Die Heimreise -  Vladimir Vertlib

Die Heimreise (eBook)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
352 Seiten
Residenz Verlag
978-3-7017-4714-6 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
17,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Vladimir Vertlib erweist sich erneut als Meister des Erzählens: Linas Roadtrip durch die Sowjetunion ist ein Füllhorn unglaublicher Geschichten. 'Die Heimreise' ist die berührende Hommage des Autors an seine Mutter, eine kämpferische Frau mit unverwüstlichem Humor, und zugleich eine gnadenlose Satire auf die Absurdität der sowjetischen Diktatur in den 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts: Lina, eine junge Studentin aus Leningrad, die der Mutter des Autors nachempfunden ist, leistet im Sommer ihren verpflichtenden Arbeitsdienst im fernen Kasachstan, als sie eine Nachricht von zu Hause erreicht. 'Vater schwer krank! Komm rasch!' Mit Hartnäckigkeit, Verzweiflung und wechselnden Weggefährtinnen wird Lina ihre Reise durch das sowjetische Riesenreich antreten, das von absurden Regelungen und willkürlicher Polizeigewalt beherrscht wird. Wird sie rechtzeitig nach Hause kommen, um ihren Vater noch lebend zu seh

VLADIMIR VERTLIB, geboren 1966 in Leningrad. 1971 emigrierte die Familie nach Israel, dann nach Italien, Holland und die USA, bevor sie sich 1981 in Österreich niederließ. Er lebt seit 1993 als Schriftsteller in Salzburg und Wien. Sein Werk umfasst Romane, Erzählungen, Essays sowie zahlreiche Artikel. 2001 erhielt er den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis sowie den Anton-Wildgans-Preis. Vertlib schrieb u. a. den Roman 'Lucia Binar und die russische Seele', der 2015 auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis stand, im Residenz Verlag 'Zebra im Krieg' (2022) und 'Heimreise' (2024).

VLADIMIR VERTLIB, geboren 1966 in Leningrad. 1971 emigrierte die Familie nach Israel, dann nach Italien, Holland und die USA, bevor sie sich 1981 in Österreich niederließ. Er lebt seit 1993 als Schriftsteller in Salzburg und Wien. Sein Werk umfasst Romane, Erzählungen, Essays sowie zahlreiche Artikel. 2001 erhielt er den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis sowie den Anton-Wildgans-Preis. Vertlib schrieb u. a. den Roman "Lucia Binar und die russische Seele", der 2015 auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis stand, im Residenz Verlag "Zebra im Krieg" (2022) und "Heimreise" (2024).

1


Es war kleiner als das Deckblatt eines Personalausweises, hellgrau, schwarz liniert und dünn wie Löschpapier. Die Nachricht war als Streifen aus dem Fernschreiber gekommen, in Teile von passender Länge geschnitten und auf dieses Blatt geklebt worden. Nun war die Schrift verwischt, weil das Telegramm dem Fahrer, der es vom fünfzehn Kilometer weit entfernten Postamt in diesen verlorenen Winkel der Steppe befördert hatte, aus der Hand und auf die vom Regen durchnässte Erde gefallen war. Der Mann, ein korpulenter Kasache in mittleren Jahren, brummte verdrießlich eine Entschuldigung, lehnte sich mit dem Rücken gegen das linke Hinterrad seines Traktors und zündete sich eine Zigarette an. Während er rauchte, versanken seine Stiefel ganz langsam im Schlamm.

Die Nachricht war zwar nass und schmutzig, aber immer noch lesbar. Sie lautete: Vater schwer krank. Komm rasch! Rückreise von Hochschule bewilligt. Mutter.

Ich wurde blass und ließ mich auf die Trittstufe des Traktors fallen, weil es sonst nichts gab, wo ich mich hätte hinsetzen können. »Krank?«, flüsterte ich leise und rief dann laut, nach einer Schrecksekunde: »Aber was? Was hat er? Wieso schreibt sie das nicht?«

»Genau. Was soll das heißen, Lina?« Meine Freundin Olga hatte mir über die Schulter geschaut und mitgelesen.

