Wilde Erbsen (eBook)
272 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12318-0 (ISBN)
Mariken Heitman (1983) studierte Biologie in Utrecht und arbeitete mehrere Jahre im Bereich der ökologischen Landwirtschaft. Im Januar 2019 erschien ihr viel gelobtes Debüt »The Aquatic Ape«. Es wurde für den Jan-Wolkers-Preis und die Bronzene Eule nominiert und stand auf der Shortlist für den Anton-Wachter-Preis. Ihr Roman »Worm Moon« wurde 2022 mit dem Libris Literature Prize ausgezeichnet.
Mariken Heitman (1983) studierte Biologie in Utrecht und arbeitete mehrere Jahre im Bereich der ökologischen Landwirtschaft. Im Januar 2019 erschien ihr viel gelobtes Debüt »The Aquatic Ape«. Es wurde für den Jan-Wolkers-Preis und die Bronzene Eule nominiert und stand auf der Shortlist für den Anton-Wachter-Preis. Ihr Roman »Worm Moon« wurde 2022 mit dem Libris Literature Prize ausgezeichnet. Christiane Burkhardt, geb. 1966, lebt und arbeitet in München. Sie studierte Italienische Literaturwissenschaft, Neuere Deutsche Literatur und Kunstgeschichte und arbeitete als Lektorin, bevor sie sich vor über 20 Jahren mit textkontor selbstständig machte. Sie übersetzt aus dem Niederländischen, Italienischen und Englischen, u. a. Bregje Hofstede, Charlotte Van den Broeck, Wytske Versteeg, Paolo Cognetti, Fabio Geda, Domenico Starnone und Ayesha Harruna Attah.
1
Das Lenken eines Traktors ist ein Akt der Souveränität. Er nimmt den Feldweg und fährt auf den Acker, bereit, das Land umzugraben. Der Boden wird es zulassen, heute ist er kühl, aber gefügig. Seine kahl werdende Haut schimmert durch den Bewuchs. Winterroggen, noch in einer Art Grasstadium, deckt kaum. Die angekuppelte Maschine senkt sich. Brummend setzen sich die Spatenblätter in Bewegung, fressen Erde, pflügen in einem einzigen Arbeitsgang Roggen, Unkraut und Mist unter.
Noch vor einem Monat war der Boden von einer harten Kruste bedeckt. Nichts ist fester als gefrorene Erde, wie Bauern und Totengräber wissen. Der Frost war nur wenige Zentimeter vorgedrungen, doch das genügte, um den Traktor zu tragen. Die Erde ließ sich von den rollenden Reifen nicht verschlammen. Der Miststreuer spuckte Klumpen aus, dazwischen drehte sich quietschend die Zapfwelle, und die Schutzabdeckung klapperte wie ein tollwütiges Ungeheuer. Jedes Mal musste ich an die Bauern denken, die mit dem Ärmel darin hängen blieben. Immer die Zapfwelle ausschalten, wenn man schrauben muss, pflegte ich die Jungs anzuknurren, die mit dem Traktor arbeiteten. Noch lieber fuhr ich selbst, aber das gehörte schon lange nicht mehr zu meinem Aufgabengebiet. Deshalb schmückte ich meine Geschichten mit Schreien, Blut und Amputationen aus. Sie schauten mich begriffsstutzig an, mit ihren frisch rasierten Wangen und abgemähten Locken, der Pubertät gerade erst entwachsen. Denn das gehörte nun mal dazu, Gefahr ließ einen zum Mann reifen. Ohne Krieg, ohne ein zu eroberndes Mädchen war das unverzichtbar. Wenn sie immer noch viel zu schlaksig Kroketten und Weißbrot in der Kantine bestellten, sog ich im Vorbeigehen ihren Körpergeruch ein, der sich bereits mit dem von Erde, Mist und Diesel vermengt hatte. Erdklumpen lösten sich von ihren Arbeitsschuhen und blieben auf dem Linoleum liegen, ohne dass jemand etwas sagte.
Es ist, als würde ein erdfarbener Textmarker durch das Grün fahren. Unbebautes Land hat etwas Aufregendes. Ich nehme eine Handvoll Erde und zerdrücke sie. Noch etwas feucht. Der junge Mann im Fahrerhaus sieht sich um. Angestrengt späht er von der Spatenmaschine zu mir herüber. Wir nicken uns zu.
