Vierundsiebzig (eBook)
512 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01689-7 (ISBN)
Ronya Othmann, als Tochter einer deutschen Mutter und eines kurdisch-êzîdischen Vaters 1993 in München geboren, schreibt Lyrik, Prosa und Essays und arbeitet als Journalistin. Für ihr Schreiben wurde sie viele Male ausgezeichnet, u.a. mit dem Lyrik-Preis des Open Mike, dem MDR-Literaturpreis und dem Caroline-Schlegel-Förderpreis für Essayistik. Für Die Sommer, ihren ersten Roman, bekam sie 2020 den Mara-Cassens-Preis zugesprochen, für den Lyrikband die verbrechen (2021) den Orphil-Debütpreis, den Förderpreis des Horst-Bienek-Preises und den Horst Bingel-Preis 2022. Vierundsiebzig, ihr zweiter Roman, wurde für den Deutschen Buchpreis nominiert und mit dem Düsseldorfer Literaturpreis 2024 sowie dem Erich-Loest-Preis 2025 ausgezeichnet .
Ronya Othmann, als Tochter einer deutschen Mutter und eines kurdisch-êzîdischen Vaters 1993 in München geboren, schreibt Lyrik, Prosa und Essays und arbeitet als Journalistin. Für ihr Schreiben wurde sie viele Male ausgezeichnet, u.a. mit dem Lyrik-Preis des Open Mike, dem MDR-Literaturpreis und dem Caroline-Schlegel-Förderpreis für Essayistik. Für Die Sommer, ihren ersten Roman, bekam sie 2020 den Mara-Cassens-Preis zugesprochen, für den Lyrikband die verbrechen (2021) den Orphil-Debütpreis, den Förderpreis des Horst-Bienek-Preises und den Horst Bingel-Preis 2022. Vierundsiebzig, ihr zweiter Roman, wurde für den Deutschen Buchpreis nominiert und mit dem Düsseldorfer Literaturpreis 2024 sowie dem Erich-Loest-Preis 2025 ausgezeichnet .
Im Juni 2018 sitze ich im Flugzeug und kaue Kaugummi gegen den Druck in den Ohren und gegen meine Nervosität. Das Flugzeug ist schon im Sinkflug. Ich sehe aus dem Fenster und sehe ockerfarbene Erde, Häuser mit flachen Dächern, Straßen. Ich mache ein Foto.
Was ich im Irak will, fragt der Mann, der vier Stunden schweigend neben mir gesessen hat und sich nun vorstellt mit einem typisch amerikanischen Namen, den ich gleich wieder vergesse. Thomas, Michael oder vielleicht Marc. Was ich bloß in diesem Land wolle, fragt er mich.
Familie besuchen, sage ich und habe keine Lust, mich mit ihm zu unterhalten. Ich hätte auch nicht gewusst, was ich sagen soll. Nicht einmal mir selbst könnte ich es erklären. Warum ich in den Irak reise, alleine, warum ich Flüge gebucht habe zu Leuten, die ich das letzte Mal gesehen habe, als ich drei Jahre alt war.
Keine Sorge, Onkel Khalef ist Familie, hat mein Vater gesagt. Und was Familie bei uns ist, das will ich Marc auch nicht erklären.
Als Nicht-Muslimin und als Frau, ob ich denn keine Angst hätte, alleine in den Irak?, fragt Marc. Dieses Land sei doch insane.
Fast bereue ich, ihm nicht erzählt zu haben, ich sei Journalistin.
Marc arbeitet für das US-Militär. Das sagt er zumindest. Er will mir nicht verraten, was seine Aufgabe dort ist. Er sagt, er dürfe nicht darüber sprechen, es sei streng geheim.
Und ich denke, vielleicht ist sein Job gar nicht so aufregend, und er will mich nur beeindrucken. Jedenfalls will Marc so schnell wie möglich wieder aus dem Land. Die Arbeit machen und abhauen, sagt er. Und er zeigt mir Fotos auf seinem Handy, von seinen Hunden, Waffen, seinem Auto.
Ich nicke und sehe wieder aus dem Fenster. Die ockerfarbenen Felder, Straßen und Häuser sind jetzt deutlich zu erkennen. Ich sehe den Schatten der Wolken auf der Erde. Ich fotografiere aus dem Fenster. Dann setzt das Flugzeug auf der Landebahn auf, rollt, rollt und rollt, bis es stehen bleibt.
Später schreibe ich: Als ich aus dem Flugzeug steige, die Treppe hinunter zum Bus, schlägt mir heiße Luft entgegen. Ich schreibe auch: zu Hause, obwohl ich nicht weiß, ob das stimmt.
Diese heiße, trockene Luft ist das Erste, was ich wahrnehme, noch bevor ich die ausgedörrte Landschaft bemerke, und sie ist mir vertraut. Es ist dieselbe Luft wie in den Sommern, in denen ich als Kind in das Dorf meiner Großeltern in Syrien fuhr, die mir entgegenschlug, wenn ich aus dem Flugzeug auf die Gangway trat, und die ich atmete, atmete und atmete und atmete.
