Fliegende Hunde auf schwimmenden Inseln -  Jóanes Nielsen

Fliegende Hunde auf schwimmenden Inseln (eBook)

Roman
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2024 | 1. Auflage
464 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-24044-8 (ISBN)
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Die große Familiensaga von den Färöer-Inseln: Für Leser*innen von Mikael Niemis »Populärmusik aus Vittula« und Fans des Films »The Banshees of Inisherin«
Kann man seiner Herkunft entkommen? Dies wünscht sich der Schriftsteller Eigil Tvibur, wohnhaft auf den Färöer-Inseln, sehnlichst. Einst war er ein angesehener Autor, nun muss er sich bei einer Lesung mit einem Regenschirm schlagen lassen. Konflikte lösten seine Vorfahren schon immer mit Gewalt, und nach einer brutalen Racheaktion fragt sich Eigil: Ist er genauso geworden wie sie? Er kehrt den Färöer-Inseln, wo sich sein Leben zwischen einem verhängnisvollen Kuhstall, dem abgebrannten Haus seines Urgroßvaters und seinen rachsüchtigen Verwandten abspielt, den Rücken, und segelt als Schiffskoch Richtung Grönland und Dänemark ...

Eine färöische Chronik, ein persönliches Bekenntnis, ein derbes Panorama von Familienkonflikten und Geschichten: Bei Jóanes Nielsen fliegen die Hunde und die Fetzen.

Jóanes Nielsen wurde 1953 in Tórshavn, der Hauptstadt der Färöer, geboren. Nach der Schule arbeitete er zunächst als Seemann, erst danach entdeckte er das Schreiben. Er ist der Autor von sieben Romanen, einer Kurzgeschichtensammlung, zwölf Gedichtbänden und drei Theaterstücken. Seine Romane wurden ins Dänische, Norwegische, Isländische, Englische, Deutsche und Französische übersetzt. 2002 erhielt Jóanes Nielsen den Nordischen Dramatikerpreis, er wurde außerdem sechsmal für den Literaturpreis des Nordischen Rates nominiert. 2011 wurde er mit dem Literaturpreis der Färöer ausgezeichnet. Jóanes Nielsen ist verheiratet und hat zwei Töchter.

Tóvó und der Turmuhrmacher


Auf dem Weg aus der Metro-Station sah Eigil einen Zwerg, der Zeitungen verkaufte. Wie Rauch strömte der Atem aus seinem Mund, während er schreiend die jüngsten Verbrechen des Kapitalismus verkündete – in Dänemark und in der weiten Welt. Er war unrasiert und mit einer warmen Lederjacke und einer Mütze mit Ohrenklappen für seine Arbeit vernünftig gekleidet. Eigil kaufte eine Zeitung, gab ihm einen Hundertkronenschein und forderte ihn auf, sich vom Rest des Geldes Rasierklingen zu besorgen. »Danke, Genosse!«, rief der Zwerg ihm nach, und Eigil hob die Hand zum Gruß.

Er war auf dem Weg ins Archiv. Über den Kopenhagener Dächern war ein gelblicher Streifen Mittagslicht zu sehen, Schneeregenschauer trieben über die Stadt, hier und da verirrte sich ein Wirbel zwischen die Häuserschluchten und schüttelte die blattlosen Baumkronen. Trotz des tristen Wetters waren viele Menschen unterwegs und drängten sich auf den Bürgersteigen und an den Bushaltestellen; und wenn die Türen der Geschäfte sich öffneten, hörte man kurze Fetzen von populären Weihnachtsliedern.

In den letzten fünf, sechs Wochen, beziehungsweise seit dem Skandal auf der Buchmesse im Forum, hatte Eigil beinahe täglich an das Archiv gedacht. Er hatte die Adresse im Internet gefunden und schätzte, das Archiv zu Fuß in zehn, zwölf Minuten vom Bahnhof Nørreport aus erreichen zu können. Er hielt es für ein gutes Zeichen, dem vorwitzigen Zwerg begegnet zu sein.

Eigil blieb an einer Toreinfahrt stehen und betrat einen kleinen kopfsteingepflasterten Platz mit Fahrradständern und Mülleimern. Im Sommer war der Platz bestimmt ein gemütlicher Aufenthaltsort. An einer der Türen fand er den Namen des Archivs, außerdem führte der Treppenaufgang zu den Büros eines Architekten, eines Verlags und einer Gewerkschaft. Die Wände waren verputzt, aber etwas verblichen, sie erinnerten an eine gerade überstandene Hautkrankheit; auf jeder Etage gab es ein rundes Fenster, das auf den Platz starrte. Blasses Licht warf seine Strahlen in die obersten Stockwerke, das Geräusch seiner Schuhsohlen verfolgte ihn bis in die zweite Etage.

