Wo geht das Licht hin, wenn der Tag vergangen ist (eBook)

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2024 | 1. Auflage
448 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491928-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wo geht das Licht hin, wenn der Tag vergangen ist -  Nadine Olonetzky
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Die Familie ihrer Mutter hinterlässt Erinnerungen, Erbstücke und Geschichten. Von der jüdischen Familie des Vaters bleibt lediglich ein kleines Foto. Nur ein einziges Mal erzählt ihr der Vater von dem, was während der Shoah mit ihm und seiner Familie geschehen ist. Da ist sie fünfzehn, und ihr Vater mittlerweile Grafiker und Amateurfotograf, der alles festhalten muss, bevor es verschwindet. Jahrzehnte später stößt sie auf Berge von Akten und erfährt, was ihre Eltern so lange vor ihr geheim gehalten hatten. »Wo geht das Licht hin, wenn der Tag vergangen ist« erzählt unsentimental und poetisch davon, wie man Verlust nicht wiedergutmachen, aber behutsam sichtbar machen kann. »Dass diese Familiengeschichte aus mehr Fragen als Antworten besteht, macht sie so universell und lässt uns darin auch unsere eigenen Familien erkennen.« Peter Stamm

Nadine Olonetzky, geboren 1962 in Zürich, ist Autorin, Redakteurin und Herausgeberin. Sie schreibt für diverse Verlage und Publikationen zu Themen aus Fotografie, Kunst und Kulturgeschichte, hat Sachbücher und literarische Bücher geschrieben sowie zahlreiche Fotobücher herausgegeben und Auszeichnungen erhalten. Nadine Olonetzky lebt in Zürich. Sie ist Mitglied von Kontrast und Projektleiterin/Lektorin im Schweizer Verlag Scheidegger & Spiess. 2020 fand sie heraus, dass der jüdische Teil ihrer Familie mit der Bundesrepublik Deutschland jahrzehntelang um Entschädigung rang. 

Nadine Olonetzky, geboren 1962 in Zürich, ist Autorin, Redakteurin und Herausgeberin. Sie schreibt für diverse Verlage und Publikationen zu Themen aus Fotografie, Kunst und Kulturgeschichte, hat Sachbücher und literarische Bücher geschrieben sowie zahlreiche Fotobücher herausgegeben und Auszeichnungen erhalten. Nadine Olonetzky lebt in Zürich. Sie ist Mitglied von Kontrast und Projektleiterin/Lektorin im Schweizer Verlag Scheidegger & Spiess. 2020 fand sie heraus, dass der jüdische Teil ihrer Familie mit der Bundesrepublik Deutschland jahrzehntelang um Entschädigung rang. 

Es ist eine vielstimmige Zeitgeschichte und eine ergreifende Reflexion über Verschweigen und Erinnern.

[...] eine interessante, wichtige Lektüre [...].

Eine vielstimmige Zeitgeschichte und eine ergreifende Reflexion über Verschweigen und Erinnern

Aus ihren Recherchen ist ein eindrucksvolles, sehr persönliches Buch entstanden

Nadine Olonetzky erzählt die Geschichte ihrer Familie auf sehr persönliche, gar intime Weise.

Teil 1 In alle Winde zerstreut


Schnee


Wann hörte ich zum ersten Mal, dass mein Großvater Moritz umgekommen war?

 

Mein Vater hatte ein Buch mit leeren Seiten vorbereitet. An dem Tag, an dem ich zur Welt kam, begann er zu schreiben. Es ist ziemlich kalt, schrieb er. Ein frischer Wind bläst. Am Samstag hat es Neuschnee gegeben und heute, am Sonntag, scheint die Sonne. Vereinzelt fliegen Schneesterne vom Himmel, hell glitzernd in der Sonne und auf die Erde tanzend. Alle Dächer sind voller Schnee, der Himmel ist blau, in der Ferne stehen klar und rein die Berge. Das ist doch ein richtiges Wetter, um auf die Welt zu kommen.

Das Buch war schön gebunden wie die Fotoalben, die er da auch schon zusammenstellte. Als ich endlich geboren war und blutig, mit vielen schwarzen Haaren auf dem Kopf dalag, fotografierte er mich. Und er begann Tagebuch zu schreiben. Über mich, für mich. Bis du selbst weiterschreiben kannst.

 

Wie der Schnee bestehe ich aus Wasser. Und aus Mineralien, aus Milliarden von Bakterien, Molekülen. Ich bin kein flüchtiger Kristall, der schmilzt, sobald es wärmer wird, sondern eine wimmelnde Wolke, die kompakt daherkommt. Die auf der Straße herumspaziert oder auf den Bus wartet. Die frisch geduscht und schick gekleidet ausgeht oder im Trainingsanzug auf dem Sofa liegt. Die ihr Glück findet in der Arbeit, auf dem Waldspaziergang und in einer fremden Stadt. Die ihre Katze geliebt hat bis an ihr Ende und sie seither schmerzlich vermisst. Die manchmal krank ist, fast auseinanderfällt und dann wieder kräftig wird. Die mit Kochlöffeln in Töpfen rührt, an großen Tischrunden isst und glücklich ist, von Freunden umgeben zu sein. Die weiß, dass die Welt ein Ort sein kann von größter Dunkelheit und Angst.