Passkontrolle. Ich lege meinen deutschen Pass auf die Theke. Der Beamte lächelt, als er meinen kurdischen Namen liest. Er spricht ihn aus, wie er in meiner Familie ausgesprochen wird. Ronya mit weichem R, langem O. Ich nicke.
Der Flughafen in Erbil ist der zweitsicherste Flughafen der Welt, nach Tel Aviv, hat mein Vater gesagt, stolz, als hätte er selbst ihn gebaut. Das Gelände ist weiträumig abgesperrt und nur durch mehrere Sicherheitskontrollen zu erreichen. Vom Ankunftsterminal nehme ich einen Bus zu der Besucherhalle. Ich durchquere die Besucherhalle.
Onkel Khalef wartet auf dem Parkplatz auf mich. Wir umarmen uns. Onkel Khalef ist nicht der Bruder meines Vaters, trotzdem nenne ich ihn Onkel. Wir fahren aus der Stadt, eine vierspurige Straße. Auf der linken Seite das christliche Viertel Ankawa, auf der rechten das muslimische Erbil. Am Palast von Nêçîrvan Barzanî vorbei. Ein kleines Häuschen, sagt Onkel Khalef und lacht.
Bald nur noch Vororte. Vereinzelte Häuser zerstreuen sich im Umland. Dann Berge. Checkpoint folgt auf Checkpoint. Irgendwann höre ich auf zu zählen. Am Straßenrand die Fotos der Märtyrer, die im Kampf gegen den IS gefallen sind. Ich schreibe: überlebensgroß. Und meine: riesig.
Die grünen und die gelben Wimpel der kurdischen Parteien. Nach jedem Checkpoint beginnt ein eigener Staat, sagt Onkel Khalef und schimpft auf die Korruption. Wir fahren die Straße nach Nordosten, dann über Koya nach Süden. Die kurdischen Flaggen, die in den blauen Himmel wehen, schreibe ich. Obwohl ich weiß, dass die kurdischen Flaggen hier nicht verboten sind, im Gegenteil, vermutlich von der Verwaltung aufgestellt wurden, weil das hier die Autonome Region Kurdistan ist, bin ich erstaunt, sie zu sehen. Ich muss daran denken, wie mein Vater meiner Schwester und mir – wir müssen drei und vier Jahre alt gewesen sein – auf unserer ersten Reise in das Dorf unserer Großeltern einschärfte, niemandem zu sagen, wohin wir unterwegs waren. Nämlich nicht, wie wir selbstverständlich annahmen und wie man es uns gesagt hatte, zu Oma und Opa in Kurdistan. Sondern in die Arabische Republik Syrien.
Kurdistan, da wusste ich längst Bescheid, suchte ich später trotzdem im Schulatlas. Oder die Stelle, wo Kurdistan, wenn es diesen Staat gäbe, eingezeichnet sein müsste. Vom Sykes-Picot-Abkommen hatte mein Vater erzählt, als die Franzosen und Briten 1916, noch vor dem Zerfall des Osmanischen Reichs, den Nahen Osten unter sich aufteilten und die Kurden leer ausgingen. 1920 kam der Vertrag von Sèvres, der den Kurden Autonomie oder gar, laut Artikel 64, einen Staat in Aussicht stellte. Doch mit dem Vertrag von Lausanne 1923 war die Aussicht auf Autonomie und Staat schon wieder verschwunden. Vom Aufwachsen in Syrien erzählte mein Vater und von der Schule, in der die arabische Sprache in die kurdischen Kinder hineingeprügelt wurde. Für jedes kurdische Wort ein Schlag mit dem Stock auf den Handrücken, sagte er und schloss seine Erzählung mit Sätzen wie: Keine Freunde außer die Berge.
Aber hier gibt es, denke ich, als ich aus dem Fenster sehe, das Land, die Berge und, wenn auch keinen Staat, immerhin die Ala Rengîn, die Flagge Kurdistans.
Wir fahren nach Osten. Die Landschaft verändert sich, wird kahl und bergig. Irgendwann halten wir an einem Stausee. Wir steigen aus, trinken Tee und rauchen. Wir stehen am Stausee. Jugendliche rasen in Motorbooten über das Wasser. Onkel Khalef macht ein Foto von mir vor dem Stausee. Ich schicke es meiner Familie und meinen Freunden.
Du siehst glücklich aus, schreibt eine Freundin.
Wieder im Auto denke ich, was ich im Flugzeug schon gedacht habe: Dass ich nicht nur zu Hause bin, sondern auch in dem Land, in dem der Genozid passierte. Ich schreibe: In dem Land, in dem man Êzîden tötete, weil sie Êzîden waren.
Du hast sicher Hunger, sagt Tante Adar.
Es gibt Fladenbrot, Fleisch mit Paprika und Tomaten in Soße und Salat. Dazu Dew mit Minze. Wir essen, Onkel Khalef, Tante Adar, meine Cousinen Lava und Lara und mein siebenjähriger Cousin Lorans. Wir reißen das Brot in Stücke, greifen quer über den Tisch.
