Am Tag, bevor der Frühling kam -  Ella Cornelsen

Am Tag, bevor der Frühling kam (eBook)

Roman
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2024 | 1. Auflage
224 Seiten
Limes (Verlag)
978-3-641-30557-4 (ISBN)
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Dieser eine Tag, an dem sich alles verändert. Eine alte Liebe, die nach Jahrzehnten wiederauftaucht. Und eine Frau vor einer großen Entscheidung ...
Ellinor hat sich stets danach gesehnt anzukommen. Beruf, Heirat, Kind, das alles hat sie erreicht. Doch noch während sie versucht hat, sich für dieses Leben passend zu machen, ist ihre Ehe in die Brüche gegangen. Und so ist die Küche ihrer Nachbarin Els zum Zufluchtsort für Ellinor und ihren Sohn geworden - bis ein Tag an der Schnittstelle zwischen Winter und Frühling plötzlich alles aus den Fugen bringt. Der Tod bricht in Ellinors Leben ein. Als dann noch ein Mann von früher wieder auftaucht, steht Ellinor vor der großen Entscheidung: Kann man sich in ihrem Alter noch einmal an die große Liebe heranwagen?

Ella Cornelsen, geboren 1958, ist mit mehreren Geschwistern aufgewachsen und hat in Tübingen studiert. Sie hat einen erwachsenen Sohn und lebt heute mit ihrer Familie in Stuttgart, wo sie auch in Sachen Kultur als Botschafterin unterwegs ist. Sie schreibt von Kind auf aus Leidenschaft, malt, singt und macht Musik. Ella Cornelsen ist gern in der Natur unterwegs, liebt alte Bäume, weite Landschaften, tropische Regenwälder und bunte Vögel.

1


Der Tag begann mit einer Beerdigung. Draußen war es kühl, der Himmel seit Wochen der Gleiche, ein gebrauchtes beige-graues Bettlaken, das man abzuziehen vergessen hatte. Ich konnte diesen tief hängenden Bettlakenhimmel mit seiner nichtssagenden Farbe inzwischen kaum mehr ertragen, war er doch das Markenzeichen jenes viel zu warmen und schneelosen Winters gewesen, der dafür aber jede Menge Regen und – für mich – sehr viele Beerdigungen im Gepäck gehabt hatte.

An diesem Morgen lehnte ich am Küchentisch, nippte an dem Cappuccino, der soeben aus der Espressomaschine in meine rote Lieblingstasse geflossen war, und blickte durchs Küchenfenster auf die Straße hinunter. Der Wind fegte altes Eichenlaub, vertrocknet wie zusammengeknülltes Packpapier, an der Sandsteinmauer um Els’ Grundstück entlang und ließ die Blätter in Spiralen tanzen. Nichts unterschied diesen Morgen von einem anderen, drei Monate zuvor, der mir plötzlich in den Sinn kam.

Eines Vormittags kurz vor Weihnachten, als ich von einer Trauerfeier nach Hause zurückkehrte, winkte mich Els an das Mäuerchen ihres Gartens, in dem sie gerade Tannenreisig auf den Beeten verteilte, und erzählte mir ihren Traum. Wir erzählten einander oft unsere Träume. Wobei Els stets mehr zu berichten hatte als ich, denn ich träume seit Jahren das Gleiche: von einer Reise nach Süden (Afrika) oder über die Meere in ein Land, das Amerika heißt, in dem ich aber nie ankomme. Ich sehe es von weit oben aus einem Flugzeug in seinem ganzen irren Ausmaß und mit den typischen Umrissen wie auf der Landkarte in meinem alten braunen Diercke-Weltatlas aus Schulzeiten und frage mich, was ich dort will. Ein Gefühl der Heimatlosigkeit verbindet sich mit meinem Traum und lässt mich stets mit einem Frösteln erwachen, noch bevor ich gelandet bin.

»Heute Nacht habe ich auch von einer Reise geträumt«, sagte Els an jenem Vormittag vor Weihnachten in ihrem Garten. Sie strich ihre verschossene eierschalenfarbene Lammfelljacke glatt, in der sie im vergangenen Jahr so dünn geworden war, und klemmte sich eine ihrer zinnfarbenen Strähnen hinters Ohr. »Von einer Seereise.« Dabei sah sie mich unter ihren langen gebogenen Wimpern an, die nicht wie ihr Haar ergraut, sondern schwarz geblieben waren, Wimpern einer Diva. Els war schön gewesen früher und war es immer noch, schön und ehrwürdig wie eine Schamanin mit ihren hohen Wangenknochen und der kompakten, wettergegerbten Stirn. In eine altertümliche Kogge mit vom Wind zu weißen Wolken geblähten Segeln sei sie gestiegen, erzählte sie.

