Zeit der Geister (eBook)
368 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01834-1 (ISBN)
Saraaya, eine Stadt im umkämpften Zentrum des Sudans. Hier finden William und Layla zueinander – eine Liebe, die nicht sein darf, da sie aus verfeindeten Volksgruppen stammen. Doch das Grundstück der NGO, wo die beiden arbeiten, ist Freiraum und Schnittstelle verschiedener Welten.
Hier lebt auch die Amerikanerin Dena, deren Eltern einst aus dem Sudan flohen, sie will ein Filmprojekt realisieren. Und Alex, ein Kartograf aus Cleveland, der sowohl an der geheimnisvollen Dena als auch am verwirrenden Schwemmland der Region verzweifelt, das sich allen westlichen Maßstäben entzieht.
Dann erschüttert eine Leiche vor dem Tor der NGO das fragile Zusammenleben. Wer ist der Tote? Was hat es mit den näher kommenden Rebellen auf sich? Als wenig später Flüchtlinge bei der Organisation Schutz vor dem ausbrechenden Bürgerkrieg suchen und Waffen auf dem Gelände gefunden werden, droht die Lage zu eskalieren...
Fatin Abbas, geboren 1981 in Khartum, stammt aus dem Sudan. Ihr Vater wurde dort politisch verfolgt, und die Familie floh 1990 in die USA. Abbas verlebte ihre Jugend in New York City, sie studierte Literaturwissenschaften in Cambridge, Harvard und bei Colum McCann. Essays und Reportagen veröffentlichte sie u.a. in «The Nation», «Le Monde diplomatique» und «Die Zeit», Kurzprosa in den Magazinen «Granta» und «Freeman’s». Sie unterrichtete «Fiction Writing» am MIT und am Pratt Institute in New York sowie Vergleichende Literaturwissenschaften am Bard College Berlin. Über «Zeit der Geister», ihren ersten Roman, sagt Dave Eggers: «Absolut faszinierend … ein extrem wichtiger Roman.» Fatin Abbas lebt in Berlin.
Bernhard Robben, geb. 1955, lebt in Brunne/Brandenburg und übersetzt aus dem Englischen, u. a. Salman Rushdie, Peter Carey, Ian McEwan, Patricia Highsmith und Philip Roth. 2003 wurde er mit dem Übersetzerpreis der Stiftung Kunst und Kultur des Landes NRW ausgezeichnet, 2013 mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis für sein Lebenswerk geehrt.
Ein Schlüsselroman über Afrika. «Zeit der Geister» handelt vom Schicksal eines Kontinents – und vom Scheitern des Westens.
Eine aufregende internationale Berliner Autorin, die für die neue Weltliteratur steht: Fatin Abbas erzählt meisterhaft von unserer globalisierten Welt und erklärt sie ganz neu.
Ob im Sudan, in Niger, in der Sahelzone: der Westen und die Demokratie gegen immer neu aufbrechende Gewalt – ein Roman so brennend aktuell wie zeitlos.
Der vielleicht beste Roman über Afrika in jüngerer Zeit. Auf gespenstische Weise hat Fatin Abbas die aktuellen Konflikte im Sudan vorweggenommen.
Fatin Abas erzählt fesselnd, vielschichtig, bewegend: Die Charaktere sind ungemein realistisch, jeder sympathisch auf seine oder ihre Weise.
»Überwältigende Präsenz, charakterliche Tiefe und dramatische Fallhöhe.« Badische Zeitung
»Tief bewegend und mutig.« New York Times
»Absolut faszinierend, brillant … ein extrem wichtiger Roman.« Dave Eggers
»Der Roman bildet die zyklische Natur von Gewalt ab, und zeigt, wie das Leben trotz aller Zerstörung weitergeht; ein tief bewegendes und mutiges Debüt.« The New York Times
II
Die letzten zwei Wochen verschmolzen für Alex im Rückblick zu einem einzigen endlosen Tag in Wartezimmern, die sich nur in Details unterschieden, je nachdem, in welchem Büro – Polizei, Militär, Security – sie am jeweiligen Nachmittag gerade festsaßen. Heute waren die Wände blau, nicht mintgrün. Statt in der Kaserne hockte er mit William im Büro der Security. Allerdings stand hier das gleiche überdimensionierte Wartesaalmobiliar, das aussah, als könnte es jeden Moment aus den Nähten platzen und ihn mit seiner Schaumstofffüllung überfluten. An der Wand über den Sesseln hing der obligatorische Koranvers mit kitschig glitzerndem Goldrand auf schwarzem Hintergrund. Der ächzende Ventilator vervollständigte das Bild, ebenso das synthetische Rascheln der Plastikpflanze in der Ecke.
Vor Saraaya hatte er in Khartum bereits einen Monat lang das Labyrinth der Bürokratie durchlaufen. Vom Büro der Organisation zum Ministerium für Humanitäre Angelegenheiten. Von dort zur amerikanischen Botschaft. Zurück zum Büro. Wieder ins Ministerium. Fingerabdrücke. Passbilder. Darstellung des Projekts. Der Finanzmittel. Visaanträge. Hier liebte man Visa. Man brauchte nicht nur ein Visum, um ins Land zu kommen, sondern auch eines, um es verlassen zu können. Er brauchte sogar ein Permit, um innerhalb des Landes reisen zu dürfen – von Khartum nach Saraaya.