Archiv der Arbeiterklasse stand auf dem Messingschild an der breiten, soliden Tür. Die Buchstaben waren schwarz und das Messing so blank, dass Eigil sich darin spiegeln konnte. Zwischen den Buchstaben sah er sein fragendes, beinahe mürrisches Gesicht. Das glänzende Schild hatte eine Beule, und wenn er den Kopf ein wenig bewegte, wurden seine Wangen und Lippen ein bisschen länger, ja, geradezu verzerrt.

Als er in den Flur trat, blickte er direkt in den Lesesaal. In den Regalen lagen verschiedene Zeitschriften, und an den Wänden hingen Plakate, darunter eines von Stauning mit seinem langen Patriarchenbart und ein lebensgroßes von Lenin mit einer roten Rose am Revers. Die weiße Decke war mit Stuck verziert, die Bodendielen waren breit und versiegelt, die Tischplatten mit bräunlichem Linoleum bezogen. Sofort stieg Eigil der Geruch von Bohnerwachs in die Nase.

Die Archivarin erkundigte sich, womit sie ihm helfen könne, und Eigil antwortete, es handele sich um einige Briefe, die sich in der Obhut des Archivs befänden. Er wusste nicht, wann die Briefe dem Archiv übergeben worden waren, aber der Mann, der sie abgeliefert hätte, hieß Thorolf Gade, und vielleicht könnte der Ausdruck »Brahmadellen« als Suchbegriff helfen.

Der Archivarin schien der Begriff »Brahmadellen« bekannt zu sein. Sie bat Eigil, Platz zu nehmen, verließ den Lesesaal und kam schon bald mit einer gelben A4-Mappe zurück, die sie auf den Tisch legte. Dann forderte sie Eigil auf, seinen Mantel und den Hut an die Garderobe zu hängen, um es sich zur Durchsicht des Materials bequem zu machen.

Eigil bedankte sich. Die letzten vier, fünf Jahre, beziehungsweise seit er 2007 daheim auf den Färöern gewesen war, hatte er stets einen Hut getragen. Er saß etwas zurückgeschoben im Nacken, und die schmale Krempe verlieh ihm das Aussehen eines Skeptikers in den mittleren Jahren, der er letztendlich auch war. Mit Hut schien er noch ein wenig größer zu sein als in der Realität. Gehörte er schon vorher zu den großen Männern, musste man ihn mit Hut für einen Riesen halten. Er hängte sein Halstuch und den Hut an einen Haken, doch als er den Mantel ausziehen wollte, fiel ihm ein, dass er darunter nur sein wollenes Unterhemd trug. Bei schlechtem Wetter war dies seine übliche Kleidung, da er an einem öffentlichen Ort aber nicht nur mit einem Unterhemd bekleidet sitzen wollte, behielt er den Mantel an.

Er öffnete die Mappe, die vergilbten Bögen raschelten, als er darin blätterte. Das Archiv war ein angenehmer Ort, er fühlte sich willkommen. Nicht unbedingt aus politischen Gründen, nein, überhaupt nicht, eigentlich ertrug er den akademischen Überbau der Arbeiterbewegung nicht, zu dem auch das Archiv gehörte. Die gescheuerte und blankgeputzte Sprache der Akademiker hatte die Verbindung zu der Klasse verloren, die sie repräsentierte und ernährte. Die Geschichtsbücher und Biographien, die sie schrieben, waren wie zu lange gewässerter Stockfisch – die Worte waren kraftlos, sie sagten viel über ihre Autoren, aber viel zu wenig über die eigentliche Sache aus.

Der Grund, warum er sich dennoch willkommen fühlte, war der Geruch. Dieser altertümliche und akkurate Geruch nach Firnis und Bohnerwachs erwärmte sein Herz und führte die Erinnerungen zurück in die Jahre, in denen dem Teenager Eigil Tvibur klar wurde, dass die Landesbibliothek von Tórshavn mit ihrem labyrinthischen Regalsystem und ihren stillen Ecken der allerbeste Ort in der Stadt war, um sich zu verstecken. Ob andere ebenso dachten wie er, hatte er sich nie gefragt. Die Bibliothek gab ihm jedoch das besondere und kostbare Gefühl, ein Niemand zu sein. Weder die Angestellten noch die Besucher stellten indiskrete Fragen, und wenn sich dennoch jemand unterhielt, dann geschah es gedämpft. Die Bibliothek war wie ein großes menschliches Aquarium. Genauso empfand er das ehrwürdige Steingebäude, das der Architekt Tórgarð in den Zwanzigerjahren entworfen hatte. Statt zahlreicher Pflanzen, Steine und Muschelschalen war dieses Aquarium voller Bücher, und die Besucher waren Fische, die lautlos in all dieser gedruckten Schönheit umherschwammen.