Ich drehte das Blatt um, schaute auf die Rückseite und hielt es gegen das Licht, als würden sich die Wörter dadurch ändern oder etwas anderes preisgeben oder als würde plötzlich etwas Verborgenes zum Vorschein kommen. Doch weder verschwanden dadurch die weiterhin gut lesbaren Wörter noch vermehrten oder verwandelten sie sich. Ich starrte das Telegramm trotzdem noch eine halbe Minute an, prägte mir jeden Quadratzentimeter des Zettels ein: die Überschrift mit den Worten Kommunikationsministerium der UdSSR, das Staatswappen, den Stempel, die Linien, den Namen, das Datum – 21. August 1956 –, den Ort des Absenders – Leningrad – und den Zielort in der Kasachischen SSR, eine Nummer, den Namen der Sowchose, in der ich arbeitete, und eine unleserliche Unterschrift, offenbar die der Postbeamtin, die das Telegramm entgegengenommen hatte. Doch darin war gleichfalls keine geheime Botschaft auszumachen.

»Wenn deine Mutter schreibt, dass Chaim Abramowitsch schwer krank ist, dann …«, Olga stockte.

»Wenn Rosa Borisowna mir so etwas schreibt …«, murmelte ich. »Rosa Borisowna würde nicht wagen, mir das zu schreiben … Niemals würde jemand in meiner Familie so etwas schreiben, wenn nicht …« Das Ende des Satzes brachte ich nicht über die Lippen.

Olga legte mir den Arm um die Schultern, seufzte, holte tief Luft und schwieg. Ich hatte den Eindruck, als überlegte meine beste Freundin krampfhaft, was sie sagen sollte, ohne die richtigen Worte zu finden. Fast hätte sie mir leidgetan. Wenn ich nicht selbst so irritiert und verstört gewesen wäre, hätte ich vielleicht versucht, die Situation mit einem Scherz oder einer belanglosen Bemerkung zu überspielen. Es gab kaum eine Lebenskatastrophe, für die ich damals nicht irgendeine logische Erklärung, eine Lösung oder eine schlüssige Begründung gefunden hätte. Wer verstanden werden wollte, wandte sich an mich, wer getröstet werden wollte, mied mich hingegen. Aus gutem Grund wahrscheinlich.

Reiß dich zusammen!, sagte ich mir. Was soll es denn bringen, wenn du jetzt zu heulen beginnst? Sei erwachsen!

»Nehmen Sie mich mit, wenn Sie zurück in den Ort fahren«, bat ich den Fahrer. Dieser nickte, schnalzte den Zigarettenstummel mit Zeigefinger und Daumen über meine rechte Schulter in die Weiten des Ackers hinter meinem Rücken, zog mit sichtlichem Kraftaufwand die Stiefel aus dem Schlamm und stapfte über einen schmalen Weg aus alten, verfaulten Brettern Richtung Haus – dem einzigen, das hier weit und breit zu sehen war. »Ich fahre erst morgen«, sagte er.

»Morgen erst?«, riefen Olga und ich, die dem Fahrer hinterherliefen, beinahe gleichzeitig aus. »Warum erst morgen?«

»Es ist spät, Mädchen«, sagte er.

»Mein Vater ist krank«, erklärte ich. »Ich muss nach Leningrad zurück. Dringend!«

»Sehr schwer krank«, meinte Olga. »Die Mutter meiner Freundin hat ein Telegramm geschickt. Wenn sie ihre Tochter Tausende Kilometer entfernt mit einem Telegramm belästigt, was so gar nicht ihre Art ist, und das Dekanat der Hochschule die Heimreise bestätigt und bewilligt hat, muss es sich um etwas wirklich Dramatisches handeln.«

»Ich weiß.« Der Mann ging die drei Stufen zum hölzernen Vorbau hinauf, streifte die Stiefel ab, bevor er an die Haustür klopfte, während Olga und ich unten blieben und zu ihm hinaufschauten. »Es ist spät«, wiederholte er. »In der Dunkelheit bleibe ich bei diesem Schlamm sicher irgendwo stecken, und dann gute Nacht. Wenn es wieder zu regnen beginnt, und es soll wieder regnen in der Nacht, kommt hier nicht einmal ein Panzer durch. Außerdem bringt es dir nichts, wenn du heute noch in den Ort kommst. Das Postamt ist geschlossen. Bis zur Bahnstation sind es mehr als hundert Kilometer, und die nächste Mitfahrgelegenheit hast du frühestens übermorgen.«

»Wieso erst übermorgen?«, schrie Olga und wollte schon die Stufen hinauflaufen, ich aber hielt sie am Ärmel zurück. »Lass«, sagte ich leise. »Es hat doch keinen Sinn.«

»Morgen, pünktlich um halb sieben Uhr früh«, bemerkte der Fahrer lapidar, ohne zu lächeln und ohne uns beide anzuschauen.

