O Brother (eBook)

Der Top-10-Bestseller aus UK. John Nivens persönlichstes Buch.

(Autor)

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2024 | 1. Auflage
400 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-30601-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

O Brother -  John Niven
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Wie konnte es so weit kommen? John Niven versucht den Selbstmord seines Bruders zu ergründen - eine literarische Spurensuche, die einem den Atem nimmt
John Nivens persönliche literarische Memoiren erzählen die Geschichte der Brüder Gary und John. Während John sich aus der schottischen Provinz herausarbeitet und eine akademische Laufbahn einschlägt, in Bands spielt, einen gutdotierten Job bei einer angesagten Plattenfirma findet und dann erfolgreicher Romanautor wird, driftet Gary nach dem Abbruch der Schule zusehends ab, verliert den Halt, wird drogenabhängig und begeht 2010 im Alter von zweiundvierzig Jahren Selbstmord. Fortan lebt John mit der quälenden Frage, warum er seinem Bruder nicht hat helfen können, warum er ihn nicht retten konnte und wie es letztlich zu der Tragödie kam. Er begibt sich auf Spurensuche, zeichnet die Lebenswege der beiden so ungleichen Brüder nach, die einst von der gleichen Startposition aus ins Leben sprangen. Heraus kommt eine eindrucksvolle, herzergreifende, sehr ehrliche Lebensbeichte und Liebeserklärung an das Leben und einen Bruder, der diesem Leben nicht gewachsen war.

John Niven, geboren 1966 in Schottland, spielte in den 80er-Jahren Gitarre bei der Indieband »The Wishing Stones« und arbeitete nach dem Studium der Literatur als A&R-Manager einer Plattenfirma, bevor er sich 2002 dem Schreiben zuwandte. 2006 erschien sein erstes Buch »Music from Big Pink«. 2008 landete er mit dem Roman »Kill Your Friends« einen internationalen Bestseller, der auch fürs Kino verfilmt wurde. Es folgten zahlreiche weitere Romane, darunter Kultklassiker wie »Coma« oder »Gott bewahre«. Neben Romanen schreibt John Niven Drehbücher. Er wohnt in der Nähe von London.

Dienstag, 31. August 2010


Um kurz nach sieben Uhr erreicht mich der Anruf. Ein Anruf, mit dem ich im Grunde zeit meines Lebens gerechnet habe. Zumindest seit ich erwachsen bin. Als ich in die Küche komme, streckt mir meine damalige Frau Helen das Telefon entgegen. Auf dem Arm hält sie unsere zweijährige Tochter Lila. Hinter ihr reflektiert der große Edelstahl-Kühlschrank die Spätsommersonne, durch die Fenster fällt das Licht auf die salbeigrüne Tapete.

»Mum ist dran«, sagt Helen. »Es geht um deinen Bruder …« Sie reicht mir den Hörer mit diesem merkwürdig prüfenden Blick, der gewöhnlich den Empfängern sehr schlechter Nachrichten vorbehalten und der Angst vor meiner Reaktion geschuldet ist. Im Stillen spreche ich jene Worte, die mir über die Jahre fast zur Gewohnheit geworden sind. Worte, die ich auch meine Eltern oft sagen hörte.

Ach, Gary, was hast du nun schon wieder angestellt?

»Sheila, hallo, was ist los?«

Mein Verhältnis zu Helens Mutter ist sehr gut. Wir haben fast vier Jahre bei ihr gewohnt, während ich an meinen ersten beiden Romanen Music from Big Pink und Kill Your Friends schrieb.

»John, hör zu …« Sheila ist Ärztin im Ruhestand. Obwohl hörbar aufgewühlt und nervös, bleibt sie sachlich und professionell. Mein Handy war wohl ausgeschaltet, weshalb meine Mutter, der auf die Schnelle keine andere Festnetznummer einfiel, kurzerhand bei ihr angerufen hat. Sheila erzählt mir, dass mein Bruder auf der Intensivstation des örtlichen Krankenhauses liegt. Meine Mum sei bereits vor Ort, und ich solle umgehend dort anrufen. Sheila gibt mir die Durchwahl der Station, wo ich erfahre, dass Gary in den frühen Morgenstunden versucht hat, sich zu erhängen. Er lebt, wurde aber in ein künstliches Koma versetzt. Die Stationsleitung kann meine Mum nicht finden, weiß jedoch zu berichten, dass meine jüngere Schwester Linda ebenfalls informiert wurde und sich bereits auf dem Weg von Glasgow nach Ayrshire befindet. Mein Blick wandert durch die gläserne Küchentür zu meinem Büro am anderen Ende des Gartens, wo meine Arbeit auf mich wartet, und dabei denke ich so etwas wie: Jetzt ist es so weit. Oder: Das musste ja so kommen.