Am 10. November 2012 hatte Eigil erfahren, dass das Archiv in Kopenhagen einige Briefe besaß, in denen es um Tóvós Gefängnisaufenthalt ging – oder besser gesagt um etwas, das ihm zwischen seiner Entlassung im Mai 1899 und dem Zeitpunkt drei Wochen später zustieß, als er mit dem Passagierschiff Laura zurück auf die Färöer fuhr. Von den Briefen hatte ihm Thorolf Gade erzählt, ein höflicher Herr, der etwas über siebzig Jahre alt sein mochte. Er sprach ein hübsches veraltetes Dänisch, und der archaischen Aussprache nach zu urteilen, handelte es sich bei ihm um einen gelehrten Färinger oder vielleicht einen isländischen Akademiker, der in der alten Hauptstadt des dänischen Reiches Wurzeln geschlagen hatte. Der Mann war mittelgroß, hatte ein schmales Gesicht mit klaren Augen, und wenn er sprach, zuckte es ein wenig in einem seiner Mundwinkel. Im Programm der Buchmesse hatte gestanden, der Schriftsteller Eigil Tvibur würde mit einem Literaten über seinen jüngsten Roman Die Erinnerungen diskutieren, in dem es um die Brahmadellen ging, deshalb war dieser Thorolf Gade gekommen. Eigil hatte das Gefühl, ihm schon einmal begegnet zu sein, aber er konnte sich nicht erinnern, in welchem Zusammenhang das gewesen sein könnte. Es war ihm nicht gelungen, ihn direkt danach zu fragen, denn nach der Diskussion war es zu derart verrückten Ereignissen gekommen, dass er mit dem Mann nicht mehr hatte sprechen können.

Als Eigil das Podium verließ, hatte sich eine Frau unter den Zuhörern erhoben und war, um es ganz direkt zu sagen, Amok gelaufen. Sie hatte Eigil beschimpft und erklärt, er würde seinen eigenen kranken Geist in seine widerlichen Bücher einfließen lassen. Gemeinsam mit einigen selbstgerechten Verfluchern hätte er das Leben ihrer Schwester zerstört, und es sei er und niemand sonst gewesen, der Jens Julian við Berbisá zum Krüppel geschlagen und dessen armen Sohn kriminalisiert hätte, als man ihn in eine Anstalt für gefährliche Schwachsinnige einwies. Die Frau hatte einen Regenschirm in der Hand gehabt und Eigil mehrmals damit geschlagen.

Und merkwürdigerweise hatte er es sich gefallen lassen, sowohl die verbalen wie die körperlichen Attacken. Es wäre ihm leichtgefallen, der Frau den Schirm zu entreißen oder sich einfach umzudrehen und zu gehen. Aber selbst, als sie ihm ins Gesicht spuckte, blieb er stehen.

Ganz offensichtlich überraschte und verwirrte das Geschehen die Zuschauer. Gleichzeitig aber war es unmöglich, Eigils Körpersprache misszuverstehen: Hier stand ein Mann, der sich nicht nur mit einer Reihe ernster Anschuldigungen abfand, sondern der Frau auch noch recht zu geben schien, ja, es sah beinahe so aus, als danke er ihr, dass sie ihn öffentlich beleidigte und abstrafte. Es gab auch niemanden, der sie zu trennen versuchte.

Die Leute betrachteten die aufgebrachte Frau und den großen schweigenden Mann einfach. Dass dies in aller Öffentlichkeit passierte, hatte für Eigil keine große Bedeutung. Nicht mehr. Er sah aus, als dächte er: Wenn du ein Schweinehund bist, kann dir die Trennung zwischen Privatleben und Öffentlichkeit egal sein. Die Frau sprach Dänisch, ihr Zorn war echt. Sie wagte es, aufzustehen und Eigil der Strafe zu unterziehen, zu der ein färingisches Gericht ihn nicht verurteilt hatte, als er im Januar 1995 freigesprochen worden war.

Eigil spürte durchaus die Hand, die vorsichtig seinen Arm berührte, und...

Erscheint lt. Verlag 15.5.2024
Übersetzer Ulrich Sonnenberg
Sprache deutsch
Original-Titel BOMMHJARTA
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2024 • Chronik • Dänemark • eBooks • Familie • Familiengeschichte • Familiensaga • Färöer • Färöer-Inseln • Generationenroman • Gerechtigkeit • Gewalt • Herkunft • Neuerscheinung • Politik • Rache • Roman • Romane • Saga • Strafe
ISBN-10 3-641-24044-1 / 3641240441
ISBN-13 978-3-641-24044-8 / 9783641240448
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