht leicht, um neue Freundschaften zu bitten. Eine angenommene Einladung oder ein einziger Nachmittag können Herzen und Schicksale verändern – meistens allerdings bleibt alles beim Alten. Mein Magen rumort. Ich bin so offen, und meine Hoffnungen hängen schon so lange in der Luft, dass ich nicht weiß, wie lange ich das noch durchhalte.

Ich entdecke einen guten Falafelladen, von dem aus ich zusehen kann, wie die Oranienstraße von der Sonne in orangefarbenes Licht getaucht wird. Ich spüre den nahenden Winter. Am Ende der Straße, auf der anderen Seite der Kreuzung, herrscht reges Treiben vor einer Moschee. Die U1 fährt vorbei und weht die Asche aus den Aschenbechern. Ich schaue den Punkern unter der Brücke zu.

Eine merkwürdige Frau geht vorüber. Ich habe sie schon einige Male gesehen. Sie hat sich Stoffrollen umgebunden und ist regelrecht gepolstert.

Ich checke meine Weltraum-Updates. Eine Raumsonde der NASA hat heute nach neunjähriger Reise zum ersten Mal Pluto erreicht. Sie hat mehr als sieben Milliarden Kilometer zurückgelegt. Die im Vorbeiflug gemachten Bilder und Informationen könnten dafür sorgen, dass Pluto wieder zum Planeten erklärt wird. Es beruhigt mich, die Namen der Pluto-Monde zu lesen: Charon, Styx, Nix, Kerberos und Hydra. Unser Sonnensystem funktioniert weiter, die Himmelsdynamik, mit ihren riesigen Maßstäben von Zeit und Entfernung, hält uns alle sicher an Ort und Stelle.

In einem Rock aus Netzstoff und mit einer roten Wildledertasche unternehme ich lange Spaziergänge durch Neukölln, Kreuzberg und Berlin Mitte. Jede neunte Unterhaltung, die mir zu Ohren kommt, findet auf Englisch statt.

Ich komme zu einem Nachtclub, der merkwürdigerweise am Nachmittag geöffnet hat. Ich gehe hinein, niemand hält mich auf, und tanze kurz unter der Diskokugel.

Ich melde mich beim örtlichen Einwohnermeldeamt an und bekomme den Meldeschein, der es mir gestattet zu arbeiten. Als ich erkläre, dass ich Britin bin und aus der EU komme, ist das überhaupt kein Problem.

Ich besuche ein englischsprachiges AA-Treffen voller amerikanischer Geschäftsleute. Einige ihrer ultimativen »Abstürze« klingen nicht schlimmer als eine ganz normale Ausgehnacht in einer britischen Stadt. Ich dachte, ich könnte hier vielleicht neue Freundschaften knüpfen, aber einige dieser Leute kommen mir merkwürdig vor. Sie besuchen fünf Treffen die Woche und sprechen von bestimmten Gastrednerinnen und -rednern, als wären es Popstars.

Auch wenn ich sie bisher erst einmal gesehen habe, träume ich oft von Walen.

Ich erhalte eine Einladung zu einem Konzert in der Musikschule. Ich verspäte mich und setzte mich auf die Treppenstufen, kann die Musik aber nicht wirklich hören oder in mich aufnehmen, deshalb gehe ich vorzeitig. Niemand hat mitbekommen, dass ich dort war. Genau so fühle ich mich oft in dieser Stadt: unverbunden, überflüssig, gewichtslos.

Auf dem Nachhauseweg sitzen in meinem U-Bahnabteil ein Mann mit einem Hut aus Waschbärfell, ein stylisher Typ aus der Gothic-Szene des Berghain mit kurzgeschorenen blonden Haaren,...

Erscheint lt. Verlag 30.5.2024
Übersetzer Bettina Münch
Sprache deutsch
Original-Titel The Instant
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2024 • Berghain • Berlin • Biografie • Biographien • eBooks • Neuerscheinung • Online Dating • Schottland • the outrun • urban ecology
ISBN-10 3-641-29862-8 / 3641298628
ISBN-13 978-3-641-29862-3 / 9783641298623
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