Ich buche einen Flug, packe eine Tasche und reserviere einen Mietwagen. Dann gebe ich Helen und Lila einen Abschiedskuss und fahre mit dem Taxi nach Heathrow. Es ist der letzte Augusttag, und der Himmel erstrahlt in diesem leuchtenden Blau, bei dem New Yorker manchmal von 9/11-Wetter sprechen. Gegen vierzehn Uhr komme ich im Ayrshire District General Hospital an. Das Krankenhaus liegt in Crosshouse, ganz in der Nähe von Kilmarnock. Bei seiner Eröffnung im Jahr 1984 bereitete ich mich gerade auf meinen Schulabschluss vor. Einer meiner Freunde wurde nach einem schweren Autounfall hier behandelt. Und mein Vater, nachdem er seinen ersten Herzinfarkt erlitten hatte. In diesem Krankenhaus habe ich Onkel und Tanten an Krebs sterben sehen. Die Einheimischen und das Personal nennen es schlicht »Crosshouse« oder »NADGE«.

Durch dieselben weiß gestrichenen Gänge laufe ich nun zur Intensivstation, vor der meine Mutter und meine Schwester im Wartebereich sitzen. Mum wirkt verhärmt, beinahe wie ausgewrungen und viel älter als ihre siebenundsechzig Jahre. Schluchzend fällt sie mir in die Arme. Meine kleine Schwester Linda – dank ihrer offenherzigen und kontaktfreudigen Art das mit Abstand unkomplizierteste der drei Niven-Kinder – hat bereits einen guten Draht zu den Pflegekräften hergestellt. Linda ist siebenunddreißig, glücklich verheiratet und ebenfalls Mutter einer kleinen Tochter. Wir beide standen uns schon immer sehr nahe. Aufgrund des Altersunterschieds von sieben Jahren kam es zwischen uns nie zu Rivalitäten und Reibungen, wie sie unter gleichaltrigen Geschwistern an der Tagesordnung sind.

»Was ist passiert?«, frage ich.

Passiert war Folgendes:

In den frühen Morgenstunden um dreizehn Minuten nach vier – zu dieser Jahreszeit in Schottland die dunkelste Stunde der Nacht – hatte Gary die 999 angerufen und erklärt, er sei depressiv und habe versucht, sich umzubringen. Alles dokumentiert in der Mitschrift seines Notrufs, auf die ich allerdings erst sehr viel später Zugriff bekommen sollte, nachdem mein dritter Antrag auf Einsicht endlich von Erfolg gekrönt war.

Vierzehn Minuten nach Garys Anruf traf der Rettungswagen ein. Dessen zwei Besatzungsmitglieder verbrachten ungefähr eine Viertelstunde in seiner Wohnung, bevor mein Bruder schließlich einwilligte, mit ihnen nach Crosshouse zu kommen – eine Fahrt von zehn Minuten. Vor meinem inneren Auge sehe ich ihn im Rettungswagen: Bei klarem Verstand und vollem Bewusstsein – die Verletzungen an seinen Armen waren nur »oberflächlich« – plaudert er mit den Sanitätern.

Es muss kurz vor fünf gewesen sein, als sie durchs ländliche Ayrshire nach Osten fuhren, rechts der Straße funkelte der Firth of Clyde vermutlich bereits im Licht der aufgehenden Sonne. Der neue Tag versprach genauso schön zu werden wie der vorige. Ob Gary das registrierte? Im Krankenhaus behandelte die diensthabende Schwester die Schnitte an seinen Unterarmen. Er erzählte ihr von seinem Clusterkopfschmerz – eine seltene neurologische Erkrankung, unter der rund 0,1 Prozent der Bevölkerung leiden – und davon, dass er in letzter Zeit einige heftige Schübe gehabt habe. Um die Schmerzen zu lindern, musste er während dieser Attacken reinen Sauerstoff inhalieren. Auch auf der Fahrt ins Krankenhaus hatte er einen Schub erlitten und war von den Sanitätern beatmet worden. In Crosshouse sah man allerdings keinen dringenden Handlungsbedarf. Die Tür seines Zimmers blieb zwar offen, um ihn im Auge behalten zu können, doch irgendwann, noch während er auf einen Arzt wartete, gelang es ihm, sie zu schließen und sich mit Hilfe seines Pullovers am Türrahmen aufzuhängen. Gary war nicht sofort tot, aber sein Gehirn blieb »eine geraume Zeit« ohne Sauerstoffversorgung. Deshalb hatte man ihn für vierundzwanzig Stunden in ein künstliches Koma versetzt. Das ist die Standardprozedur bei einem Hirntrauma, wie es durch den gescheiterten Versuch, sich zu erhängen, verursacht wird – so erklärt man es uns zumindest.