Zwei Wochen lang war er William von Büro zu Büro gefolgt. In Khartum hatte er die Arbeitserlaubnis erhalten. Bei seiner Ankunft aber stellte er fest, dass er noch von den örtlichen Behörden in Saraaya überprüft werden musste.
Er wandte sich William zu, der auf dem Stuhl nebenan die Ellbogen aufstützte, das Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger, die fast bis in die Zimmermitte ragenden Beine überkreuzt. William starrte die Plastikpflanze an, ein Lächeln umspielte seine Lippen. Während der letzten Tage hatte sich seine Stimmung geändert. Anfälle manischer Energie wechselten sich ab mit Zuständen stiller, verträumter Verlorenheit wie jenem, dem er jetzt gerade verfallen war und in denen er minutenlang reglos herumstand oder nur dasaß, verloren in irgendwelchen rätselhaften Tagträumereien. Alex wunderte das. Er war der Einzige, der sich wegen der Leiche noch Gedanken machte. Dena ging wie gewohnt ihrer Arbeit nach. William schien glücklicher geworden zu sein, seit der Leichnam aufgetaucht war. Alex konnte sich keinen Reim darauf machen.
Er tippte ihm auf die Schulter.
«Wie lange müssen wir noch warten?»
Aus seinem Tagtraum aufgeschreckt sah William ihn an. «Keine Ahnung. Bis man uns ruft.»
«Und wenn man uns ruft, was passiert dann?»
«Man prüft unsere Papiere. Falls alles in Ordnung ist, stempelt die Security sie heute noch ab und erteilt damit ihre Genehmigung.»
«Und dann? Kann ich dann anfangen?»
«Nein, dann müssen wir mit der abgestempelten Genehmigung zum Distriktbüro.»
«Und was passiert da?»
«Die stempeln sie auch ab. Nachdem man ein Gespräch mit dir geführt hat.»
«Und das war’s dann?»
«Nein. Dann wird die Genehmigung zurück nach Khartum gefaxt, und wir warten darauf, dass das Ministerium die Papiere gegenzeichnet. Erst dann kannst du anfangen.»
Alex umklammerte die Armlehnen des Sessels und stieß mit geblähten Wangen einen Seufzer aus. Greg, sein Boss in Khartum, setzte ihm mit Anrufen auf dem Satellitentelefon zu. Geld des Außenministeriums für Hilfsprojekte im Distrikt – insgesamt zwei Millionen Dollar – hingen von dieser Landkarte ab, und von Alex erwartete man in sechs Monaten Ergebnisse, also bis Mitte Juni.
«Ich brauche noch die Genehmigung», hatte Alex am Satellitentelefon über das Echo seiner eigenen Stimme hinweg erklärt.
«Was denn für eine Genehmigung?», erwiderte Greg. «Die hast du doch schon in Khartum erhalten.»
«Die Erlaubnis der örtlichen Behörden ist zusätzlich nötig.»
«Du bist doch jetzt schon seit Wochen in Saraaya. Wir sind auf dieses Geld angewiesen, Alex. Sieh zu, dass du endlich anfangen kannst.»
Alex begann, die freundschaftlichen Gefühle für seinen Boss zu hinterfragen, einem stämmigen Amerikaner, der sich in der Zeit, die Alex mit ihm verbracht hatte, ständig darüber beklagte, wie grässlich Khartum sei. Vor allem im Vergleich mit Kinshasa, wo er zuvor zwei Jahre stationiert gewesen war, ehe er in dieses staubige Nichts der sudanesischen Hauptstadt versetzt wurde, die eher einem großen verschlafenen Dorf als einer Stadt glich. In Kinshasa konnte man sich besaufen. Man konnte Partys feiern. Man konnte vögeln, problemlos und überall. In Khartum wanderte man ins Gefängnis, wenn man auch nur mit einer Flasche Bier in der Hand erwischt wurde. Alkohol musste über die Botschaften ins Land geschmuggelt werden, eingewickelt in Handtüchern oder Hemden, versteckt in Diplomatenkoffern – die am Flughafen nicht durchsucht werden durften –, um ihn dann heimlich unter den Amerikanern und Europäern zu verteilen, die nach einem Tropfen Jack Daniel’s lechzten, einem Merlot oder Budweiser in dieser Stadt mitten in der Wüste. Wie Alex schon bald nach seiner Ankunft in Khartum erfuhr, vertrieb Greg sich seine Zeit vorzugsweise damit, Alkohol aufzuspüren, ob bei einem Empfang in der dänischen Botschaft, einer UN-Versammlung oder im besonders bewachten American Club am Nil.