»Einverstanden«, sagte ich.

Die anderen Studentinnen hatten ihre Briefe und Pakete schon abgeholt. Wasser und Proviant waren ausgeladen. Ich war die Letzte, die zu dem Traktor gegangen war, weil mir das Gedränge, das Schreien und Kichern meiner Kommilitoninnen und die zotigen Bemerkungen des Fahrers zuwider waren. Es spielt keine Rolle, ob ich zehn Minuten später oder früher an der Reihe bin, hatte ich gedacht. Sollen doch die anderen Mädchen zuerst holen, was sie brauchen.

Nach Wochen der Trockenheit hatte es stark geregnet, der Boden war aufgeweicht, und die einzige Straße versank im Schlamm. Der Fahrer hätte schon vor drei Tagen kommen sollen, doch das schlechte Wetter hatte sogar ein Durchkommen mit dem Traktor unmöglich gemacht. Die Lebensmittel wurden knapp und mussten rationiert werden. Die Auf- und Zuteilung hatte Rina übernommen, mit einunddreißig Jahren eine der jüngsten Dozentinnen meiner Hochschule, aber die älteste Bewohnerin des aus einer großen Strohhütte und zwei Zelten bestehenden »Lagers«. Ihr waren von allen anderen – unausgesprochen zwar, aber wie selbstverständlich – solche Aufgaben zugewiesen worden. Rina, deren voller Name Oktjabrina (benannt nach der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution) lautete, eine landesweit anerkannte Expertin auf dem Gebiet der Infinitesimalrechnung, hatte eine schwere Kindheit und eine noch schwerere Jugend gehabt und demzufolge auch einen schweren Charakter, den manche Leute mit einer Mischung aus Schaudern und Respekt als »gewichtig« bezeichneten. Als ich sie kennengelernt habe, wollte ich von ihr wissen, wie sie als Kind in der Schule gerufen und wie sie heute genannt werden wollte: Oktja oder Ktjaba? Weder noch, sondern einfach nur Rina, hatte sie mir geantwortet. So gab es in unserer Gruppe also eine Rina und mich, eine Lina. Äußerlich wie auch in unserer Sprechweise und unserer ganzen Art waren wir ähnlich wie unsere Namen, auch wenn wir gut zehn Jahre auseinanderlagen. Beide waren wir blond, blauäugig, üppig, aber nicht dick, trugen unser Haar lang und offen und hatten buschige, imposante Augenbrauen, weil die Unsitte, diese auszuzupfen, damals noch lange nicht Mode war. Rina war allerdings etwas größer als ich, hatte markantere Gesichtszüge und eine längere, leicht gebogene Nase. Wenn man Leute fragte, wer von uns beiden wohl Jüdin sei, tippten alle auf Rina, die in Wahrheit Petrowa hieß und die Enkelin eines Landpopen aus der Gegend von Jaroslawl war, während meine Vorfahren aus einem Schtetl in der Nähe der weißrussischen Stadt Mosyr stammten. Elina Chaimowna Blank – so lautete mein voller Name, auch wenn ich von jenen, die schon damals förmlich und per Sie mit mir kommunizierten, mit »Elina Konstantinowna« angesprochen wurde. Mit meinen zwanzig Jahren war ich für die meisten Menschen aber einfach nur »Lina« oder »Linotschka«, und für Fremde war ich oft schlichtweg ein »Mädchen« oder ein »Fräulein«.

Olga und ich machten uns also auf die Suche nach Rina und entdeckten sie bald im Wäldchen, wo sie gerade einem dringenden Bedürfnis nachging. »Wäldchen« war allerdings eine eher ironisch gemeinte Umschreibung für die fünf armseligen Bäumchen, mehr Sträucher als Bäume – die einzigen Pflanzen in dieser Steppe, die...

Erscheint lt. Verlag 12.2.2024
Verlagsort Salzburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Kasachstan • Leningrad • Road Novel • Road Trip • Sowjetunion
ISBN-10 3-7017-4714-8 / 3701747148
ISBN-13 978-3-7017-4714-6 / 9783701747146
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,0 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99