Jetzt ist wieder Winter, im Garten liegt Schnee. Immer häufiger bleibt er aus, oder es fallen zwar Schneeflocken von einem hellgrauen Himmel, doch sie zergehen sofort auf der nassen Straße. Zu warm ist es und nicht nur um Weihnachten, wenn Föhneinbrüche Tradition haben. Dass es wärmer geworden ist, beobachte ich auch in meinem Garten. Im Sommer bekommt der Knöterich vorzeitig braune Blätter, und die Erde ist gegen Abend voller Risse, auch wenn ich am frühen Morgen gewässert habe.

Früher lag eindeutig mehr Schnee. Ich sehe das in den Fotoalben.

Die ersten Alben, die mein Vater machte, sind quadratische Ringbücher, zehn mal zehn Zentimeter klein. Seine schwarzweißen Fotos entwickelte er selbst und reihte sie sorgfältig zu einer Abfolge, in die er schwarze, weiße oder farbige Glanzpapiere und Transparentfolien einschob. Die Ringbindung ist aus buntem Plastik, brüchig heute und etwas ausgebleicht.

Meine Mutter ist die Hauptfigur, natürlich. Auch Freunde sind dabei; wer es ist, weiß ich nicht, denn niemand und nichts ist mit einer Bildlegende versehen. Mein Vater fotografierte auch seine Geschwister, meine Tante Paula und meinen Onkel Efrem. Beide strahlen in den Fotos übers ganze Gesicht.

Beim Weiterblättern färbt die Folie schon das nächste Bild ein. Ein Hafen hinter Grün, meine Mutter mit Hut hinter Blau oder ein Stillleben mit Kieseln hinter Orange. Immer wieder fügte er auch Menükarten, Stadtpläne und Weinetiketten ein, die er zum Quadrat zurechtgeschnitten hatte. Und auf die Farbpapiere hatte er mit Schreibmaschine ein Ferientagebuch getippt, einige Sätze bloß.

 

Wie leidenschaftlich er die erste Zeit mit meiner Mutter, ihre gemeinsamen Ausflüge und Reisen festhielt! Wie sehr er sich auch als Graphiker verstand, der gestalterische Ideen hatte und umsetzte, sorgfältig und voller Liebe. Auf ausgebleichtes Rot schrieb er: Der erste April 1952! Dicke Schneeflocken. Ein Feuerwerk, alles kreist, und wir versinken in einem Meer von Glück!

Auf Blau dann: Unsere erste Fahrt ins Blaue … Du hattest keine Ahnung, wohin es ging, ich hoffte nur, es ginge ins Glück. Es ging! Am Zürcher Künstlermaskenball hatte er meine Mutter tanzen sehen, sich aber nicht getraut, sie anzusprechen. Da tanzt meine Frau, soll er gedacht haben. Das erzählten mir dann beide. Als sie zusammenfanden, 1952, war er außer sich. Oder vielleicht ganz bei sich, ein neuer Mensch.

 

Wie sie sich fühlte, kann ich nicht genau erkennen. Erzählt hat sie es mir nie. In den ersten Fotos ist sie noch so jung und weich, offen. Vielleicht überwältigt? Fasziniert und gleichzeitig unsicher, vorsichtig? In allen Bildern leuchtet es aus ihnen beiden heraus. Sie heirateten im April 1954.

 

Ein Jahr später schrieb er auf Orange: Ein Jahr verheiratet!!!! Es war nicht immer leicht mit mir, verzeih mir alle meine Fehler, denn ich liebe dich über alles. Hab tausend Dank für deine Liebe und Treue. Das muss gefeiert werden. Und wieder ein Jahr später auf Senfgelb: Spanien 1956! Nach einem arbeitsreichen, harten Sommer machen wir endlich Ferien. Es schneit bereits in den Bergen, ist kalt und nass. Aber wir fahren ja in den Süden. Wir sind glücklich und sehr fro. Das h von froh ist abgeschnitten.

In dem Foto, das er fürs Album auswählte, trägt meine Mutter einen trägerlosen Badeanzug und er ein weißes Hemd und Anzughosen. Das Bild ist mit Selbstauslöser gemacht, und sie picknicken auf einer ausgebreiteten Decke irgendwo auf dem Land. Auf der nächsten Seite liegen sie am Strand und lesen in Büchern. Sie tragen Sonnenhüte und Sonnenbrillen. Dann gehen sie durch eine Stadt, welche, ist nicht ersichtlich, und durch eine orange Folie hindurch taucht wieder ein Hafen mit Fischerbooten auf; große Säcke werden gerade verladen.