Nach einer Weile erscheinen ein Arzt und eine Mitarbeiterin der Krankenhausverwaltung, um uns zu Gary zu führen. Ihre Nervosität, eine elektrisch knisternde Anspannung, ist deutlich spürbar. Kaum verwunderlich angesichts des Umstands, dass mein Bruder in ihrer Obhut einen Suizidversuch unternommen hat.

Als wir die Intensivstation betreten, liegt er vor uns: mit nacktem Oberkörper, intubiert. Im fahlblauen Licht einer Phalanx von Monitoren hebt und senkt sich sein Brustkorb zum rhythmischen Brummen und mechanischen Zischen des Beatmungsgeräts. Gary war immer schon schlank, jetzt wirkt er schmerzhaft dünn, seine Wangen und Schläfen sind hohl und eingefallen, sein Gesicht gerötet. Auf der Stirn glänzt ein dünner Schweißfilm. Er hat sich seit Tagen nicht rasiert. Aber er sieht friedlich aus, als würde er schlafen. Erst als mein Blick an ihm herabwandert, offenbart sich die wahre Geschichte. Die roten Striemen des Würgemals um seinen Hals. Die Bandagen um beide Unterarme. Sie verbergen das Gitterwerk der Schnitte, die er sich an diesem Morgen zugefügt hat. Die verschorften Wunden auf seinen zerschrammten Knöcheln sind kein ungewöhnlicher Anblick. Meistens verdankte er sie seiner Arbeit als Tischler oder dem Zorn, der immerzu in ihm brodelte und – wenn er überkochte – Wände, Garderoben oder Türen in Mitleidenschaft zog. Die Schrammen erinnern mich an den Weihnachtsmorgen 1993, das erste Weihnachtsfest nach Dads Tod. Wutentbrannt und in Tränen aufgelöst, schlug Gary auf die Holzwand der Garage neben unserem Elternhaus ein, bis das spröde, vom Teeröl schwarze Holz unter seinen Fäusten splitterte.

Auf der Intensivstation informiert uns der Arzt über Garys Wert auf der Glasgow-Skala. Drei Punkte, das sei gar nicht gut. Doch wenn es mit Hilfe des künstlichen Komas gelingen sollte, den Grad der zerebralen Durchblutung zu verringern, dann – so der Mediziner – wäre es unter Umständen möglich, dass sich die Blutgefäße wieder verengten, der intrakraniale Druck nachließe und das Trauma abklänge.

Mum starrt den Arzt an wie ein kleines Kind, dem man die Quantenphysik zu erklären versucht. Sie zieht einen Stuhl ans Bett ihres Sohnes und beginnt mit der Krankenwache. Gary wird das überstehen. Er wird leben. Punkt. Es mag absurd klingen, aber ich verspüre den starken Drang, laut aufzulachen. Denn die Glasgow-Skala und das Thema Koma sind mir nicht fremd. Dass mein Bruder im Koma liegt, und zwar ausgerechnet in diesem Krankenhaus, ist ein perfektes Beispiel für Oscar Wildes These, das Leben würde die Kunst weitaus mehr imitieren als die Kunst das Leben.

Ein Jahr zuvor, im Sommer 2009, wurde mein dritter Roman veröffentlicht, im Original unter dem Titel The Amateurs, auf Deutsch heißt er tatsächlich Coma. Ein Buch über Golf, Gangster und Untreue, angesiedelt in einer Kleinstadt in Ayrshire. Es erzählt die Geschichte zweier Brüder: Gary und Lee Irvine. Gary ist ein hoffnungslos dilettantischer Golfer und Lee ein hoffnungslos dilettantischer Gangster. Gary Irvine, der mit Nachnamen wie das Städtchen heißt, in dem wir aufgewachsen sind, und mit Vornamen wie mein Bruder, wird von einem Golfball am Kopf getroffen und fällt ins Koma. Als er Wochen später erwacht, beherrscht er zu seiner Überraschung den perfekten Golfschwung. Die Nebeneffekte sind weniger erfreulich: Tourette-Syndrom und chronischer Priapismus. Während der...

Erscheint lt. Verlag 13.3.2024
Übersetzer Stephan Glietsch
Sprache deutsch
Original-Titel O Brother
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte 2024 • Autobiografie • Bestsellerautor • Bruder • Bruderliebe • Coming-of-age • Coming of Age • Drogen • eBooks • Familiengeschichte • Kill Your Friends • Lebenswege • London • Memoir • Neuerscheinung • Schottland • Schuld • Selbstmord • Suizid • The Clash • Trauer
ISBN-10 3-641-30601-9 / 3641306019
ISBN-13 978-3-641-30601-4 / 9783641306014
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