Die langen Wartezeiten hatten immerhin den Vorteil, dass William Alex über vieles aufklären konnte. Über die Stadt. Den Krieg. Bei seiner Ankunft hatte Alex nur ein sehr ungefähres Bild von der Lage gehabt. Auf der einen Seite die Rebellen im Süden, auf der anderen das Regime im Norden. Seit der Unabhängigkeit im Jahr 1956 hatte in diesem Land immer auf irgendeine Weise Krieg geherrscht. Der Süden wollte Entwicklung, Bildung, ein Gesundheitswesen, eine paritätisch besetzte Regierung. Der Norden wollte, dass der Süden arm blieb, ungebildet, während man selbst das Öl förderte. Saraaya lag in der Landesmitte, im Zentrum der Ölfelder. Die Bevölkerung gemischt: im Süden Niloten und im Norden Nomaden, die hier die Hälfte des Jahres ihr Vieh weideten. Wer Saraaya kontrollierte, der kontrollierte auch das Öl. Zurzeit war das die Regierung. William erklärte ihm, wie es vor Ort zuging, wer in der Stadt das Sagen hatte.
«Die Polizei, die macht nur auf wichtig, ist es aber nicht», erzählte er Alex. «Im Auge behalten musst du die Leute der Security. Die geben hier den Ton an, sind jedoch schwer zu erkennen, weil sie Zivil tragen, aber keine Sorge, das lernst du schon noch, die führen sich nämlich auf, als würde ihnen die Stadt gehören.»
«Und die Rebellen?»
«Die bekommst du nie zu Gesicht. Sie leben im Busch. Dahin verschwinden auch die jungen Niloten, wenn sie sich denen anschließen wollen.»
An seinem ersten Tag in Saraaya war Alex, kaum aus den Reisekleidern, von William zu einem Treffen mit Ahmed geführt worden, dem stellvertretenden Leiter der Security. Ein halb verhungert aussehender Mann, dürr wie eine Bohnenstange. Weißes kurzärmeliges Hemd, schwarze Hose, schwarze Lederschuhe. Schmale Lippen, die mehr verrieten als seine Augen. Nach unten gebogen – Verachtung. Straff gespannt – Bedrohung. Gefletschte Zähne – amüsiert.
Der zweite Deputy war ebenfalls anwesend. So fett wie Ahmed hager war. Beine dick wie Baumstämme. Hochgerutschte Kakishorts. Hemd überm Bauch gespannt. Lagen die fülligen Arme an seinem Oberleib an, standen die Ellbogen seitwärts ab. Steinaugen verloren im drallen Gesicht. Immer einen Schritt hinter Ahmed – wie eine Warnung.
Dann eine Abfolge anonymer Angehöriger der Security. William stupste ihn an, sooft er einen von ihnen in der Stadt sah. Meist jung, bestens angezogen: schöne Schuhe, gut sitzende Kleider. Führten sich auf wie Stadtmenschen. Keine sonnenverbrannte Haut wie bei den Nomaden, Goldschimmer im Haar, auf der Stirn vorzeitige Falten von der Sonne, nein, eher die Gesichter von Männern, die viel Zeit in dunklen Räumen und Büros verbrachten. Man sah sie bei den Teefrauen sitzen, in der Moschee, beim Friseur. An Orten, an denen man den neusten Klatsch aufschnappen konnte.
Außerdem war da noch die Miliz. «Die inoffizielle Armee der Regierung», sagte William. «Als es vor fünfzehn Jahren zum ersten Mal zu kriegerischen Auseinandersetzungen kam, waren es ihre Soldaten, auf deren Konto die Morde und Plünderungen gingen. Die sich mit allem aus dem Staub gemacht haben, was sie in die Finger bekamen.» Sie seien ganz gewöhnliche Nomaden, erklärte William, zogen mit ihrem Vieh über die Steppe, schlürften in Friedenszeiten Tee mit den Niloten, tauschten Nettigkeiten aus und ließen hin und wieder sogar zu, dass ihre Töchter deren Söhne heirateten, doch kaum begann der Krieg, holten sie ihre AK-47 heraus. Es wurde geplündert, Vieh gestohlen, Dörfer wurden verbrannt. Ihre Befehle erhielten sie von Hilal, dem Sohn eines berühmten Nomadenanführers. William zeigte ihn Alex auf dem Markt. Hoher Turban, unter dem hinten ein dünner Pferdeschwanz hervorlugte, den er sich einmal ums Kinn wickelte – der Rahmen für ein ansehnliches Gesicht. Helle Augen, lange Wimpern, flachwinklige Wangenknochen. Ein solider, bergig aufragender Nasenknubbel. Darunter ein blitzender Schnauzbart; dünne, dunkle Lippen, die Dschallabija wehte hinter ihm im Wind. Zu seiner Überraschung bemerkte Alex, dass Hilal sich die Augen mit Kajal geschminkt hatte.
«Wie der Prophet», sagte William. «Zumindest hat man es so überliefert. Hilal aber ist eitel wie ein Papagei.»
«Wie ein Pfau», korrigierte ihn...
Erscheint lt. Verlag | 13.2.2024 |
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Übersetzer | Bernhard Robben |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
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ISBN-10 | 3-644-01834-0 / 3644018340 |
ISBN-13 | 978-3-644-01834-1 / 9783644018341 |
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