Dann ertönt ein lauter Knall. Die Spatenblätter kommen zum Stillstand, die Maschine bäumt sich ruckelnd auf, und der junge Mann springt aus dem Fahrerhaus. Auch ich betrete den Acker. Wir bücken uns und sehen einen Stein, so groß wie ein dicker Kürbis. Der dunkelgraue Granit ist von einer klebrigen Haut aus Erde bedeckt, dort, wo die Schaufel ihn getroffen hat, ist sie aufgeschürft. Quer über seinen zerschrammten Bauch verläuft ein silberner Streifen. Ansonsten ist er unversehrt. Um die Schaufel der Spatenmaschine ist es schlechter bestellt, wie eine verbogene Büroklammer hängt sie im Maul der Maschine. Seltsam, dieser eine Stein hier. In Skandinavien ist man das gewohnt, da steigen die Steine wie Heliumballons aus dem Boden. Jedes Frühjahr gehen die Äcker mit Steinen schwanger, und die Bauern müssen ihre Felder erst mal davon befreien, bevor sie loslegen können. Doch nicht die Steine, sondern die Erde ist ständig in Bewegung. Meist unmerklich, trotzdem glauben wir fest daran.
Der junge Mann ist bereits wieder ins Fahrerhaus zurückgekehrt. Er sucht nach Werkzeug. Ich nehme den Stein und gehe zum Büro, ein leuchtender Kasten in einer Schlammpfütze. »Zapfwelle ausschalten!«, brülle ich noch.
Im Büro begegne ich Bert. Ob ich mal kurz mitkommen könne, fragt er gehetzt. Ich folge ihm in sein Zimmer.
»Wir sind zu spät, Elke.« Seine Hand liegt auf einem Blatt Papier. »Was ist das?« Er zeigt mit dem Kinn auf meinen Schoß.
»Zu spät?«
»ABC Seeds sind uns zuvorgekommen. Ihr Kürbis weist zu viele Ähnlichkeiten mit unserem auf.« Er schiebt mir das DIN-A4-Blatt hin. Der Text ist kurz, spricht aber eine eindeutige Sprache. Die getesteten Eigenschaften der beiden Sorten sind bis auf eine einzige miteinander vergleichbar. Auch ihr Kürbis reift früh, hat denselben Kiloertrag und dieselbe Farbe, sogar der kompakte Wuchs, der das Unkrauthacken erleichtert, ist mehr oder weniger derselbe. Nur der prozentuale Anteil an Trockenmasse unterscheidet sich. Ihrer ist höher. Unser Wettbewerber hat genau denselben Kürbis entwickelt, bis auf eine einzige, überlegene Eigenschaft. Ihr Kürbis ist nicht so wässrig. Doch noch viel wichtiger ist, dass ihr Zulassungsantrag früher eingereicht wurde. ABC Seeds darf ihre Sorte Plenty auf den Markt bringen, für sie zahlen sich sieben Jahre Arbeit aus. Wir haben Pech. Unsere Sorte existiert nicht, wir haben bloß eine Kopie angefertigt.
»Plenty?«
Bert sieht müde aus.
Ich suche im Gewächshaus Zuflucht, atme das angenehme Pilzaroma frischer Blumenerde ein. Draußen will es einfach nicht hell werden, hier drin scheint eine Kunstsonne. Das windstille Klima, die Pflanzrohre und Barcode-Schilder erwecken den beruhigenden Eindruck, alles im Griff zu haben. Ich sitze in einer Ecke, den Stein neben mir wie ein Wachhund. Bert hat mich gefragt, was ich denke. Sieben Jahre Arbeit für die Tonne, das denke ich. Sieben Jahre Vorbereitungszeit und dass ich das eigentlich liebe. Den schweren Traktor im Herbst, schief, mit nur einem Stützrad in seiner eigenen Furche. Die klappernden Pflugscharen, die am Anfang jeder Reihe im lehmigen Boden versinken, als wäre er aus Pudding: Wie sie ihn aufreißen, die Erdschollen wenden, ein Schwarm Möwen im Schlepptau, die systematisch die Würmer aufpicken. Die Furchen, die das Land wie dickes Gewirk bedecken. Der Lehmboden muss kaputtfrieren, zerkrümeln wie eine Pavlova. Aber Kälte, das war einmal. Immer öfter wird der Lehmboden dank Dieselkraft zermalmt, wie ein Stabmixer zerhäckselt die Kreiselegge alles Leben. Hier, beim leichteren Sandboden der Gärtnerei, genügt Umgraben. Anschließend treiben unzählige Samen und Wurzelreste von Quecke, Melde, Ackerdistel und Knopfkraut aus. Die zögerlichen Wurzeln unserer geliebten Kürbisse hingegen bekommen kein Bein auf den Boden: die Stängel zu schwach, die Blätter zu zart. Weil sie so empfindlich sind, brauchen sie ein topfebenes Beet. Deshalb muss die Egge, eine riesige Harke mit Stahlzinken wie gezackte Drachenschwänze, die Erdbrocken zerkleinern, gefolgt von einer schweren Walze, die alles zerkrümelt. Dann wird es April, und ich sehe mich in die Hocke gehen, die flache