»Du und Dean, ihr habt mich am Kai verabschiedet. Es war eine Reise über die Weltmeere.«

»Wohin bist du gesegelt?«, fragte ich neugierig, »Osterinsel, Australien, Hawaii?«

»Weiter«, erklärte Els, »viel weiter. Zu einem Ufer, so weit weg, als läge es am Rand des Universums. Ich wusste, wir würden uns lange nicht wiedersehen, sehr lange.«

»Warst du allein?« Ich wagte nicht, nach ihren Kindern zu fragen.

»Ich erinnere mich nicht genau«, Els stützte sich mit den Ellbogen auf das Mäuerchen. »Könnte sein, da war noch jemand. Eine Frau in einem langen Kleid mit langen dunklen Haaren und einer Krone. Ich sah sie nur von hinten.« Sie säuberte ihre Hände, an denen ein bisschen getrocknete Erde klebte, blickte auf und lächelte, wobei sich die Fältchen, die die Zeit und das Lachen um ihre Augen gegraben hatten, vertieften. »Aber Dean und du, ihr wart nicht allein«, sagte sie und wurde richtig lebhaft, »ihr wart zu viert, ein Mann und ein Mädchen waren bei euch.«

»Oh!« Ich kicherte. »Ein schöner Mann?«

Els wiegte den Kopf. »Ein … älterer Mann.«

»Älter als ich?« (Ich bin achtundfünfzig.)

»Ich glaube schon. Man weiß das ja nie so genau.« Els hielt inne. »Jung geblieben sah er aus, das schon. Aber eben nicht mehr jung, das ist nicht dasselbe.« Wieder unterbrach sie sich. »Größer als du.«

»Und das Mädchen?«

Els lächelte. »Klein. Kleiner als du.« Sie überlegte. »Hellblond. Blonder als du.«

»Ach, meine liebe Els!« Ich stellte den Korb mit meinem Talar und der Beerdigungsagende ab und schlang über das Gartenmäuerchen hinweg die Arme um sie. »Wie schön, dass du mir einen Mann träumst und Dean eine Freundin. Aber dass du ohne uns verreisen und uns so lange nicht wiedersehen willst, das gefällt mir gar nicht.«

»Von Wollen konnte keine Rede sein in dem Traum«, nuschelte Els. Sie drehte sich ein wenig zur Seite und umarmte ihren Garten mit einem Blick, als nähme sie Ab schied. »Schade«, murmelte sie und dann etwas, was ich nicht verstand. Ihr Blick kehrte sich nach innen, ehe sie wiederholte: »Einfach schade.«

Els wohnte schon lange mit mir Tür an Tür. Oder besser, ich mit ihr, denn sie war bereits da, als ich ins Pfarrhaus zog, und bekam all meine Lebensphasen dort mit, zuerst mit Mann, dann mit Mann und Kind und schließlich nur noch mit Kind. Sie selbst lebte allein, in einem efeubewachsenen Häuschen gleich nebenan, all die Jahre nur mit einem Bild ihres verstorbenen Mannes auf dem Kaminsims und seit ein paar Monaten mit einem zugelaufenen Goldhamster. Manchmal wundere ich mich, wie man so wenig voneinander wissen und doch so vertraut miteinander sein kann, wie Els und ich es waren. Els’ Leben war eine Art Blackbox für mich. Der Mann auf dem Kaminsims war ihr zweiter; sie hatte einen Sohn und eine Tochter aus erster Ehe, nur so viel hatte mir Els verraten. Wenn ich vorsichtig nachhakte, wurde sie einsilbig, weshalb ich bald aufhörte zu fragen. Auch meinem Sohn Dean, für den Els immer mehr Ersatzoma geworden war, seit mein Mann Andreas ausgezogen war, blieb sie Antworten schuldig. Ihre Kinder schienen ein heikles Thema zu sein; ich hatte sie nie kennengelernt und wüsste nicht, dass sie sie je besucht hätten, selbst Fotos von ihnen gab es keine in ihren vier Wänden.

Am Morgen jenes kühlen Märztags, von dem ich eigentlich erzählen will, trank ich meinen Cappuccino in kleinen Schlucken und genoss die heiße Süße auf meiner Zunge, während ich mit zwei Fingern am Radioknopf drehte und einen Sender suchte, der weniger rauschte.

