Der Koffer (eBook)

Sechs Versuche, eine Grenze zu überqueren
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
256 Seiten
Paul Zsolnay Verlag
978-3-552-07409-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Koffer -  Frances Stonor Saunders
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Über das Leben eines jüdischen Mannes, der nach seiner Vertreibung aus Rumänien in Großbritannien landet. 'Sehr persönlich und bewegend - eine beeindruckende Familiengeschichte' Philippe Sands
Briefe, Dokumente, Fotos, ein ganzer Koffer voll. Sie sind es, die Frances Stonor Saunders von ihrem Vater Donald bleiben; aber sind sie es auch, die Aufschluss geben über seine lebenslange Verschlossenheit?
In seiner Kindheit bereits gerät der Sohn eines polnisch-jüdischen Erdölingenieurs in die Mühlen der Geschichte. Während des Zweiten Weltkriegs wird die Familie aus Rumänien vertrieben, Donald landet nach Stationen in der Türkei und in Ägypten in einem britischen Internat. Und dann? Es ist eine fesselnde, zutiefst berührende Erkundung, die Saunders unternimmt - und die letztlich in der Frage mündet, ob es besser ist, die Büchse der Pandora zu öffnen - oder zu vergessen.

Frances Stonor Saunders wurde 1966 in London geboren und studierte Anglistik in Oxford. Sie arbeitet als Autorin und Dokumentarfilmerin und schreibt u.a. für den Guardian und die London Review of Books. Mitglied der Royal Society of Literature. Auf Deutsch ist erschienen: Wer die Zeche zahlt...Der CIA und die Kultur im Kalten Krieg (2001).

ZWEI


Ich spreche von meiner frühesten Kindheit, von dem weiten Land, aus dem jeder hervorgegangen ist. Woher komme ich? Ich komme aus meiner Kindheit wie aus einer Heimat …

Antoine de Saint-Exupéry, »Flug nach Arras«

Bohrtürme nahe Câmpina.

Immer noch weiche ich geflissentlich dem Koffer meines Vaters aus, der seit zehn Jahren, seit ich ihn erhalten habe, ungeöffnet auf dem Dachboden meines Onkels Peter steht. Wer weiß, wie lange er davor auf anderen Dachböden war — mein Vater ist vor mehr als zwanzig Jahren gestorben, und in den Jahrzehnten zuvor war er viele Male umgezogen. Der Koffer hat nichts von dem Diaspora-Chic von Nabokovs Reisetasche, »eines ziemlich hohen, ziemlich schweren nécessaire voyage aus Schweinsleder«, die einmal seiner Mutter gehört hatte; sie hatte ihn für ihre Flitterwochen in Florenz gekauft. Sie nahm ihn mit, als sie 1917 aus Russland flüchtete, und kam in London mit intaktem Inhalt (darunter eine Handvoll Juwelen) an. Dreißig Jahre nach ihrem Tod reiste Nabokov immer noch damit, »von Prag nach Paris, von St. Nazaire nach New York und durch die Spiegel von mehr als zweihundert Motelzimmern und gemieteten Häusern in sechsundvierzig Staaten«. Für Nabokov war es passend — »sowohl logisch als auch emblematisch« —, dass der »robusteste Überlebende« seines russischen Erbes Reisegepäck war. Ich kann keine ähnliche muskuläre Reaktion auf den Koffer meines Vaters heraufbeschwören. Ich kann ihn nicht hochheben, er ist zu schwer, in jeder Hinsicht, und ich kann in seiner Existenz keine Beruhigung finden. Er macht mich bloß traurig.

Es gibt zwei mir bewusste Gründe, warum ich ihn noch nicht geöffnet habe. Der erste: Da mein Vater so gut wie nichts über seine nähere oder fernere Verwandtschaft zu wissen schien, nehme ich an, dass er nie jene Informationen besaß, die ihm jenes Wissen verschaffen hätten können. Der zweite Grund ergibt sich aus dem ersten: Wenn das Zeug in Papas Koffer nichts mit ihr zu tun hat, dann möglicherweise mit uns — mit ihm, mit uns, seinen Kindern —, und das lässt, zumindest mich, eine Abrechnung befürchten.