Erde streicheln, die sich zitternd der Frühlingssonne darbietet. Einen Monat später sind die quadratischen Felder voller Kürbispflanzen, sortiert nach Sorte und Generation. Die weiblichen Blüten einzeln und ordentlich in Gaze verpackt, um eine zufällige Befruchtung zu verhindern, die männlichen schlichtweg amputiert. Manchmal wachsen die Pflanzen auch unter einem Insektenschutznetz, um dicke Hummeln abzuwehren, damit nur wir mit unseren kleinen, in klebrigen Blütenstaub unserer Wahl getauchten Pinseln Zugang haben. Es folgen die Kontrolle der Pflanzen und ihrer Früchte, die Listen mit Daten: wie viele Triebe pro Pflanze, erste Blüte, Anzahl der Blüten, wie krankheitsresistent, der Moment der Fruchtbildung und natürlich das Gewicht der Früchte. In ihnen befinden sich die Embryos unserer sorgfältigen Befruchtungen, die Nachkommen, die erst im nächsten Jahr ausgesät und getestet werden können. Deshalb hat es sieben Jahre gedauert, um eine neue Sorte zu entwickeln. Wir fanden sie spektakulär früh erntereif, viel früher als die bisherigen Sorten. Ich hebe den Stein hoch und spüre die raue, glitzernde Wunde, denke an eine Mitschülerin, die Klammertiere aus Plüsch sammelte, sie besaß eine ganze Kollektion davon. Mit steifen Ärmchen klammerten sie sich an das Seil, das von ihrem Hochbett hing: Kopf an Po. Sie fühlten sich hart an unter der dünnen Stoffschicht. Wir hatten das ein oder andere Tier von seinem Fell befreit. Was blieb, war ein viel zu großer Kopf auf einem gruseligen rosafarbenen Skelett. Ansonsten war wenig mit diesen Klammertieren anzufangen. Man konnte sie in die Schulter kneifen, dann öffneten sie die Arme und ließen das Seil los. Mit diesen Armen konnten sie sich auch gegenseitig, unsere Finger oder andere hervorstehende Körperteile umklammern. Deshalb wandten wir unsere Aufmerksamkeit einem Telefon auf dem kleinen Schreibtisch unter ihrem Hochbett zu. Ein echtes Telefon mit Wählscheibe. Meine Mitschülerin wählte eine Nummer und sagte, ein Junge sei dran. Ich konnte mein Erstaunen kaum verbergen. Sie nickte lebhaft, wölbte geübt die Hand um die Sprechmuschel und flüsterte, er wolle wissen, was wir anhätten. Die Hand entfernte sich, und sie erwiderte: »Ballkleider, ganz schöne. Ich eines in Rosa und Elke eines in Blau.« Wir kicherten. Sie hielt mir den Hörer hin. Ich schüttelte den Kopf. »Los, mach schon«, zischte sie aufgeregt. »Er will dich sprechen. Wirklich, ich schwör’s bei meinem Kaninchen.« Um niemanden vor den Kopf zu stoßen, nahm ich den Hörer entgegen und lauschte. Der Junge hatte aufgelegt.
Auch ich besaß ein paar Klammertiere, sammelte allerdings lieber Steine. Graue Steine mit einem weißen Marmorstreifen. Aber das behielt ich für mich. Ich bewahrte sie in einem Schuhkarton auf. Wir gingen von der Schule nach Hause, und sie fragte, ob ich mit zum Spielen komme. Wir näherten uns gerade einer Kiesauffahrt. Die besten Steine findet man oft im Kies, manchmal im Wald. Ich meinte, das gehe nicht, ich hätte noch zu tun. Sie runzelte die Stirn. Ich müsse heute Nachmittag noch üben, für den Klarinettenunterricht, fügte ich zögernd hinzu. Langweilig, meinte sie und war froh, keinen Musikunterricht zu haben. Also dann tschüs! Sie hüpfte um die Ecke. Ich ging vor dem Kies in die Hocke und ließ meinen Blick über die verschiedenen Steine huschen. Keiner war wie der andere. Nach etwa zehn...
Erscheint lt. Verlag | 16.3.2024 |
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Übersetzer | Christiane Burkhardt |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Biologie • Buch • Buchmesse 2024 • Buchmessen Gastland • Gender • Gender Queer • Geschlechterdifferenz • Geschlechterollen • Kim de l’Horizon • Landwirtschaft • Leipziger Buchmesse 2024 • LGBTQ • Libris Literaturpreis • Menschheit • Nature writing • Natürlichkeit • neue Bücher 2024 • neue literarische Stimmen • Neue Literatur 2024 • Niederlande • non binär • Nonbinär • Nonbinarität • Pflanzen • Preisgekrönt • Zeitgenössische Literatur |
ISBN-10 | 3-608-12318-0 / 3608123180 |
ISBN-13 | 978-3-608-12318-0 / 9783608123180 |
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