Das waren bis jetzt unsere schönsten Ferien, tippte er auf ein beiges Papier, schnitt es zurecht und fügte es ein. Glücklich, ausgeruht und braun kehren wir in die Schweiz zurück. In Genf schneit es bereits, es ist bitterkalt, wir müssen im Auto heizen. Aber all dies macht uns nichts aus.

 

Statt alles abzuzeichnen, was ihn Stunden oder Tage gekostet hätte, fotografierte er. Zeichnen war die Domäne meiner Mutter. Sie hatte die Metallklasse der Kunstgewerbeschule Zürich besucht, wie die Ausbildung zur Goldschmiedin damals genannt wurde. In einem kleinen Foto aus dieser Zeit sehe ich sie in einem weißen Arbeitsmantel an einer Schmiedebank sitzen. Sie feilt an einem winzigen Gegenstand herum. Wurde daraus eine ihrer wunderschönen Emaillearbeiten? Sie zeichnete aber lieber; es verlangte ihr weniger Geduld ab. Bald hatte sie Erfolg mit Textilentwürfen und Illustrationen.

Ihm passte das Technische der Fotografie, ihr Tempo. Er drückte den Auslöser, und sofort war alles festgehalten. Die steinharte Felswand und der hauchzarte Schatten, den meine Mutter an einem heißen Sommertag einen Moment lang auf den Felsen warf – im Bild haben sie das gleiche Gewicht. Sie verwandelten sich beide in Formen, in schwarze und verschieden graue Flächen, die bleiben. In der Fotografie ist alles blitzschnell miteinander verbunden und aufbewahrt. Zu einem Ding gemacht, das bleibt.

 

In einem nächsten Bild steht meine Mutter vor einem Zerrspiegel und lacht. Ihr Gesicht ist dünn und hoch, ihre Augen sind Ovale mit einem langgezogenen dunklen Kern. Ich blättere um, und die Seiten, die aneinanderkleben, so lange hat niemand mehr das Album angeschaut, geben mit einem reißenden Geräusch nach.

Nun ist sie extrem breit. Sie steht mit kurzen dicken Beinen da, und alles, was sie trägt, die weißen Handschuhe, der Matrosenpullover mit Bateau-Ausschnitt, die kleine Uhr am Handgelenk, ist in die Horizontale gezerrt. Sie lächelt, sehr breit. Ich blättere weiter. Da kommt sie mir auf einem Platz entgegen. Wie jung sie ist! Blühend, mit einer wunderbaren Weichheit um die Lippen, immer lächelnd; sie hat dunkles Haar und einen feuchten Schimmer in den Augen. Im Hintergrund ragt der Eiffelturm aus dem Großstadtdunst.

Weshalb hatte sie sich in meinen Vater verliebt? Waren es sein Charme und seine Unverfrorenheit, die sie anzogen? Bestimmt brachte er sie zum Lachen. War es die Fremdheit, die er ausstrahlte? Das Dunkle, das in ihm saß? War es also das, was er erlebt hatte? Sie war verlobt, als sie ihn kennenlernte; der andere Mann hatte keine Chance.

In diesem Album ist sie mit meinem Vater in einem sonnigen Paris mit regennass glänzendem Straßenpflaster unterwegs. In einem Paris mit neuen Autos, dem Glanz der Cocktailgläser, die in den Straßencafés auf runden Tischchen stehen, und mit funkelnden Lüstern in den Galeries Lafayette. In einem Paris mit festlichen Laternen in der Nacht. In einem Paris ohne Trümmer, Einschusslöcher. Sie macht auf Audrey Hepburn, die Frisur, die Hose, das Lächeln. Alles glänzt und schimmert. Und er nimmt sie auf. Nur in den Fotos mit Selbstauslöser kommt er vor; er trägt wieder einen Anzug mit Krawatte und strahlt.

 

Sie besaßen ein Auto, einen Simca Vedette, in Weiß. Und fuhren mit ihm auch nach Milano, Modena, Piacenza. Die Landschaft spiegelte sich in seinem Lack. Nach Genua und Portofino. Die Chromstahleinfassung der Fenster glänzte mondän. Sie fuhren ans Meer und in die Berge. Wirklich oft in die Berge. Auf Gelb schrieb er: Diesmal gingen wir nach Arosa, aber wir haben es nicht gut getroffen. Schneesturm von zwei Wochen. Nur einige Tage Sonne. Nachkur an Ostern, wieder nach Zuoz, aber diesmal ins Hotel Concordia. Großartiges Essen, nur schade,...

Erscheint lt. Verlag 24.4.2024
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2. Weltkrieg • Anspruchsvolle Literatur • Deportation • Ein Buch von S. Fischer • Entschädigung • Erbstücke • Familiengeschichte • Flucht • Geschichten jüdischer Familie im Holocaust • Geschichte Shoah Überlebender • jüdische Familie • Literatur über jüdische Familiengeschichte und Verlust • Schaden an Freiheit • Schweiz • Shoah • Wiedergutmachung
ISBN-10 3-10-491928-3 / 3104919283
ISBN-13 978-3-10-491928-7 / 9783104919287
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