Das Problem mit dem ersten Grund ist, dass er zu viel voraussetzt. Vielleicht kam Papa in den Besitz von Familiendokumenten, ihm fehlte aber der notwendige Kontext oder die Gelegenheit, daraus eine Erklärung zu basteln, wo er herkam. Als ich vor kurzem Peter fragte, ob er je mit seinen Eltern über die Vergangenheit gesprochen habe, antwortete er: »Nein, nie.« »Warum nicht?« »Nun, eine der traurigen Auswirkungen des Geschehenen ist, dass wir dann so selten als Familie zusammen waren. Wir versuchten alle, unser Leben weiterzuführen, und aus Gründen der Notwendigkeit waren wir getrennt. Jetzt habe ich natürlich so viele Fragen. Ich wünschte, ich hätte sie gestellt.« Falls es Schriftstücke gibt, die einige dieser ungestellten Fragen beantworten, dann brachte es Papa vielleicht einfach nicht fertig, irgendetwas damit anzufangen, und er ließ sie im Koffer, damit andere sie fanden.

Das Problem mit dem zweiten Grund — wobei es um uns geht — besteht darin, dass ich, falls ich recht habe, möglicherweise alle meine Gefühle über und für meinen Vater neu justieren müsste. Ich könnte fortsetzen müssen, was an jenem Tag, als ich seine Liebesbriefe an meine Mutter fand (für mein junges Empfinden ein absolut unplausibles Präludium für ihre Feindseligkeit und Entfremdung), aufgeschoben wurde, und den sicheren Ort verlassen, den ich in meiner Version der Geschichte geschaffen habe. Audens »lohnende Muster der Enttäuschung« fallen mir ein: Unbehagen als seine eigene Belohnung. Es ist wie der abgenutzte alte Armsessel in der Wohnung meines Bruders Hugo, derselbe Sessel, in dem meine Großeltern, dann mein Vater und dann wir, seine Kinder, saßen; er ist mehr als hundert Jahre alt, seine Federn sind eingebrochen, sodass unsere Hinterteile den Boden berühren, aber wir wollen ihn nicht loswerden, denn er ist vertraut.

Was, wenn ich entdecke, dass mein Vater mich mehr liebte, als ich verstand oder verstehen wollte? Dass meine Schwierigkeiten, ihn zu verstehen und deshalb zu lieben (wie kann man jemanden lieben, den man nicht kennt?), nicht seine Schuld waren? Falls ja, dann müsste ich Verantwortung für etwas übernehmen — ich weiß nicht genau, wofür, aber ich habe Angst davor. Im Moment denke ich, ich werde den Koffer dort lassen, wo er ist, und mich darauf konzentrieren, was ich anderswo gefunden habe.

Es liegt mehr Familiengeschichte herum, als ich erwartet hatte. Ich habe am Nullpunkt von Belegen begonnen, oder so dachte ich zumindest, aber jetzt habe ich etliche Schachteln mit Material, zu viel, um sie unter das Sofa zu schieben und so zu tun, als seien sie nicht da. Peter hat in seinem Arbeitszimmer etliche Ordner und noch ein paar Fotoalben aufgestöbert, während von meiner Mutter ein ständiges Informationsgetröpfel kommt, mysteriöserweise aus dem heraus, was sie ihre Ablage nennt, wovon das meiste in wackeligen Stößen auf dem Boden oder unter dem Küchentisch liegt und, manchmal seit Jahrzehnten, darauf wartet (so ist das System), in Ablageschachteln übertragen zu werden, so schwer, dass die Regale, auf denen sie stehen, durchhängen und unter dem Gewicht der Themen, von EXHUMIERUNG über NAZIS bis VATIKAN, einzubrechen drohen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Unter etlichen Schriftstücken, die Peter mir vor einiger Zeit gab, befindet sich ein Familienstammbaum, Ende der 1970er auf blauem Basildon-Bond-Notizpapier grob skizziert von Joss, einem seiner Söhne. Auf der Rückseite lässt Joss‹ Gekritzel erkennen, dass er versuchte, noch lebende Verwandte aufzuspüren und sie zur Antwort auf die Frage zu bewegen: »Wer bin ich?« Großmama Helen (Elena), die bereits in die Nebelbank der Alzheimer-Krankheit eingetaucht war, konnte diese Aufgabe nicht bewältigen. Neben ihrem Namen hatte Joss notiert: »Großmama mag nicht schreiben.«