Auf allen Kanälen ging es um »das Virus«. Seit Tagen schon ging es in den Medien um nichts anderes mehr als »das Virus«. Anfangs war der neue Krankheitserreger, made in China, wie so viele vor ihm, weitgehend unbeachtet unter den Tisch gefallen. Bis vor ein paar Wochen war noch recht sorglos berichtet worden von Wuhan, Markt, Fledermäusen oder einer Laborpanne. Und selbst als das nachweihnachtliche Präsent aus Fernost in Italien anlandete, hielten wir das für ein Problem unserer südlichen Nachbarn, von denen uns zwei Grenzen trennten. Ich erinnerte mich an einen Witz, der im Internet und auf WhatsApp kursierte: »Der Chinese neben mir in der S-Bahn hustete und hustete. Zaghaft fragte ich: ›Wuhan?‹ Der Chinese antwortete: ›Zum Hauptbahnhof.‹« Wir schütteten uns aus vor Lachen, das uns erst bei der Heimkehr der deutschen Wintersportler aus dem Skiparadies Ischgl verging: Jeder Zweite hatte das Virus mit dem königlichen Namen, das sich schneller vermehrte als ein Stall Karnickel, im Gepäck oder bereits im Körper und verteilte es freigiebig an die Umgebung. Ab sofort war Corona im Land, auch von ersten Todesfällen hatten wir schon gehört.

»Am Mittag informiert die Landesregierung über weitere Maßnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus.« Die Stimme der Radiomoderatorin war verschnupft, aber das war sie gerade bei vielen, auch ohne Erkältung. Die einen lamentierten von wegen Panikmache, die anderen, dass die Einschränkungen nicht weit genug gingen. Der Riss ratschte mitten durch die Familien, auch durch meine.

Dean hatte erst gestern gesagt: »Maßlos übertrieben, was die da alles beschließen! Keine Veranstaltungen mit über tausend Personen mehr. Jetzt haben sie sogar das Frühlingsfest abgesagt.« Er bedauerte, dass er derzeit nach der Schule nicht zu Els zum Mittagessen gehen konnte. »Aber vielleicht werden die Schulen ab kommender Woche sowieso geschlossen«, meinte er mit einem Grinsen. In letzter Zeit kam es selten vor, dass er mich angrinste. Es lief nicht gut zwischen uns; es lief auch nicht gut in der Schule, die Dean hasste. Vor Kurzem hatte er mir eröffnet, dass er vorhabe, im Sommer vom Gymnasium abzugehen, jawohl, nach der elften, er pfeife auf sein Abitur. Zwischen Tür und Angel hatte er es mir gesagt, eines Nachmittags, als ich gerade gekommen und er gerade gegangen war. Wohin Dean unterwegs gewesen war, hatte ich nicht gewusst. Ich wusste wenig von ihm in letzter Zeit, und jener Schlagabtausch vor ein paar Tagen hatte mich ahnen lassen, wie abgrundtief wenig es war. Zuvor hatte er meine Versuche, an ein Gespräch anzuknüpfen, meist mit schnoddrigen Bemerkungen abgespeist, und ich hatte ratlos nach dem Schlüssel für sein abweisendes Verhalten gesucht, ohne fündig zu werden. Früher war er ein fröhlicher kleiner Junge gewesen, und zwischen ihn und mich hatte kein Blatt Papier gepasst. Vor dem jungen Mann, der mich behandelte, als hätte er mir etwas zu verzeihen, fremdelte ich, und er fremdelte vor mir.

Ich seufzte, nahm noch einen Schluck Kaffee und ging in Gedanken meinen Tag durch. Gleich war es Zeit, zu meiner Beerdigung am Pragfriedhof um zehn Uhr zu starten. Danach ein Treffen, bei dem ich nicht wusste, ob ich es Date nennen durfte, mit Joachim, dem Leader meiner Band, in der Stadt. Um vierzehn Uhr das nächste Beerdigungsgespräch. Der Nachmittag? Der Abend? Ich hatte eine Karte für eine Theaterpremiere im Alten Schauspielhaus, zweifelte aber daran, ob sie unter den...

Erscheint lt. Verlag 19.6.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2024 • Alleinsein • Buchempfehlung • bücher für frauen • die liebe an miesen tagen • eBooks • Ewald Arenz • Falsches Leben • Familiengeheimnis • Familiengeschichte • Familienleben • Familienroman • Familiensaga • Frauen ab 50 • Frauenroman • Frauenunterhaltung • füreinander bestimmt • Große Liebe • Kinder • Lebenserfahrung • Lebensthemen • Liebe im Alter • Liebesgeschichte • Neuerscheinung • Roman • Romane • Scheidung • Stuttgart • Teenager • Trauer • Trennung • Umgang mit Tod
ISBN-10 3-641-30557-8 / 3641305578
ISBN-13 978-3-641-30557-4 / 9783641305574
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