Ich schreibe: Ich habe es vermisst, so zu essen. Wieder schreibe ich: zu Hause.
Tee, dann Bonbons, dann Kekse, dann Obst. Gesalzene Sonnenblumenkerne. Kaffee mit Kardamom.
Iss, iss, sagt Tante Adar. Sie ist eine gute Köchin. Einmal habe sie Gäste gehabt, erzählt sie, ein alter Mann. Er sei beim Essen in Tränen ausgebrochen. Und als sie fragte, was los sei, sagte er, es schmecke wie bei seiner Mutter.
Ich fotografiere die Wassermelonen und schicke das Foto meinem Vater. Und ich denke daran, wie er sich all die Jahre über die Melonen in Deutschland beklagt hat, wie fad sie schmeckten im Gegensatz zu den Melonen zu Hause. Ich esse und esse, als könnte ich all die Jahre in Deutschland in nur einem Tag aufholen.
Wir fahren mit dem Auto den Berg hinter der Stadt hinauf. Zwanzig Minuten, dann sind wir oben. Schilder, auf denen steht: Keep Kurdistan Clean.
Die Leute kommen und lassen ihren Müll hier, sagt Onkel Khalef. Die Leute picknicken immer. Selbst während des Krieges, eine halbe Stunde von der Front zum IS entfernt, haben die Familien noch gesessen und gepicknickt.
Wir stehen und machen Fotos. Der Abend dämmert. Das Licht schwindet, und die Stadt zu unseren Füßen ist erhellt von Straßenlaternen, Leuchtreklame und Autos.
Auf dem Rückweg halten wir an einem Kiosk am Straßenrand. Was willst du trinken, fragt Onkel Khalef. Wir haben alles, was du willst. Bier, Wein, Whisky, Wodka und Raki! Das ist nicht Erbil, das ist nicht Duhok oder Bagdad. Das ist Silêmanî. Silêmanî ist frei und sicher, sagt Onkel Khalef. Aus dem ganzen Land kommen Touristen. Aus Bagdad werden sie in Bussen hergebracht.
Später sitzen wir im Wohnzimmer, rauchen, trinken Dosenbier und essen gesalzene Sonnenblumenkerne.
Wir sagen nicht, dass wir Êzîden sind, sagt Tante Adar. Niemand hier weiß, dass wir Êzîden sind.
Und doch denke ich: Es ist wie früher, in den Sommerferien, als wir in das Dorf meiner Großeltern fuhren. Nur dass jetzt ich die Geschenke besorgt habe, und nicht meine Eltern. Die letzten zwei Tage vor meinem Abflug bin ich, wie früher meine Mutter, durch die Kaufhäuser und Geschäfte gelaufen. Ich habe Süßigkeiten und Nescafé gekauft, einen aufblasbaren Fußball für meinen Cousin, ein batteriebetriebenes Spielzeugauto, eine Spielzeugpistole mit Softairkugeln, Nagellack für meine Cousinen, Handcreme, Parfüm und Ohrringe. Spätabends dann alles in Koffer packen. Mein Vater, der versucht, den Koffer zu schließen, meine Mutter, die am Reißverschluss zerrt. Auspacken, umpacken, wiegen, auspacken, wieder wiegen.
All das änderte sich 2011, als die Menschen in Syrien gegen das Assad-Regime auf die Straße gingen. Es änderte sich mit den Schüssen, die wir im Fernsehen sahen, den Demonstrationen, den verwackelten Handykamerabildern von Toten und Verletzten, den Telefonaten mit unserer Familie im Dorf.
Sie sagten: Nein, kommt dieses Jahr besser...
Erscheint lt. Verlag | 12.3.2024 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 74. Ferman • Biografie • Biographie • Buch des Monats • bücher literatur • Bücher Neuerscheinungen 2024 • Der Krieg hat kein weibliches Gesicht • Deutsche Literatur • Deutscher Buchpreis 2024 • Deutsche Romane • Diaspora • Die Sommer • dokumentarisches Erzählen • dokumentatisches Erzählen • Emmanuel Carrère • Eziden • Ferman 74 • Gegenwartsliteratur • Genozid • Genozid an Jesiden • Geschichte • Geselleschaftskritischer Roman • Gesellschafsroman • Identität • innere Zerissenheit • Irak • IS • Jesiden • Jesidische Kultur und Geschichte • jeziden • Kurdistan • Literatur aus der Diaspora • Longlist Deutscher Buchpreis 2024 • Migrationsgeschichte • Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2024 • romane neuerscheinungen 2024 • Shingal • Shortlist Deutscher Buchpreis • Shortlist Deutscher Buchpreis 2024 • Sindschar • Swetlana Alexijewitsch • Syrien • Völkermord • Zeitgenössische Literatur • Zeitzeugnis |
ISBN-10 | 3-644-01689-5 / 3644016895 |
ISBN-13 | 978-3-644-01689-7 / 9783644016897 |
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