Wer bin ich?

Warum fragst du?

Insgeheim war ich immer wütend auf meinen Vater, weil er mir seine Geschichte nicht erzählt hatte (ich bin es noch immer, nur dass es jetzt kein Geheimnis mehr ist). Ich wusste, dass es da eine Geschichte gab, weil manchmal ein Detail durchsickerte, aber bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen er etwas Bedeutsames andeutete, schreckte er umgehend vor meinen Fragen zurück, als wäre ich ein Zollbeamter, der verlangte, er möge seine Taschen leeren. Wenn das Erzählen ein Akt des Aushändigens der eigenen Besitztümer ist, dann, ja, dann verlangte ich etwas. Aber er erzählte nichts, oder konnte es nicht, und so lernte ich, nicht mehr zu fragen. Vielleicht missverstand er das als Desinteresse, und um ihn zu strafen wurde es das auch. Schreibe ich deshalb darüber — um zu sagen, dass es mir leidtut? Oder vielleicht — und das ist nicht ganz dasselbe — ist dies mein Versuch, eine Entschuldigung auszusprechen, eine Darstellung, die die Dinge ins rechte Licht rückt, obwohl ich weiß, dass es eine unmögliche Aufgabe ist, weil so vieles vom Aufgezeichneten verloren ist.

Vor kurzem habe ich irgendwo gelesen, dass man in der Genealogie pro Generation etwa 25 Jahre veranschlagt. Geht man zum Anfang des 19. Jahrhunderts zurück, sind das neun Generationen. Folgt man männlichen wie weiblichen Abstammungslinien zurück, hat man ein paar hundert Individuen; verfolgt man aber nicht nur die direkten Linien, sondern auch alle Geschwister und deren Nachkommen, könnte man leicht bei zehntausend Einträgen auf dem Familienstammbaum landen. All diese »Irgendwer zeugt irgendwen«, bis wir zu dir und mir kommen. Sybille Bedford fand das Ganze belastend: »Muss man denn Eltern haben?«, weniger eine Frage als eine Beschwerde. Wohl oder übel — und vom Übel gibt es genug — müssen wir von irgendwo herkommen.

So wie ich sie kannte, vermittelte Oma Helen immer den Eindruck, sie stamme aus der österreichisch-ungarischen Monarchie. Wien war ihr idealisierter Mittelpunkt der Zivilisation, ein Ort, den sie in ihrer Erinnerung oft aufsuchte, sodass ich immer angenommen hatte, sie sei dort aufgewachsen. Aber auf dem Stammbaum von Joss ist ihr Geburtsort als Bukarest verzeichnet, 18. November 1901. Ihre Mutter Maria Gottinger war Deutsch-Österreicherin, geboren in Cernăuţi, als Geburtsort etwas kompliziert, da er abwechselnd zum Königreich ...

Erscheint lt. Verlag 19.2.2024
Übersetzer Brigitte Hilzensauer
Sprache deutsch
Original-Titel The Suitcase. Six Attempts to Cross a Border
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Edmund de Waal • Erinnerung • Exil • Familiengeschichte • Flucht • Großbritannien • Juden • Nationalsozialismus • Philippe Sands • Polen • Rumänien • Vater • Vertreibung • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-552-07409-0 / 3552074090
ISBN-13 978-3-552-07409-5 / 9783552074095
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